von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 15.01.2024
Auch Punks werden älter
Vor 40 Jahren feierte das Performance-Kollektiv Halle K bei der grossen Kreuzlinger Kunstausstellung im Bellevue seinen Durchbruch. Jetzt kehrt die Gruppe in neuer Besetzung an den Ort ihres Triumphs zurück. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Eigentlich, so wundert sich Marcel Hollenstein noch heute, ist es ziemlich erstaunlich, was dieser eine Auftritt im Kreuzlinger Sommer 1984 ausgelöst hat. „Das war für uns damals das erste Mal auf so einer grossen Bühne. Und ganz grundlegende Sachen haben noch nicht funktioniert“, blickt der Mann, der damals Texter und Sänger des aus Bürglen im Thurgau stammenden Performance-Band-Kollektivs Halle K war, zurück auf diesen magischen Sommer.
Tatsächlich war das ziemlich gross damals. Vom 26. Mai bis 23. Juni 1984 kam alles, was Rang und Namen hatte in der damaligen Schweizer Kunst- und Musikszene, nach Kreuzlingen. In der ehemaligen psychiatrischen Klinik Bellevue zogen 72 Künstlerinnen und Künstler an und boten tägliches Programm: Theater, Film, Musik und eben Performances. Heute kaum noch vorstellbar, dass ein solch grosses Happening ausgerechnet in Kreuzlingen stattfand. So wenig wie man heute im Internet zu dem Festival findet, könnte man auch fast meinen, es sei nur ein Fiebertraum der damals Beteiligten gewesen. Aber alle beteuern - das gab es wirklich!
Halle K, das war in den 1980er Jahren eine irrlichterne Mischung aus Performance, Aktionen, Projektionen, Licht und Feuer. Gesang, Tonband, Synthesizer, selbstgebastelte Noise-Instrumente und Gitarre prägten den Sound. „Einfach Konzerte, das war mir zu langweilig. Halle K macht Konzerte für alle Sinne. Wir haben auch mit Gerüchen gearbeitet, haben Parfüm versprüht“, sagt Marcel Hollenstein im Gespräch mit thurgaukultur.ch
„Sie flirteten mit dem Zeitgeist, wie es kaum jemand schöner tat.“
Thomas Kramer, Kulturjournalist
Für das Kollektiv, das sich 1984 in der leerstehenden Fabrikhalle „K“ der SUN in Bürglen gegründet hatte (daher auch der Name) ging nach dem Kreuzlinger Gig eine Reise los, die sich vermutlich alle Bandmitglieder damals kaum haben vorstellen können. „Sie flirteten mit dem Zeitgeist, wie es kaum jemand schöner tat“, erinnert sich Thomas Kramer, Kulturjournalist beim Tages-Anzeiger und seit 2006 Leiter des Zürcher Verlags Scheidegger & Spiess. Der Band komme „im Olymp der schweizerischen Avantgarde ein Königsplatz“ zu, schrieb er gar in einem Ausstellungskatalog 2008.
Diese Wertschätzung lässt sich auch an anderen Ereignissen ablesen: Halle K spielt Konzerte in der ganzen Schweiz, tourt in Deutschland. Mitte bis Ende Achtziger gibt es unzählige Zeitungsartikel und Magazinbeiträge – alles fein säuberlich aufbewahrt in Karl Steffens Privatarchiv. Etliche der Performances von damals sind inzwischen auch auf youtube zu sehen. Die Band wurde sogar von Radio DRS zum Best Newcomer gekürt. Als Preis durften sie zwei Songs im Studio einspielen.
Video: Halle K live in der Roten Fabrik Zürich (1986)
Kein ganz normaler Gig
Und alles begann mit dem Auftritt im Thurgau. „In Kreuzlingen haben wir viele Leute kennengelernt, das hat viele Verbindungen in die Kunstszene gebracht, da sass sogar Stephan Eicher im Publikum“, erinnert sich Karl Steffen, der als Mastermind der Band galt und für die Bühnenprojektionen und die pyrotechnischen Effekte während der Konzerte zuständig war.
Jetzt, fast 40 Jahre später, kehrt das Kollektiv zurück an den Ort ihres grossen Triumphs. Am Samstag, 20. Januar, 21 Uhr, spielt Halle K, teilweise in neuer Besetzung, die Performance „Kühlwasser“ im Kreuzlinger Kulturzentrum Kult-X. „Natürlich ist das etwas Besonderes“, sagt Karl Steffen, 40 Jahre nach dem Bellevue jetzt wieder in Kreuzlingen aufzutreten sei „sicher kein ganz normaler Gig, die Erinnerung an damals schwingen mit“, beschreibt Karl Steffen seine Gefühlslage 10 Tage vor dem Auftritt. Er ist ebenso wie Marcel Hollenstein weiter Teil des Kollektivs.
Video: Performance beim Rhizom Festival, Rote Fabrik Zürich, Juni 2019
Neue Besetzung und neue Musik
Sie sind aber nicht alleine auf der Bühne: „Seit 1991 legt Mario Marchisella mit dem Schlagbass und dem Octapad die Rhythmen aus und Holger Walther und Hannes Bissegger verdichten mit Geräuschen, Riffs und schillernden Effekten auf der Gitarre die aus Bild und Text heraufbeschworene Atmosphäre“, erklärt die Band in einer Mitteilung zum neuen Konzert in Kreuzlingen.
Zudem gibt es weitere Gäste: „Michele und Maya Elsener übersetzen auf Hellraum-Projektoren die momentane Stimmung in wandfüllende Zeichnungen. Kishana Kinashi und Gilliana Steffen erforschen, als Gäste integriert ins Halle K Konzert, den Identitätsbegriff mit einer Aktion“, heisst es weiter.
Ob sie damit an die alten Zeiten anknüpfen wollen? Marcel Hollenstein denkt kurz nach und sagt dann: „Wir wollen unsere Vergangenheit nicht verleugnen, aber wir haben schon auch den Anspruch jetzt etwas Neues hinzuzufügen.“ Auf die Frage, was das genau heissen könnte, ergänzt der Halle-K-Frontmann: „Früher wandelten wir zwischen Kunstfuzzis und drogensüchtigen Punks, heute schweben wir eher zwischen Kunst und Popmusik“, sagt er mit einem Grinsen im Gesicht.
Video: Performance im Shed Eisenwerk (2018)
Halle K war Avantgarde
Ihr Musik- und Konzertverständnis war neu damals, ebenso der Einsatz von vorproduzierten Sounds und Samples, die dann in die Bühnenshow integriert wurden. Für den Publizisten Thomas Kramer war das wegweisend. „Zum Instrumentarium von Halle K gehörten damals feingliedrige Metallgewächse, Kaktuspflanzen nicht unähnlich, die auf der Bühne mit Trommelstöcken traktiert wurden. Je nachdem, auf welchen Ast die Musiker droschen, kam lautes Zischen, ein scheppernder Trommelwirbel, ein Knall oder ein anderes Geräusch aus den Boxen. Ich erinnere mich, wie verblüffend diese Effekte damals wirkten und wie leidenschaftlich darüber diskutiert wurde, welchen Stellenwert das vermeintlich simple Abrufen von vorfabrizierten Klängen im Rahmen eines Konzertes haben dürfe.“ Heute nutzen diese Technik fast alle erfolgreichen Künstler:innen.
Indoor-Feuerwerke? „Heute eher schwierig“, sagt Karl Steffen
Wenn das Kollektiv am 20.Januar also nun erneut in Kreuzlingen auf der Bühne stehen wird, dann werden einige Elemente von früher vielleicht auch nicht mehr eine so grosse Rolle spielen. Selbst gebastelte Indoor-Feuerwerke zum Beispiele. „Das ist heute so gar nicht mehr möglich“, sagt Karl Steffen. Die Drogen („die Zeiten sind vorbei“, sagt Steffen) Oder auch die Nacktauftritte von Sänger Marcel Hollenstein. „Das hatte damals immer auch einen künstlerischen Kontext, war nie Selbstzweck. Aber natürlich ging es auch darum zu provozieren“, sagt Hollenstein heute.
Ihre Kunst war auch ein Abarbeiten an der damals sehr engen Thurgauer Welt: „Das hatte viel mit Auflehnung zu tun. Wir, oder sicher ich, habe immer den Weg des grössten Widerstandes gewählt. Praktisch in allem hatte es Revolte“, hatte Marcel Hollenstein bereits 2018 in einem Interview mit thurgaukultur.ch gesagt. Was automatisch zu der Frage führt: Was ist heute der Antrieb der Band, noch immer auf die Bühne zu gehen? Immer noch Revolte? „Wenn es mir gelingt, Menschen mit unserem Auftritt zu inspirieren, dann bin ich glücklich. Dafür mache ich das“, sagt Hollenstein.
Video: Performance «Eisen oder das letzte Schiff» (2023)
Halle K spielen am Samstag, 20. Januar, 21 Uhr, im Kreuzlinger Kult-X
Tickets für den Auftritt von Halle K gibt es an der Abendkasse (12 Franken).
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