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Die Entdeckung des Raums

Die Entdeckung des Raums
Alle Augen auf den Würfel: Museumsleiter Christian Hunziker und der Museumspädagoge Julian Fitze spielen eine Runde „Volldampf & Würfelglück“ im Seemuseum. | © Seemuseum, Nina Kohler

Mit seiner neuen Ausstellung „Volldampf & Würfelglück“ zeigt das Kreuzlinger Seemuseum einmal mehr wie kreativ und experimentierfreudig es in der Vermittlung von Wissen ist. Spass ist dabei ein zentrales Element. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)

Museen waren sehr lange Orte, in denen wahlweise Bilder an der Wand hingen oder Gegenstände in Vitrinen gezeigt wurden. Beides mal mehr, mal weniger inspiriert. Als Besucher:in durfte man staunend bis gelangweilt an den ausgestellten Dingen entlang flanieren und das war es dann aber meist auch. Interaktion? Fand maximal in den Köpfen der Besucher:innen statt. Der Raum blieb ein Guckkasten, ein Ausstellungssaal, in dem Kurator:innen, in engen Grenzen (der Rahmen! die Vitrinen!) zeigten, was sie für kunstvoll oder wissenswert hielten.

Seit einigen Jahren ändert sich das. Geschichte und Kunst werden immer häufiger nicht nur in eng markierten Grenzen gezeigt. Sie ufern aus und erobern die Räume, in denen sie ausgestellt werden. Kultur und Wissen werden im Raum inszeniert und wenn es gut gemacht ist, werden sie plötzlich ganz anders erlebbar. 

Wie Wissen erlebbar gemacht wird

Das Stapferhaus in Lenzburg macht das seit Jahren sehr erfolgreich, das noch relativ junge Deutschlandmuseum in Berlin ist gar den umgekehrten Weg gegangen und hat seine Räume multimedial nach verschiedenen historischen Epochen gestaltet. Nun kann man dort, einem Spaziergang durch die Geschichte gleich, verschiedene inszenierte Erlebnisräume durchwandern und hinterher mit Fug und Recht behaupten, eine Zeitreise gemacht zu haben, in der man die Vibes und Gefühlslagen der einzelnen Zeiten tatsächlich spüren kann. Um das so zeigen zu können, braucht es Geld. Viel Geld.

Das Seemuseum in Kreuzlingen zeigt seit Jahren, das seine Stärke vielleicht nicht in der Finanzkraft liegt, aber doch darin, mit den verfügbaren Mitteln die bestmögliche Version seiner selbst zu zeigen. Die seit Jahrzehnten weitgehend unveränderte Dauerausstellung beleben sie regelmässig mit neuen Vermittlungsformaten.

Seien es neu gestaltete Audiotouren durch das altehrwürdige Gebäude in Seeufernähe oder digitale Wissensvermittlungen zum Untergang des Dampfschiffes Jura aus dem Jahr 1864: Aus allem sprach in den vergangenen Jahren stets eine grosse Experimentierfreude und Neugier daran, die Geschichte der Bodensee-Schifffahrt (darum geht es schliesslich in diesem Museum) für Besucher:innen, aber auch für sich selbst neu zu entdecken.

 

Das ganze Museum wird zum Spielbrett. Bild: Seemuseum, Nina Kohler

Das ganze Haus ein riesiges, begehbares Spielbrett

Mit der neuen Ausstellung „Volldampf & Würfelglück“ schliesst das Haus von Christian Hunziker nahtlos daran an. Wobei „neue Ausstellung“ es nicht so richtig trifft. Es ist eher eine spielerische Neuentdeckung von 200 Jahren Kursschifffahrt auf dem Bodensee. In einem vom Museum gemeinsam mit der Autorin und Kulturvermittlerin Judith Zwick entwickelten Leiterli-Spiel können Besucher:innen von 5 bis 99 Jahren sich durch das Museum und die bestehende Dauerausstellung würfeln. Statt auf einem Brett kann man hier über zwei Etagen des alten Kornhauses vom Heizer:in bis zum Bodensee-Kapitänspatent aufsteigen. 

„Die Kursschiffahrt auf dem Bodensee feiert in diesem Jahr ihren 200. Geburtstag. Im Dezember 1824 verbindet der Dampfer „Wilhelm“ erstmals Friedrichshafen und Rorschach mit einem regelmässigen Kurs. Zu diesem Anlass wollten wir ohnehin eine Ausstellung machen, jetzt haben wir uns für dieses neuen Format entschieden“, erklärt Museumsleiter Christian Hunziker bei einem Rundgang in seinem Haus, wie die Idee zum überdimensionalen Würfelspiel entstand. Ziel sei es gewesen Familien, aber auch dem klassischen Seemuseumspublikum etwas zu bieten. 

Mit einem grossen Würfel und Spielfiguren ausgestattet können Besucher:innen das Spiel starten. Der Würfel zeigt maximal drei Punkte an. „Wir haben es auch mit einem klassischen 6-er-Würfel versucht, aber dann ist man zu schnell am Ziel“, sagt Christian Hunziker. Das Spiel verbindet chronologisch Ereignisse der Schifffahrtsgeschichte mit anderen historischen Ereignissen. 

 

Die neue Ausstellung im Seemuseum verbindet das Spielerische mit dem Wissenswerten. Bild: Flurin Rickenbach

Was man im Spiel erleben kann

Los geht es schon vor der Jungfernfahrt des ersten Kursschiffes mit Werft-Arbeiten. Bevor ein Schiff fahren kann, muss es schliesslich erstmal gebaut werden. Als erstes historisches Datum passiert man das Jahr 1818. Damals scheiterte die erste Fahrt des Dampfers „Stephanie“. Der Grund: Die Maschine war zu schwach. Wer auf diesem Feld landet, muss natürlich erst mal ein Feld zurück in die Werft. Mit etwas mehr Würfelglück landet man auf Feld acht und im Jahr 1824. Jenes Jahr, in dem der Dampfer „Wilhelm“ erstmals Friedrichshafen und Rorschach dauerhaft verbindet. Wer es hierher geschafft hat, darf gleich zur ersten Prüfung antreten.

Schliesslich wäre ein Leiterli-Spiel kein Leiterli-Spiel, wenn es nicht auch irgendwie eine Aufstiegsgeschichte beschreiben würde. Über fünf verschiedene interaktive Prüfungen können sich Besucher:innen vom Heizer:in zum Kapitän:in hoch arbeiten. Die zu erledigenden Aufgaben sind nach Schwierigkeitsgrad gegliedert. Und wer Heizer:in werden will, muss erstmal eine Kraftprobe absolvieren. Für die höchste Stufe muss man 20 Liegestütze und 15 Kniebeugen aufs Museumsparkett legen. Für die erste Stufe reichen aber auch 5 Liegestütze. Aber klar im Heizraum wird geschuftet, ohne Kraft geht es da nicht.

Einige Exponate sind auch neu

Ein erklärender Text vermittelt das entsprechende Wissen dazu: „Im Kesselraum des Dampfschiffes schaufelst du als Heizer Kohle in den Ofen und schürst das Feuer unter dem Kessel. Darin erhitzt sich das Wasser und verdampft. Der Dampf erzeugt Druck - der Druck setzt die Schaufelräder in Bewegung und diese treiben das Schiff an. Damit dein Schiff fährt, musst du fleissig schaufeln und viele dieser Kohlesäcke leeren.“

So würfeln sich die Spieler:innen Stück für Stück durch die vergangenen 200 Jahre der Kursschifffahrt auf dem Bodensee. An einigen Ereignisfeldern sind Exponate der Dauerausstellung eingebunden, die weiteres Wissen vermitteln oder veranschaulichen. Neu in der Ausstellung ist beispielsweise ein 3D-Modell des Wracks des 1864 gesunkenen Dampfschiffes Jura. Es wird in einer Vitrine gezeigt. Die Spieler:innen passieren allerdings nicht nur Ereignisse der Schifffahrtsgeschichte. Auch grössere Naturereignisse wie Hoch- oder Niedrigwasser werden thematisiert.  

 

So sieht die Jura inzwischen aus: Taucher beim Bugspriet der «Jura», 2010. Bild: Andrew Haller

Das Ziel: Keine reine Fortschrittsgeschichte erzählen

„Was wir nicht wollten ist eine reine Fortschrittsgeschichte zu erzählen mit dem Spiel. Die technischen Entwicklungen sollten nicht in einem kontextlosen und luftleeren Raum stattfinden“, erklärt Museumsleiter Christian Hunziker den Ansatz hinter dem Spiel. 

Irgendwann stellte sich dann natürlich auch die Frage: Wie umgehen mit den dunklen Epochen der Weltgeschichte wie zum Beispiel den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert? „Wir wollten es nicht ausblenden, standen aber vor der Schwierigkeit, wie erzählt man das in einem Brettspiel für Kinder ab 5 Jahren?“, gibt Hunziker einen Einblick in den Entstehungsprozess. Am Ende entschieden sich die Ausstellungsmacher:innen dafür die Kriege als schwarze Spielfelder abzubilden auf denen aber nichts passiert.

Erfahrene Spieleentwickler haben geholfen

Mit dieser Form der Vermittlung hat das Seemuseum ein Stück weit auch Neuland betreten. Das Prinzip eines Brettspiels in einen dreidimensionalen Museumsraum zu bringen, erfordert nochmal ganz andere Überlegungen als die Einrichtung einer klassischen Ausstellung. „Es war vielleicht kein grösserer Aufwand, aber das Spiel stellte uns vor ganz andere Herausforderungen“, erklärt Christian Hunziker.

Zum Beispiel: Wie kann man historische Ereignisse so verknappen, dass sie auf ein Spielfeld passen? Wie kann man die verschiedenen interaktiven Aufgaben so konzipieren, dass sie für verschiedene Zielgruppen funktionieren? Und wie schafft man einen neuen Parcours durch eine bestehende Ausstellung, der eine ganz andere Perspektive auf die Geschichte wirft?

Bei der Entwicklung des Spiels hatte das Museum Unterstützung von erfahrenen Spieleentwicklern. Die Gebrüder Frei - ursprünglich aus Steckborn, heute in Bern zuhause - entwickelten unter anderem das Spiel „Icon Poet“. Dem Seemuseum haben sie nun dabei geholfen aus der Schifffahrtsgeschichte ein raumfüllendes Familienspiel zu kreieren. Neben der Expertise für Spiele sei ebenfalls wichtig gewesen, das Konzept immer wieder zu testen. Vor der Eröffnung haben mehrere Familien das Spiel auf Herz und Nieren getestet. „Erst danach wussten wir, was funktioniert und was nicht“, sagt Christian Hunziker. 

 

In der Ausstellung gibt es auch einige Prüfungen zu bestehen. Zum Beispiel die zum Matros:in. Bild: Seemuseum, Nina Kohler

Zwischen Wissensvermittlung und Unterhaltung

Der Testbetrieb läuft aber auch in Echtzeit weiter. Das Spiel soll künftig noch erweitert werden. Bestehende Audio- und Videoformate wie die Zeitzeugen-Interviews sollen noch in das Spiel integriert werden. Grundsätzlich ist das Spiel beliebig ergänzbar. Es gibt nur einen Haken: Aktuell dauert ein Durchgang rund 50 Minuten. Viel mehr sollten es am Ende nicht werden, damit die Besucher:innen den Spass am Ganzen nicht verlieren.

Dabei ist die Entscheidung zwischen Wissensvermittlung und Unterhaltung nicht immer ganz einfach. Idealerweise geht beides Hand in Hand. Aber natürlich kann man kann sich bei der aktuellen Seemuseum-Ausstellung „Volldampf & Würfelglück“ fragen, wie viel Wissen am Ende in dem Spiel wirklich vermittelt wird (viel hängt dabei auch von den mitspielenden Erwachsenen ab) und ob es angemessen ist die Weltkriege mit einem Spielfeld abzuhandeln und nicht weiter gross zu thematisieren. Aber vielleicht ist ein Museum, das sich traut solche Entscheidungen zu treffen, am Ende einfach näher an seinem Publikum, als ein Museum, das alles macht, wie man es immer macht.

Das Spiel als Annäherung an ein viel grösseres Projekt

„Für uns war die Arbeit daran auch eine Chance, die Dauerausstellung nochmal neu kennenzulernen“, sagt Museumsleiter Hunziker. Kein Selbstzweck für das Museumsteam, sondern eher eine Vorbereitung für das, was in den nächsten Jahren folgen soll - eine Überarbeitung und Neuinszenierung der Dauerausstellung des Seemuseum. Wie umfangreich diese ausfällt, das hängt aber massgeblich von der weiteren Finanzierung des Seemuseums ab. Das neue Museumskonzept sieht eine Erhöhung der Budgets der Kreuzlinger Museen vor. Eine Volksabstimmung wird abschliessen darüber entscheiden. 

Mit dem neu konzipierten Spiel durch die Ausstellung bietet das Seemuseum allerdings beste Argumente dafür, das Haus weiter zu stärken. Kaum ein anderes regionales Museum in der Ostschweiz ist so experimentierfreudig und mutig in der Entscheidung für neue Vermittlungsformate. Kaum ein anderes Museum vergleichbarer Grösse fordert sich so beständig selbst heraus. Und kaum ein anderes Haus der Region adressiert die Zielgruppe Familien so überzeugend wie überraschend.

Wer Spass am Spiel und Lust auf eine ungewöhnliche Perspektive auf die Schifffahrtsgeschichte am Bodensee hat, dem sei eine Runde „Volldampf & Würfelglück“ dringend empfohlen!

 

Finden sie die Lösung? Julian Fitze und Christian Hunziker bei der Matrosenprüfung. Bild:  Seemuseum, Nina Kohler

 

Das Rahmenprogramm zur Ausstellung

Rund um die bis 25. Mai zu sehende Ausstellung „Volldampf & Würfelglück“ hat das Seemuseum ein umfangreiches Rahmenprogramm gestrickt. Hier eine Auswahl der kommenden Termine:

 

Mi, 16. Okt. 2024
14 –17 Uhr · Spielenachmittag
Gemeinsames Spielen, ab 5 Jahren, Museumseintritt, mit Anmeldung

 

So, 17. Nov. 2024
14 –17 Uhr · «Werft & Würfel», Familiensonntag
Spielbetrieb und Bastel-Werft für die ganze Familie, Eintritt frei.

 

Mi, 20. Nov. 2024
19 Uhr · Kapitän, Tüftler, Säntis-Berger
Abendveranstaltung mit Silvan Paganini, Präsident Schiffsbergeverein. CHF 15.–,
mit Anmeldung

 

Mi, 22. Jan. 2025
19 Uhr · Schwimmende Belle Époque
Vortrag von Nina Schläfli, Historikerin und Dampfschiffexpertin. CHF 15.– / 8.–,
Anmeldung erwünscht.

 

Fr, 7. Feb. 2025

19 – 20:30 Uhr: Taschenlampenführung. Für begleitete Kinder bis 7 Jahre. CHF 8.– / 12.–, mit Anmeldung.

 

So, 16. März 2025
11 Uhr · Frühschoppen mit «Shanty Peter» Musikalische Reise über die Seen und Weltmeere mit dem Ensemble «Shanty Peter». Kollekte, Anmeldung erwünscht.

 

Do, 27. März 2025

19 Uhr · Faszination Wracktauchen. Abendveranstaltung mit Dr. Hansjörg Brem, Kantonsarchäologe im Gespräch mit Tauchexpert:innen. CHF 15.– / 8.–

 

Sa / So, 5. & 6. April 2025: Tage der offenen Werft
Werftbesichtigung mit abwechslungsreichem Programm.
Ort: Werft URh, Hauptstrasse 102, 8246 Langwiesen.
www.urh.ch

 

Sa, 24. Mai 2025: 100 Jahre MS Konstanz
Gesprächsanlass mit Zeitzeugen und Rundfahrten auf dem ältesten Schiff der Flotte der URh.
Zum Programm:  www.urh.ch/100-konstanz

 

Mehr zum gesamten Programm auf der Website des Seemuseum Kreuzlingen.

 

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