von Simone Keller, 02.02.2024
Die Wiederentdeckung einer fast vergessenen Musikerin
Mein Leben als Künstler:in (8): Frauen werden in der Musikgeschichte all zu oft vergessen. Am Beispiel der Ostschweizer Komponistin Olga Diener, zeigt die Pianistin Simone Keller, wie sie gegen diese Ungerechtigkeit kämpft. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Als Olga Diener 1963 in St. Gallen starb, hinterliess sie ein kompositorisches Werk mit 76 Opuszahlen, vorwiegend Kammermusik, zahlreiche Klavierstücke, Lieder, Sonaten für Violine und Cello oder Violine und Klavier, zwei Streichtrios und Streichquartette, aber auch grösser besetzte Klavier-Konzerte und die Märchen- und Mysterienspiele.
Mir begegnete der Name Olga Diener zum ersten Mal vor ein paar Jahren, als mein Pianistenkollege Dominik Blum vor vier Jahren ihre Klavier-Fantasie op. 22 uraufführte. Ich konnte es kaum glauben, dass sie von 1933 bis 1943 im thurgauischen Altnau wohnte, ich aber noch gar nie von ihr gehört hatte: eine Ostschweizer Komponistin, 1890 in St. Gallen geboren, die in ihrer Heimatstadt Violine und Komposition studiert hatte, später auch in London, Basel und Paris.
Was Hermann Hesse über sie sagte
Olga Diener komponierte nicht nur, sondern schrieb Gedichte, die 1925 erstmals in einer Sammlung zeitgenössischer Schweizer Frauenlyrik erschienen sind. Der Winterthurer Dichter und Mäzen Hans Reinhart nannte sie eine «schweizerische Traum-Dichterin» und bezeichnete ihren Beitrag in diesem Gedichtband als «etwas vom Besten, was wir zu bieten haben».
Und sogar Hermann Hesse wurde auf den «schönen Klang» in ihren Versen aufmerksam, kirtisierte aber, dass sie in einem «Glashaus eingeschlossen» sei, «das sie und ihre Gedichte stets von der Welt» trenne, und sie ihre «Geheimsprache der Allgemeinsprache» nicht genug annähern könne.
Was mich an Olga Diener faszinierte
Genau diese «Geheimsprache» faszinierte mich aber an Olga Diener, als ich mir die fein säuberlichen Handschriften ihrer Klavierstücke zum ersten Mal anschaute, ihre eigene Art und Weise sich musikalisch auszudrücken, die zwar gewissen gängigen kompositorischen Regeln zu folgen scheint, aber dennoch eine ganz eigenständige Sprache ist, die für mich nur auf den ersten Eindruck «geheim» schien und die ich unbedingt aus dem «eingeschlossenen Glashaus» herausholen möchte, um sie einem breiten Publikum zugänglich zu machen.
Zwei öffentliche Aufführungen
Einem Eintrag in das Gästebuch des Pfarrhauses in Kesswil am Bodensee zur Folge, traf sich Olga Diener 1925 mit verschiedenen bekannten Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die hier regelmässig von Pfarrer Jakobus Weidenmann eingeladen wurden. 1924 war sie in den Schweizer Tonkünstlerverein aufgenommen worden und hatte sich also durchaus sowohl als Dichterin als auch als Schriftstellerin bis zu einem gewissen Grad etabliert.
1929 wurde ihr Streichtrio op. 12 im Kleinen Saal der Tonhalle St. Gallen uraufgeführt. Eine der beiden öffentlichen Aufführungen ihrer Kompositionen, die Olga Diener erlebt hatte. Im St. Galler Tagblatt war 1929 zu lesen, dass Olga Dieners Stück eher eine «unfertige Skizze» sei, im Stadtanzeiger hingegen wurde das «allerliebste Streichtrio» als «ungeniertes Spiel mit Tönen» gelobt, aber wohl auch nicht ganz Ernst genommen.
Unberührt im Schweizer Literaturarchiv
1943 spielte das St. Galler Streichquartett in einem Kammermusikabend der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik im Hotel Hecht in St. Gallen das Streichquartett op. 31 von Olga Diener. Im St. Galler Tagblatt war diesmal zu lesen, dass das Werk «zweifelsohne einen bedeutenden Fortschritt im Schaffen der Komponistin» darstelle. Die durchsichtige Satztechnik und die freie Zeitgestaltung wird lobend erwähnt.
Doch es folgten keine weiteren Konzerte mit Olga Dieners Musik. In ihrem Altnauer Landhaus «Belrapeire» hatte sie gelegentlich Hauskonzerte organisiert, zum Beispiel das Streichquartett op. 8 uraufgeführt. Die überwiegende Mehrheit ihrer Stücke wurde aber zu ihren Lebzeiten und bis heute nie hörbar gemacht. Ihr Werk ist in Vergessenheit geraten und liegt mehr oder weniger unberührt im Schweizer Literaturarchiv.
Gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse
2003 veröffentlichte das Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz in St. Gallen eine Publikation von Ursula Riklin über Olga Diener und Kornelia Bruggmann und Dominik Blum brachten in der Reihe «Literatur im Dialog» drei Stücke zur Uraufführung.
Von weiteren Bemühungen, das Werk von Olga Diener wiederzuentdecken war mir nichts bekannt, weshalb ich die Musikwissenschaftlerin Michelle Ziegler anfragte, ob sie für den im März erscheinenden neuen Band in der «Facetten»-Reihe der Thurgauer Kulturstiftung einen Text schreiben könnte, worauf sie sofort mit grosser Begeisterung und Sorgfalt eingegangen ist, mit mir gemeinsam die Grossnichte von Olga Diener getroffen und sämtliches Archiv-Material gesichtet hat.
Olga Dieners Musik wird am 24. März in Weinfelden aufgeführt
Schliesslich hat Michelle Ziegler unter dem Titel Lebensrealität und Geistermusik – Die vergessene Komponistin Olga Diener einen Text verfasst, der nun im März beim St. Galler Verlag «JungleBooks» erscheinen wird. Wir werden am 24. März dieses neue Buch zusammen im Rahmen der Reihe «Theater Konzerte Weinfelden» im Weinfelder Rathaus vorstellen. Dort werde ich auch Musik von Olga Diener spielen, aber nicht nur.
Das Projekt heisst «Hidden Heartache» und macht zum 100. Geburtstag der Komponistin Julia Amanda Perry 100 Minuten Klaviermusik der letzten 100 Jahre im Kontext gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse hörbar und reflektiert die strukturellen Machtverhältnisse in 11 Essays. Davon werde ich in der nächsten Kolumne mehr berichten.
Hier ein ganz kurzes Klavierstück von Olga Diener:
Überzeugungstäterinnen
Die Musik von Frauen kommt in der Musikgeschichte kaum vor, was nicht an der Qualität ihrer Kompositionen liegt. Der Journalist Arno Lücker, der gerade ein Buch mit 250 Komponistinnen-Portraits veröffentlicht hat, nennt diese «Überzeugungstäterinnen», die sich trotz aller Widerstände ans Notenpapier gesetzt haben.
Für mich als Musikerin und Interpretin klassischer Musik bedeutet dies die Verantwortung, genauer hinzuschauen und hinzuhören, wo es Komponistinnen im Verborgenen gibt, die mehr Beachtung verdient hätten und mich für deren Wiederentdeckung einzusetzen. Eine äusserst schöne Aufgabe! Aber auch eine schwierige.
«Ich fühle mich wie der Salat in einem Burger: der ist da, aber man schmeckt ihn nicht. »
Olga Neuwirth, Komponistin, über die Rolle von Frauen in der Musikgeschichte
Die renommierte österreichische Komponistin Olga Neuwirth hat vor ein paar Jahren in einem Interview gesagt: «Ich fühle mich wie der Salat in einem Burger: der ist da, aber man schmeckt ihn nicht. »
Sie hat als erste Frau den «Grossen Österreichischen Staatspreis für Musik» gewonnen und viele weitere bedeutende Auszeichnungen, musste sich aber imme wieder anhören, dass ihre Musik ja nur gespielt werde, weil sie eine Frau sei, dass sie als freche Göre an den Privilegien der etablierten männlichen Kollegen säge und sich mit ihrer Kritik an den bestehenden Strukturen zu viel anmasse: «Meine Geschichte des Komponierens ist jedenfalls auch die Geschichte der ständigen Infragestellung des Komponierens einer Frau. Und das ist zermürbend. (…) Der Sinn der Sache ist doch – und das betrifft alle Minderheiten, die sich je für ihre Rechte eingesetzt haben –, dass sich unterschiedliche Menschen freier, offener, verständnisvoller und menschlicher begegnen und nicht mit Arroganz und Überheblichkeit. Dass sich Gegensätze und andere Formen des Lebens und Ausdrucks vermischen und nicht immer wieder darauf hingewiesen werden muss. An der Vorherrschaft oder Überlegenheit einer Institution oder Macht hat sich nichts geändert. Ich möchte aber Neues erfahren, das in mir neue Empfindungen und Gedanken auslöst.»
In diesem Sinne wünsche ich mir viele neugierige Menschen, die Lust haben, die wunderbare Musik der in Vergessenheit geratenen Ostschweizer Komponistin Olga Diener zu entdecken.
Es geht weiter! Zweite Staffel der Serie «Mein Leben als Künstler:in» läuft!
Die zweite Staffel der Kolumnenserie «Mein Leben als Künstler:in» ist gestartet. Dieses Mal schreiben diese vier Künstler:innen Geschichten aus ihrem Leben:
- Simone Keller, Pianistin
- Simon Engeli, Schauspieler, Regisseur, Theatermacher
- Rahel Buschor, Tänzerin
- Sarah Hugentobler, Videokünstlerin
Alle Beiträge der ersten Staffel gibt es gebündelt im zugehörigen Themendossier.
Die Idee: Mit der Serie „Mein Leben als Künstler:in“ wollen wir den vielen Klischees, die es über Künstler:innen-Leben gibt, ein realistisches Bild entgegensetzen. Das soll unseren Leser:innen Einblicke geben in den Alltag der Kulturschaffenden und gleichzeitig Verständnis dafür schaffen, wie viel Arbeit in einem künstlerischen Prozess steckt.
Denn nur wer weiss, wie viel Mühe, Handwerk und Liebe in Kunstwerken steckt, kann die Arbeit von Künstler:innen wirklich wertschätzen. So wollen wir auch den Wert künstlerischer Arbeit für die Gesellschaft transparenter machen. Neben diesem aufklärerischen Ansatz ist die Serie aber auch ein Kulturvermittlungs-Projekt, weil sie beispielhaft zeigt, unter welchen Bedingungen Kunst und Kultur heute entstehen.
Bereits zwischen Juni und Oktober hatten die vier Künstler:innen Ute Klein, Fabian Ziegler, Thi My Lien Nguyen über ihren Alltag und ihre Arbeit berichtet. Alle erschienenen Beiträge der Serie bündeln wir im zugehörigen Themendossier
Von Simone Keller
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