von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 19.12.2022
Barfuss ins Museum
Das Stapferhaus in Lenzburg zeigt mit seiner neuen Natur-Ausstellung, welch fantastische Orte Museen sein können. Das sollte auch ein Vorbild für das neue Historische Museum in Arbon sein. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Am Anfang ist ein Sandkasten. Hier muss man durch, wenn man die aktuelle Natur-Ausstellung des Stapferhaus in Lenzburg sehen will. Barfuss. So empfehlen es die Ausstellungsmacher:innen. Schliesslich geht es ihnen ums Spüren, Fühlen, Erleben. Und Schuhe können da manchmal stören.
Deshalb zieht man als Besucher:in erstmal die Schuhe aus und dann rein in den Sand. Es ist der Auftakt einer Ausstellung, die einen herausfordert, einem neue Perspektiven eröffnet und von Anfang an klar macht: Hier ist so einiges anders als in anderen Museen.
Die grosse Frage: Wie retten wir die Natur?
Es soll um unser Verhältnis zur Natur gehen. „Wir streiten darüber, ob und wie es die Natur zu retten gilt. Aber: Was ist eigentlich Natur? Und wem gehört sie?“, heisst es auf der Internetseite des Museums. Und damit ist das Thema ziemlich gut umrissen.
Herzstück der Ausstellung ist die Inszenierung des Themas im Obergeschoss. Barfuss läuft man weiter auf angenehm weichen Holzboden, transparente Leinwände teilen den Raum auf, über all flimmert und flackert es, gerade so, dass man nicht komplett überfordert ist.
Kurz vor Reizüberflutung
Neugier überwiegt, aber schon auch kurz vor Reizüberflutung. Ästhetisch aber mal wieder beeindruckend. Trotz allen Flirrens bleibt es ein Raum, in dem man sich gerne aufhält. Vermutlich deshalb, weil er klar strukturiert ist: Im Zentrum steht eine Informationsinsel mit allerlei Fakten zu unserem Umgang mit Natur. Natürlich geht es da auch um die Klimakrise.
„Heute ist es auf der Erde 1,1 Grad wärmer als vor der Industrialisierung“ steht da auf hohen in einem Kreis gruppierten schwarzen Tafeln. Oder auch „Die Schweiz hat sich mit +2 Grad fast doppelt so stark erwärmt wie der globale Durchschnitt.“ Dieser Kreis aus Fakten und Grafiken zum Thema ist die Wissensbasis für alles weitere dieser Ausstellung.
Fakten sichtbar machen
Und schon hier zeigt sich das grosse Talent des Stapferhauses für Visualisierungen. Zum Beispiel an einem kaminartigen Schacht, in dem hinter feinem Gitter Eierschalen aufeinander getürmt sind. Dazu der Text: „Aus diesen Eierschalen sind 2500 Mastküken geschlüpft. So viele Hühner werden in der Schweiz alle 16,6 Minuten geschlachtet.“
Plötzlich wird die Konsequenz eines oft gehörten Faktes - unser oft brutaler Umgang mit Nutztieren - sehr konkret sichtbar. Ohne diese Visualisierung im Raum wäre die Wirkung des Textes vermutlich weniger wuchtig auf die Betrachter:innen.
Rund um diese Infozentrale gruppieren sich verschiedene Räume, in denen man einzelne Themen vertieft erleben kann. Sie sind überschrieben mit Zeilen wie „Stell dir vor, ein Fluss hätte Rechte“, „Stell Dir vor, wir sehen Tiere als unsere Gefährten“, „Stell dir vor, das Land gehört nicht uns, sondern wir gehören dem Land“. Tritt man in diese Räume ein, werden die einzelnen Themen verständlich und spannend aufbereitet.
Auf den Pfoten eines Fuchses
Am beeindruckendsten vielleicht bei „Stell dir vor, du entdeckst die Welt als Fuchs“. In diesem Raum verbirgt sich ein Parcours, auf dem man in die Pfoten eines Fuchses schlüpfen kann, um seinem Weg durch die Stadt zu folgen. In der Mitte eine Mülltonne, Geruchsproben inklusive.
Der Clou dabei: die Ausstellungstexte sind so angebracht, dass man sie tatsächlich am besten lesen kann, wenn man dem vorgezeichneten Weg auf allen Vieren folgt. Einfacher und klüger kann man einen Perspektivwechsel bei Museumsbesucher:innen wohl kaum erreichen.
Auch zwischen den Erlebnisräumen werden die Besucher:innen immer wieder einbezogen. „Der Mensch steht über allen anderen Lebewesen. Findest du das richtig?“ steht zum Beispiel auf einer Tafel. Als Betrachter:in kann man sich diese Frage einfach so für sich stellen oder auch digital abstimmen. Egal, wie man sich verhält - die Ausstellung fordert auf diese Weise eine persönliche Haltung der Besucher:innen ein. Es kann einem nicht egal bleiben.
Was das Stapferhaus so einzigartig macht
Vermutlich ist es diese Mischung aus direkter Einbindung, kluger Inszenierung und packender Vermittlung, die das Stapferhaus so einzigartig in der Schweiz macht. Das zeigt sich auch im letzten Raum der Ausstellung. Auf einer grossen Leinwand diskutieren vier Menschen darüber, wie unsere Welt denn nun zu retten sein könnte. Mit der Hilfe von Technologie? Brauchen wir einen Wertewandel? Oder ist eh alles übertrieben und wir machen uns zu viele Gedanken?
Auf der Leinwand diskutieren die als Prototypen für bestimmte Haltungen angelegten Figuren verschiedene Thesen und auch hier wird das Publikum eingebunden. Es kann seine Haltung einbringen. Abhängig vom Votum der Zuschauer:innen verändert sich dann die Diskussion auf der Leinwand. Ein würdiges Finale einer bemerkenswerten Ausstellung.
Viel besser kann man das nicht machen
Hier stimmt einfach alles. Der klare Aufbau, die stringente Erzählung, die erlebnisreiche Vermittlung, der kluge Einsatz multimedialer Elemente und bei all dem Feuerwerk gelingt es den Ausstellungsmacher:innen trotzdem den Besucher:innen Raum zu lassen, eine eigene Haltung zum Thema zu entwickeln. Das ist aussergewöhnlich gut.
Nicht umsonst wurde das Stapferhaus 2019 zum besten europäischen Museum ernannt, es ist in der Branche längst ein grosses Vorbild für zeitmässe Museen. Deshalb sei allen, die an der Konzeptionierung des neuen Historischen Museum des Kantons Thurgau in Arbon beteiligt sind, unbedingt ein Besuch dieser Ausstellung empfohlen. Viel besser als hier kann man Museumsarbeit derzeit nicht machen.
Wie sich das Stapferhaus finanziert
Rund 24 Millionen Franken hat der Neubau (2018 eröffnet) direkt am Bahnhof Lenzburg gekostet, sieben Jahre lang wurde daran geplant (aufschlussreich: der Schlussbericht zum Neubauprojekt), im Schnitt beläuft sich der jährliche Aufwand auf rund drei Millionen Franken.
Eine Million davon stammt nach Angaben des Stapferhauses aus selbst erwirtschafteten Einnahmen durch Eintritte, Einnahmen im Bistro und Raumvermietung. Weitere Mittel stammen von der öffentlichen Hand. Laut Stapferhaus kommt über den Kanton Aargau so ein fixer Betriebsbeitrag von 450’000 Franken ins Haus. Es gibt zusätzlich auch eine Leistungsvereinbarung mit Pro Helvetia über 120’000 Franken pro Jahr.
Mehr als 90’000 Besucher:innen bei der letzten Ausstellung
Aber das allein reicht nicht: „Als Institution mit nationalem Anspruch ist das Stapferhaus, wenn es das attraktive Programm fortsetzen will, nebst öffentlichen Geldern und den selbst erwirtschafteten Einnahmen dringend auf die Unterstützung durch Stiftungen und private Partner:innen angewiesen“, heisst es auf der Website des Museums. Deshalb wirbt das Stapferhaus regelmässig auf Projektbasis um weitere Unterstützer:innen. Wie wichtig das ist, unterstreicht eine andere Zahl: Laut Stapferhaus stammen rund 70 Prozent des 3-Millionen-Jahresbudgets aus Drittmitteln.
Neben dem Kanton Aargau, der Stadt Lenzburg und der Pro Helvetia sind im Fall der aktuellen Natur-Ausstellung weitere Stiftungen Geldgeber, denen naturverwandte Themen, Bildungsangebote oder kulturelle Initiativen wichtig sind. Zusätzliche Mittel kommen aus der Privatwirtschaft: «Darüber hinaus gehen wir mit Firmen Sponsoringpartnernschaften ein. Diese Unternehmen unterstützen uns entweder mit Sachleistungen oder mit finanziellen Beiträgen. Dafür erhalten sie vom Stapferhaus Gegenleistungen, wie beispielsweise Eintrittsgutscheine für ihre Kund:innen und Mitarbeiter:innen», heisst es auf der Stapferhaus-Website.
Die Besucher:innen scheinen das Programm des Stapferhauses jedenfalls zu mögen: Die letzte Ausstellung über „Geschlecht“ sahen zwischen November 2020 und Mai 2022 - also mitten in der Corona-Pandemie - mehr als 90’000 Besucher:innen.
Was der Thurgau vom Stapferhaus lernen kann
Hier lohnt dann nochmal ein Blick auf die kalkulierten Zahlen für das neue Historische Museum Thurgau in Arbon. Bis zu 100’000 Besucher:innen werden hier pro Jahr erwartet. Das wären mehr als das viel bekanntere Stapferhaus in 19 Monaten bei der Geschlechterausstellung erreicht hat. Kaum vorstellbar, dass das realistisch ist. Vielleicht sollte man diese ambitionierten Zahlen nochmal überdenken und neu kalkulieren.
Inhaltlich ist das Stapferhaus für den Thurgauer Museumsbau aber sicher eine Inspirationsquelle. Ob es auch als Vorbild taugt? Stapferhaus-Leiterin Sibylle Lichtensteiger formuliert es zurückhaltend: „Ob das Stapferhaus ein Vorbild für das Museum Werk Zwei im Thurgau sein könnte, weiss ich nicht. Aber ich finde, wir haben hier einen zeitgemässen Weg gefunden mit gesellschaftlich relevanten Themen umzugehen in dem wir diese in einem Erlebnisraum inszenieren und gestalten.“
Und wenn auch dies ab 2028 in Arbon gelänge, wäre das doch ein ziemlicher Erfolg.
Interview mit Stapferhaus-Direktorin
Wie das Stapferhaus Ausstellungen konzipiert, mit welchem Gefühl die Besucher:innen nach Hause gehen sollen und was man bei der Planung eines neuen Museum bedenken sollte - darüber haben wir mit Stapferhaus-Direktorin Sibylle Lichtensteiger gesprochen. Das ganze Interview findest du hier.
Das Stapferhaus im Internet: https://stapferhaus.ch/
Video: Trailer zur Natur-Ausstellung im Stapferhaus
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