von Simon Engeli, 09.02.2024
Der Lagerraum-Blues
Mein Leben als Künstler:in (9): Von glücklichen und wehmütigen Erinnerungen: Simon Engeli stöbert durch das Archiv seines Theaterschaffens. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Wir stehen in unserem Lagerraum. Eben haben Rahel und ich die letzte Requisitenkiste vom Stück „Wildsau!“ in den Theaterbus geladen. Meine Lendenwirbelsäule meldet sich mit einem fiesen „Du bist langsam zu alt für diesen Scheiss.“ zu Wort. Ich setze mich auf die Heckkante des Ford Transits und lasse meinen Blick in den Raum und über die Regale mit all den Kisten, Stativen, Platten, Möbeln, Rahmen, Gewichten, Taschen und Säcken gleiten. Die gut verstaute Bühnenwelt von Giuseppe, Noce, Joe, Rahel und mir.
Wir fünf Theaterschaffende von der Theaterwerkstatt Gleis 5 haben das Aussenlager vor ein paar Jahren dazu gemietet. Er liegt in einem kleinen Weiler, wenige Autominuten von Frauenfeld entfernt. Die Theaterwerkstatt selbst platzte schon kurze Zeit nach ihrer Gründung aus allen Nähten, kein Wunder bei vier Neuproduktionen jedes Jahr. Und so machten wir es wie die Eichhörnchen: Wir legten uns gleich mehrere Nussverstecke an; und immer mal wieder kommt ein neues hinzu.
Theater ist eine verzweifelt physische Angelegenheit
Wie schön wäre es manchmal, mit einem Flötisten tauschen zu können. Oder einer Schriftstellerin. Oder wenigstens mit einem Pantomimen. Aber eben: Augen auf bei der Berufswahl! Theater ist eine verzweifelt physische Angelegenheit. Ständig braucht man „Zeug“. Da zum Beispiel, das Gewehr, mit dem Bauer Krummenacher „Biber the Kid“ zur Strecke bringen wollte. Oder hier, die Laubsäcke für die Klangperformance „Klank“.
Oder dort oben, die Feuerspuckfackel aus «Der Meister und Margarita». Und auch wenn man sich – aus finanziellen oder stilistischen Gründen – für eine spärliche Ausstattung entscheidet, auf Tournee muss man sich ja schliesslich mit irgendwas beleuchten können, und oft bringt man die Bretter, die die Welt bedeuten, auch gleich selber mit.
Wie das Äussere das Innere spiegelt
„So wie dein Zimmer ausschaut, so sieht es in deinem Inneren aus!“, pflegte meine Mutter in meiner Teenagerzeit zu sagen. Beim Anblick unseres Theater-Lagerraums stelle ich folglich fest: Ideenreich, leicht überfordert und immer ein wenig im Stress. Ein Lagerraum, denke ich mir, während ich mir den Rücken massiere, ist dabei mehr als nur ein Abbild der Gegenwart. Er ist zuweilen auch eine archäologische Grabungsstätte. Denn hinter den aktuellen Inszenierungen, die im dichten Takt der Gastspiele ein- und ausgeladen werden, verstecken sich die Zeugen der Vergangenheit.
„Da chläbt a auem e gschicht. E gruch, es grüüsch & nes gsicht. Es vermische sech d biuder vo geschter mit dene vo hüt“, singt Büne Huber. Die stummen Zeitzeugen wecken meist glückliche Erinnerungen. Manchmal Wehmut. Gelegentlich auch Scham. Da gibt es zum Beispiel immer noch ein paar Kisten in einem der hinteren Regale, seit vielen Monaten unberührt. Was für Pläne hatten wir doch mit diesem Projekt! Es sollte der ganz grosse Erfolg werden. Leider ist nichts draus geworden. Nur die Kisten, die stehen da als Mahnmal des Scheiterns. Oder vielleicht als Aufforderung zur Tat? Hey, wir sind immer noch hier!, flüstern sie. Wann legen wir endlich richtig los?
Der nicht ganz ungefährliche Aufstieg in alte Erinnerungen
Die Geschichte eines Theatermachers liesse sich wohl ganz gut auf einem Rundgang durch die gesammelten Lagerräume seines Berufslebens nacherzählen, geht es mir durch den Kopf, als ich aufstehe und mich strecke. Der Obstkeller des Grossvaters, die Garage des Freundes, der Hobbyraum in einem anonymen Wohnblock. Der erste Lastwagencontainer. Der zweite Lastwagencontainer. Der Einzug in den "diesmal wirklich langfristigen" Lagerraum und der Auszug ein paar Monate später.
Von all den Lagerräumen ist mir dabei einer der Liebste. Er befindet sich im hintersten Winkel unseres Theaters im alten Frauenfelder Lokdepot. Es ist ein Estrich; und überhaupt dorthin zu gelangen ist schon ein kleines Abenteuer. Man braucht dazu eine Leiter, wobei oben im Gebälk blöderweise nie genug Auflagefläche für beide Holme gleichzeitig ist.
Fast wie in einer ägyptischen Grabkammer
Ist man trotzdem heil aufgestiegen, hält man sich an der Klinke einer Eingangstür fest, stösst sich mutig von der obersten Sprosse ab und schwingt sich dann elegant wie Errol Flynn auf einen vorstehenden Balken. Anschliessend muss man nur noch die mit weissen Knöcheln umklammerte Klinke nach unten drücken und schon fällt man mehr oder weniger kontrolliert durch die sich öffnende Tür in den dunklen Raum der Erinnerung.
Hier oben herrscht die Atmosphäre einer ägyptischen Grabkammer, hier lagern die Dinge, die nie wieder auf Reisen gehen werden, die keiner mehr vermisst und keiner mehr braucht. Die nur durch Zufall oder Faulheit die letzte grosse Entsorgungstour überstanden haben. Oder weil man sich wider aller Vernunft einfach nicht von ihnen trennen konnte.
Eine Holzkiste, die mich 20 Jahre zurückversetzt
Wenn ich mich auf dem aus alten Bühnenbildplatten gezimmerten Boden in die hinterste Ecke des Estrichs vortaste, gelange ich zu einer Holzkiste. Sie ist mit grüner, staubiger Plastikplane abgedeckt. Hebe ich sie hoch, sehe ich im Schein meiner Handy-Taschenlampe zuunterst in diesem Theatersarkophag die Grabbeigaben: Ein schwarzer Lackschuh, eine Fliegenklatsche, ein mit Leuchtsternen beklebtes blaues Stück Stoff.
Ein Wimpernschlag, und ich sehe uns wieder: Rahel und mich, vor fast 20 Jahren an einem warmen Junitag. Eben haben wir zusammen die schwere Holzkiste mit den Requisiten vom Stück „Frau Meier, die Amsel“ in den Kofferraum gehievt. „Haben wir die Puppen?“, „Check!“. „Haben wir die Geige?“, „Check!“. „Haben wir deine Lackschuhe?“, „Check!“. „Dann lass uns fahren.“ „Yes! Magdeburg, wir kommen!“
Wir steigen in Rahels grünen Polizeibus. Sie fährt, natürlich. Ich blicke sie von der Seite an. Sie schaut nach vorne, vor uns liegen 700 Kilometer deutsche Autobahn. Und das volle Leben. In ihren Augen sehe ich Vorfreude, Abenteuerlust und Zuversicht.
Zwischen Abenteuerlust und Routine
Ein Wimpernschlag, und ich stehe wieder in unserem Aussenlager. Rahel und ich haben eben die letzte Requisitenkiste von „Wildsau!“ in den Theaterbus geladen. Morgen früh stehen Schulaufführungen auf dem Programm. Irgendeine Turnhalle in irgendeinem Dorf.
„Haben wir die Wildsaupuppe?“, „Check!“. „Haben wir den Monitor?“, „Check!“. „Haben wir die Glitzerhosen?“, „Check!“. „Und sag mal, ist heute Abend nicht das Elterngespräch?“, „Che…verdammt!“. Wir fahren los. Vor uns liegt eine Thurgauer Landstrasse. Und ein halbes Leben. Hinter uns im Rückspiegel entfernt sich ein Lagerraum voller Geschichten.
Video: arttv.ch über die Produktion „Wildsau!“
Es geht weiter! Zweite Staffel der Serie «Mein Leben als Künstler:in» läuft!
Die zweite Staffel der Kolumnenserie «Mein Leben als Künstler:in» ist gestartet. Dieses Mal schreiben diese vier Künstler:innen Geschichten aus ihrem Leben:
- Simone Keller, Pianistin
- Simon Engeli, Schauspieler, Regisseur, Theatermacher
- Rahel Buschor, Tänzerin
- Sarah Hugentobler, Videokünstlerin
Alle Beiträge der ersten Staffel gibt es gebündelt im zugehörigen Themendossier.
Die Idee: Mit der Serie „Mein Leben als Künstler:in“ wollen wir den vielen Klischees, die es über Künstler:innen-Leben gibt, ein realistisches Bild entgegensetzen. Das soll unseren Leser:innen Einblicke geben in den Alltag der Kulturschaffenden und gleichzeitig Verständnis dafür schaffen, wie viel Arbeit in einem künstlerischen Prozess steckt.
Denn nur wer weiss, wie viel Mühe, Handwerk und Liebe in Kunstwerken steckt, kann die Arbeit von Künstler:innen wirklich wertschätzen. So wollen wir auch den Wert künstlerischer Arbeit für die Gesellschaft transparenter machen. Neben diesem aufklärerischen Ansatz ist die Serie aber auch ein Kulturvermittlungs-Projekt, weil sie beispielhaft zeigt, unter welchen Bedingungen Kunst und Kultur heute entstehen.
Bereits zwischen Juni und Oktober hatten die vier Künstler:innen Ute Klein, Fabian Ziegler, Thi My Lien Nguyen über ihren Alltag und ihre Arbeit berichtet. Alle erschienenen Beiträge der Serie bündeln wir im zugehörigen Themendossier
Von Simon Engeli
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- Kolumne
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