von Anabel Roque Rodríguez, 02.09.2024
Kleider schreiben Geschichten
Die Künstlerin Andrea Vogel bespielt in diesem Jahr das Sommeratelier in Weinfelden. Sie sucht dabei nach der textilen DNA der Stadt. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
«Kleider machen Leute», heisst es landläufig und sagt aus, dass man über den Bekleidungsstil Rückschlüsse auf unsere Identität schliessen kann. Es geht aber auch andersrum, denn unsere Kleider verbinden wir mit Erinnerungen, das Verlobungskleid, das Erbstück eines Verwanden oder das Lieblingshemd einer geliebten Person, die schon lang nicht mehr da ist.
Es ist eine Art Experiment, als Andrea Vogel im April den Aufruf startete, man möge ihr Kleidungsstücke vorbeibringen. Manche Dinge wurden ihr vor die Türe gestellt, aber viele Weinfeldner:innen kamen persönlich vorbei und brachten neben den Kleidern auch die dazugehörigen Geschichten mit. Geschichten über das Zu- und Abnehmen, das Versterben von Angehörigen oder dem ungetragenen Stück, für das die passende Gelegenheit fehlte. Aufnahmen dieser Gespräche kann man in der Ausstellung unter dem Dach der Remise hören.
Überhaupt hat das Projekt der Künstlerin etwas sehr Narratives, denn sie schafft es den Ort Weinfelden auf eine eigene poetische Art zu beschreiben. Wie ist also die textile DNA der Stadt? «Schlicht, kein Strass und viel Baumwolle», antwortet die Künstlerin. Es wäre interessant zu sehen, was sie an einem anderen Ort, sagen wir New York, für Textilien und Geschichten erhalten würde.
Bildhauerischer Umgang mit Textil
Andrea Vogels Leben ist eng mit Textil verbunden, sie machte zuerst eine Lehre in einer Weberei zur Textilentwerferin und schloss nach der Ausbildung die Textilklasse der Schule für Gestaltung und Kunst in Luzern ab. Nach dem Abschluss ging sie in die Modewelt und war 12 Jahre für die Jakob Schläpfer AG als Textildesignerin tätig.
In ihrem künstlerischen Schaffen bleibt sie dem Material immer wieder treu, es geht aber auch um Innovation, Wagnisse und Experimente. Neben den Textilien tauchen so Skulpturen., Fotos, Videos oder Live-Performances als Ausdrucksformen auf. In der Remise kann man dazu im Untergeschoss eine Art fotografisches making-of der finalen textilen DNA sehen.
Aus Kleidern werden Schnüre
Mit wenigen Ausnahmen wurden alle gesammelten Kleidungsstücke in möglichst lange Streifen zerschnitten, Schnürre gefertigt und an einen improvisierten Kettbaum aufgeknüpft, um daraus ein Gewebe entstehen zu lassen. Die Bilder aus diesem Prozess, scheinen allerdings weniger dokumentarisch, sondern lesen sich eher wie eine eigene Bildsprache zur Arbeit – zerschnitten, neu angeordnet, in Schnüre gedreht, hängend, verwoben und geknotet, wird das Alltagstextil zu etwas Skulpturalem. Auf den Fotos tauchen auch immer wieder die Hände der Künstlerin auf, als ob es zu betonen gilt, dass diese Kunst handgemacht ist und so die Transformation stattfindet.
Den Höhepunkt der Transformation ins Bildhauerische bekommt das Textil in der finalen Arbeit, nach wochenlangem Prozess ist eine meterlange Gewebebahn aus den Kleidungsstücken entstanden, die sich bei der Vernissage zuerst aufgerollt als schweres Objekt präsentiert und anschliessend in einer Performance abgerollt und durch die Stockwerke der Remise in Bahnen gezogen wurde. Die textile DNA Weinfeldens gibt ihr Inneres preis.
Reduktion aufs Wesentliche
Es gibt auch Momente in der Ausstellung, die einen gewissen feinsinnigen Humor erspüren lassen. So stehen im Ausstellungsraum ein paar hoher Schuhe, denen die Künstlerin die Riemen abgeschnitten und den Titel «Haltlos» gegeben hat. Absätze als Perspektivwechsel und der subtile Verweis auf den manchmal unmöglichen Balanceakt – die grosse surreale Künstlerin Meret Oppenheim hätte beim Anblick sicher amüsiert lächeln müssen.
Es sind oft diese kleinen Interventionen an den Objekten, die ein Alltagsobjekt zu Kunst werden lassen. Marcel Duchamp führte damals die Readymades ein – Alltagsobjekte, die allein durch die Auswahl und Präsentation durch die Künstler:in ihre ursprüngliche Gebrauchsart verlieren und stattdessen neue Denkweisen aufzeigen können – Kunst stellt den Kontext und verändert so die Lesart der Objekte.
Auch in der Arbeit «Abwesenheit» ist diese Entkontextualisierung zu sehen. Betritt man das Zwischengeschoss findet man in dem rechten grossen Raum, an einem Kleiderbügel aufgehängt, eine leere Plastikhülle, die zart vom Wind aus dem offenen Fenster bewegt wird. Im Kontext dieser Ausstellung wird dieser Hülle fast schon Leben eingehaucht, das Material schillert im Licht, wird plastisch und erhält eine Art Eigenleben. Natürlich schwingen auch Assoziationen zum Konsum in der Modewelt und der Wegwerfgesellschaft mit. Was bleibt am Ende übrig?
Gastkünstlerin Olivia Notaro
Zu ihrem Aufenthalt im Sommeratelier hat Andrea Vogel die Künstlerin Olivia Notaro eingeladen. Die beiden sind miteinander befreundet und arbeiten immer wieder zusammen. So bespielten sie 2018 im bernischen Oberdiessbach die ehemalige Bäckerei der Familie Vogel in einem dreitägigen künstlerischen Happening. Die Künstlerinnen teilen eine Vorliebe für gefundene Gegenstände, die sie auf ihre eigene Weise transformieren.
Bei der Zusammenarbeit in Weinfelden hat Olivia Notaro auf den Arbeitsprozess von Andrea Vogel mit der Serie «Horizont» reagiert. Zu sehen sind verschiedene malerische Porträts, manche gerahmt, andere nur als Leinwand, allesamt von der Künstlerin in Brockis, bei der Abfuhr oder an anderen Orten des Sammelns gefunden. Sie alle haben gemeinsam, dass die Künstlerin bis über die Augen einen tiefen weissen Horizont gemalt hat, der die Gesichter unkenntlich macht.
Arbeiten, die sich spiegeln
Mit dieser künstlerischen Intervention wird die Aufmerksamkeit unweigerlich auf die Kleidung der porträtierten Person gelegt, um so Rückschlüsse über diese zu erhalten. Es ist eine interessante Spiegelung zu den Arbeiten von Andrea Vogel, während bei der einen der Mensch anwesend aber unkenntlich gemacht wurde, ist bei der anderen der Mensch nicht mehr anwesend und auch die Kleidung wird bis zur Unkenntlichkeit zerschnitten.
Beide Künstlerinnen haben eine inhaltliche Nähe in den Arbeiten. Schaffen es Kontexte zu verschieben und Kunst als Transformation zu zeigen; sie verweben Gedanken zu Identität mit Mode und nutzen beide auf ihre Weise Leerstellen und Schnitte, um neue Kontexte aufzumachen. Es ist ein Blick auf die Welt, der gesellschaftliche Aussagen erlaubt und zeigt, dass wir alle Deutungen nutzen, um Menschen einzuschätzen.
Noch bis 8. September zu sehen
Die Ausstellung ist noch bis 8. September in der Remise Weinfelden zu sehen. Die Öffnungszeiten: Mi & Fr 18-20; Sa 15-17. Die Finissage findet am Sonntag, 8. September, ab 11 Uhr, statt.
Mehr zum Sommeratelier Weinfelden gibt es hier.
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