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von Maria Schorpp, 19.05.2025

Fortschritte mit Fragezeichen

Fortschritte mit Fragezeichen
Wer weiss, weshalb Köbi (Jorin Haller) so schön Geige spielen kann. | © Hans Schneckenburger

Ein erstaunliches Stück Theater: Das Momoll Jugendtheater Wil spielt die Uraufführung von Bettina Scheiflin­gers „Dureschloh“ und stellt spannende Fragen. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Kann ganz lustig sein, so eine Zeitreise rückwärts. Im Film treffen dann oft erwachsene Per­sonen auf den eigenen pubertierenden Opa. Und dann die ganzen lustigen Sachen, die es damals gab. Wie dieses komisch geformte Stück Eisen, das Lea in der alten Fabrikhalle findet und gerade noch als Bügeleisen identifizieren kann. Ihrem Filmopa begegnet sie allerdings nicht, sondern jungen Menschen ihres Alters.

Und so lustig wie im Film geht es in „Dureschloh“ des Wiler Momoll Ju­gendtheaters auch nicht zu. Das macht aber nichts, dafür hat das Stück von Bettina Scheiflinger viel spannendere Fragen auf Lager. Etwa: Sind die Nöte und Ängste junger Menschen heute weniger ernstzunehmen, weil sie wohlstandsmässig besser dran sind? Und sind wir wirklich so viel schlauer als damals im Jahr 1910, das vor Lea und Robin wie ein Film abläuft?

 

Das Ensemble des Momoll Jugendtheaters Wil: (untere Reihe von links) Hannes Sturm, Elia Moser, Nayla Krüsi, Tabea Sanchez (hinten mit weissem Schal), Zora Brühwiler, Ada Kihm, Iago García Bärtsch, (obere Reihe von links) Liara Reichen, Mateo Montoya, Spenta Ibrahim, Livia Lenherr, Jelena Sterren, Jorin Haller, Shaëlle Burger, Yara Krüsi, Mena Heuberger, Anna Bernet. Bild: Hans Schneckenburger

Feeling wie im frühen 20. Jahrhundert

Zunächst aber ist es einfach klasse mitzuerleben, wie sich die von Bretterwänden eingezäunte Bühne in der Lokremise in Wil in eine historische Kulisse verwandelt. Junge Frauen tragen Schürzen über ihren langen Röcken, die Män­ner ausgebeulte Hosen und Kappen auf dem Kopf (Kostüme und Maske von Jacqueline Kobler). Sofort stellt sich ein Feeling ein, wie es hätte sein können im frühen 20. Jahrhundert. Da wird ordentlich geschafft, am geschäftigsten sind, wer wohl, die Frauen. Die Männer sind mehr damit beschäftigt, im Clinch um die Macht zu liegen und eins auf Boss zu machen.

Verantwortlich für dieses Feeling sind die insgesamt 17 junge Menschen, die im Laufe der Vorstel­lung auf ganz besondere Weise in ihren Rollen aufgehen. Die einen agieren ganz fein, an­dere setzen ihr kräftiges Organ ein. Ruedi, selbsternannter Oberboss, und Rösli, die rebellisch gegen die Vor­herrschaft der Männer streitet, machen das auf jeden Fall sehr gut. Hannes Sturm und Spenta Ibra­him seien hier stellvertretend für das gesamte junge Ensemble genannt, das mit erstaunlichem Ge­spür diese Menschen und ihr Leben vor mehr als hundert Jahren auf die Bühne bringt.

Regisseurin und Projektleiterin Claudia Rüegsegger hat den Zwölf- bis Achtzehnjährigen für die Uraufführung von „Dureschloh“ zu erstaunlicher Leistung verholfen, die auch die anspruchsvolle Aufgabe einschliesst, mehrere Themen zusammenzuführen: die unterschiedlichen Lebensperspektiven junger Menschen damals und heute, der Kampf um die Gleichberechtigung der Geschlechter. Und dann auch noch das zutiefst menschliche Bedürfnis, sich in der Gemeinschaft sicher fühlen zu können.

Video: Trailer zum Stück

Die Jugendlichen haben eine Fabrikhalle besetzt

Da sieht es im Jahr 1910 ziemlich düster aus. Die Jugendlichen haben eine verlassene Fabrikhalle besetzt, man­che sind von zu Hause abgehauen, manche hat es auf dem Weg in eine Anstellung oder in die Migration hierher verschlagen. Gut geht oder ging es allen nicht in ihrem Elternhaus. Grosse Armut und solche Sachen. Hier haben sie eine Ersatzfamilie gefunden. Bettina Scheiflin­ger, die „Dureschloh“ speziell für das Momoll Theater geschrieben hat, hat spannende Wendungen in ihr Stück eingebaut. Genauso wie Rösli hat auch Köbi seine eige­ne Geschichte, die für Überraschungen sorgt.

Lea und Robin, die Heutigen, müssen keinen Hunger leiden, ihre Nöte und Ängste sehen anders aus. Das Leben heute hat andere Zwänge. Lea will raus aus dem oberflächlichen Leben, ein Abenteuer erleben, für das sie ihr Handy kaputtmachen und falsche Freundschaften aufgeben will, Robin leidet unter dem Leistungsdruck seines Vaters und der Ungeduld seines Chefs. „Dure­schloh“ müssen sich die Jugendlichen damals wie heute.

 

Zu Lea (Anna Bernet, rechts) ist Jessica (Livia Lenherr, links) gestossen, die eigentlich ihre Schwester nach Hause holen will, dann aber fasziniert ist vom Geschehen. Bild: Hans Schneckenburger

Heute heisst die Ungleichheit Gender Pay Gap und Mental Load

So unterschiedlich die Lebensumstände damals und heute erscheinen, werden doch die Parallelen klar. Während die Frauen vor einem Jahrhundert die Männer zu bedienen haben, die sich selbstver­ständlich das grössere Stück Gugelhupf abschneiden, heissen die Ungerechtigkeiten heute Gender Pay Gap, die unterschiedliche Entlohnung von Männern und Frauen, und Mental Load, die Belas­tung von Frauen, weil sie selbst mit Vollzeitjob für den grössten Teil der Sorge-Arbeit in der Familie zuständig sind. Lea muss in Robins Kopf einiges zurechtrücken, als dieser meint, die Frauen heute könnten doch alles machen.

Eine ganz grossartige Sache ist auch das Schattenspiel hoch oben auf der Bühnenrückwand (Choreografie von Amelie Lisa), das einzelne Szenen nachspielt, von denen die Frauen auf der Bühne berichten. Wenn da der Hausherr versucht, die junge Hausangestellte zu küssen, sieht das aus, als ob ein Vampir seine Krallen ausstreckt. Es herrscht Alltagsgewalt. Alles live gespielt. Ebenso überwältigend ist die Schlägerei, als die zwischendurch eingedrungene Mädchengang in der Fabrikhalle die Herrschaft beansprucht. Wie da die Fetzen fliegen, kann sich sehen lassen.

 

Einzelne Szenen werden als Schattenspiel dargestellt. Bild: Hans Schneckenburger

Der rebellische Geist der Frauen

Die Wiler Autorin Scheiflinger hat sehr eingängige Passagen entwickelt, um die Selbstverständlichkeit ins Bild zu setzen, mit denen die Ungleichheit zwischen Mann und Frau gelebt wurde/wird. Bei der Abstimmung, wer nach dem Schlagabtausch das Sagen hat in der Fabrikhalle, scheinen die Männer es für ein Naturgesetz zu halten, dass es (noch) kein weibliches Stimmrecht gibt. Da können sie ja nur lachen, dass die Frauen beanspruchen, mit abzustimmen. Vom rebellischen Geist, den die Frauen am Ende an den Tag legen, könnte man heute noch was abschauen. Dass wir noch über Gender Pay Gab und Mental Load reden müssen, zeigt, wie zäh solche Kämpfe um Gleichheit sind. Die Technik des Bü­geleisens hat jedenfalls im gleichen Zeitraum sichtlich grössere Fortschritte gemacht.

„Dureschloh“ ist ein raffiniert konstruiertes Stück und eine Inszenierung, die der Geschichte mit viel Tempo und umsichtigen Einfühlungsvermögen gerecht wird und die jungen Schauspielenden wunderbar zur Geltung kommen lässt. Nach der Premiere der Uraufführung gabs Standing Ovations vom Publikum.

Es gibt weitere Aufführungen

Das momoll theater spielt „Dureschloh“ nochmal am 20./22. und 23. Mai in der Lokremise in Wil. Beginn ist jeweils um 20:15 Uhr. Tickets gibt es hier.

 

Nachdem die Mädchengang in die Fabrikhalle eingedrungen ist, gehts heftig zur Sache. Bild: Hans Schneckenburger

 

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