von Maria Schorpp, 19.05.2025
Fortschritte mit Fragezeichen

Ein erstaunliches Stück Theater: Das Momoll Jugendtheater Wil spielt die Uraufführung von Bettina Scheiflingers „Dureschloh“ und stellt spannende Fragen. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Kann ganz lustig sein, so eine Zeitreise rückwärts. Im Film treffen dann oft erwachsene Personen auf den eigenen pubertierenden Opa. Und dann die ganzen lustigen Sachen, die es damals gab. Wie dieses komisch geformte Stück Eisen, das Lea in der alten Fabrikhalle findet und gerade noch als Bügeleisen identifizieren kann. Ihrem Filmopa begegnet sie allerdings nicht, sondern jungen Menschen ihres Alters.
Und so lustig wie im Film geht es in „Dureschloh“ des Wiler Momoll Jugendtheaters auch nicht zu. Das macht aber nichts, dafür hat das Stück von Bettina Scheiflinger viel spannendere Fragen auf Lager. Etwa: Sind die Nöte und Ängste junger Menschen heute weniger ernstzunehmen, weil sie wohlstandsmässig besser dran sind? Und sind wir wirklich so viel schlauer als damals im Jahr 1910, das vor Lea und Robin wie ein Film abläuft?

Feeling wie im frühen 20. Jahrhundert
Zunächst aber ist es einfach klasse mitzuerleben, wie sich die von Bretterwänden eingezäunte Bühne in der Lokremise in Wil in eine historische Kulisse verwandelt. Junge Frauen tragen Schürzen über ihren langen Röcken, die Männer ausgebeulte Hosen und Kappen auf dem Kopf (Kostüme und Maske von Jacqueline Kobler). Sofort stellt sich ein Feeling ein, wie es hätte sein können im frühen 20. Jahrhundert. Da wird ordentlich geschafft, am geschäftigsten sind, wer wohl, die Frauen. Die Männer sind mehr damit beschäftigt, im Clinch um die Macht zu liegen und eins auf Boss zu machen.
Verantwortlich für dieses Feeling sind die insgesamt 17 junge Menschen, die im Laufe der Vorstellung auf ganz besondere Weise in ihren Rollen aufgehen. Die einen agieren ganz fein, andere setzen ihr kräftiges Organ ein. Ruedi, selbsternannter Oberboss, und Rösli, die rebellisch gegen die Vorherrschaft der Männer streitet, machen das auf jeden Fall sehr gut. Hannes Sturm und Spenta Ibrahim seien hier stellvertretend für das gesamte junge Ensemble genannt, das mit erstaunlichem Gespür diese Menschen und ihr Leben vor mehr als hundert Jahren auf die Bühne bringt.
Regisseurin und Projektleiterin Claudia Rüegsegger hat den Zwölf- bis Achtzehnjährigen für die Uraufführung von „Dureschloh“ zu erstaunlicher Leistung verholfen, die auch die anspruchsvolle Aufgabe einschliesst, mehrere Themen zusammenzuführen: die unterschiedlichen Lebensperspektiven junger Menschen damals und heute, der Kampf um die Gleichberechtigung der Geschlechter. Und dann auch noch das zutiefst menschliche Bedürfnis, sich in der Gemeinschaft sicher fühlen zu können.
Video: Trailer zum Stück
Die Jugendlichen haben eine Fabrikhalle besetzt
Da sieht es im Jahr 1910 ziemlich düster aus. Die Jugendlichen haben eine verlassene Fabrikhalle besetzt, manche sind von zu Hause abgehauen, manche hat es auf dem Weg in eine Anstellung oder in die Migration hierher verschlagen. Gut geht oder ging es allen nicht in ihrem Elternhaus. Grosse Armut und solche Sachen. Hier haben sie eine Ersatzfamilie gefunden. Bettina Scheiflinger, die „Dureschloh“ speziell für das Momoll Theater geschrieben hat, hat spannende Wendungen in ihr Stück eingebaut. Genauso wie Rösli hat auch Köbi seine eigene Geschichte, die für Überraschungen sorgt.
Lea und Robin, die Heutigen, müssen keinen Hunger leiden, ihre Nöte und Ängste sehen anders aus. Das Leben heute hat andere Zwänge. Lea will raus aus dem oberflächlichen Leben, ein Abenteuer erleben, für das sie ihr Handy kaputtmachen und falsche Freundschaften aufgeben will, Robin leidet unter dem Leistungsdruck seines Vaters und der Ungeduld seines Chefs. „Dureschloh“ müssen sich die Jugendlichen damals wie heute.

Heute heisst die Ungleichheit Gender Pay Gap und Mental Load
So unterschiedlich die Lebensumstände damals und heute erscheinen, werden doch die Parallelen klar. Während die Frauen vor einem Jahrhundert die Männer zu bedienen haben, die sich selbstverständlich das grössere Stück Gugelhupf abschneiden, heissen die Ungerechtigkeiten heute Gender Pay Gap, die unterschiedliche Entlohnung von Männern und Frauen, und Mental Load, die Belastung von Frauen, weil sie selbst mit Vollzeitjob für den grössten Teil der Sorge-Arbeit in der Familie zuständig sind. Lea muss in Robins Kopf einiges zurechtrücken, als dieser meint, die Frauen heute könnten doch alles machen.
Eine ganz grossartige Sache ist auch das Schattenspiel hoch oben auf der Bühnenrückwand (Choreografie von Amelie Lisa), das einzelne Szenen nachspielt, von denen die Frauen auf der Bühne berichten. Wenn da der Hausherr versucht, die junge Hausangestellte zu küssen, sieht das aus, als ob ein Vampir seine Krallen ausstreckt. Es herrscht Alltagsgewalt. Alles live gespielt. Ebenso überwältigend ist die Schlägerei, als die zwischendurch eingedrungene Mädchengang in der Fabrikhalle die Herrschaft beansprucht. Wie da die Fetzen fliegen, kann sich sehen lassen.

Der rebellische Geist der Frauen
Die Wiler Autorin Scheiflinger hat sehr eingängige Passagen entwickelt, um die Selbstverständlichkeit ins Bild zu setzen, mit denen die Ungleichheit zwischen Mann und Frau gelebt wurde/wird. Bei der Abstimmung, wer nach dem Schlagabtausch das Sagen hat in der Fabrikhalle, scheinen die Männer es für ein Naturgesetz zu halten, dass es (noch) kein weibliches Stimmrecht gibt. Da können sie ja nur lachen, dass die Frauen beanspruchen, mit abzustimmen. Vom rebellischen Geist, den die Frauen am Ende an den Tag legen, könnte man heute noch was abschauen. Dass wir noch über Gender Pay Gab und Mental Load reden müssen, zeigt, wie zäh solche Kämpfe um Gleichheit sind. Die Technik des Bügeleisens hat jedenfalls im gleichen Zeitraum sichtlich grössere Fortschritte gemacht.
„Dureschloh“ ist ein raffiniert konstruiertes Stück und eine Inszenierung, die der Geschichte mit viel Tempo und umsichtigen Einfühlungsvermögen gerecht wird und die jungen Schauspielenden wunderbar zur Geltung kommen lässt. Nach der Premiere der Uraufführung gabs Standing Ovations vom Publikum.
Es gibt weitere Aufführungen
Das momoll theater spielt „Dureschloh“ nochmal am 20./22. und 23. Mai in der Lokremise in Wil. Beginn ist jeweils um 20:15 Uhr. Tickets gibt es hier.


Von Maria Schorpp
Weitere Beiträge von Maria Schorpp
- Im Dschungelcamp der Gefühle (28.04.2025)
- Am Anfang war das Haus (21.04.2025)
- Lara Stoll, die Hinterlistige (17.03.2025)
- Romeo, Julia und das richtige Leben (17.02.2025)
- Herr Fässler besiegt die Angst (11.11.2024)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Bühne
Kommt vor in diesen Interessen
- Kritik
- Schauspiel
Dazugehörende Veranstaltungen
Kulturplatz-Einträge
Ähnliche Beiträge
Über die Liebe im Herbst des Lebens
Was wird aus der Liebe, wenn man nicht mehr verliebt ist? Die neue Produktion „Max und Margot verreisen“ zeigt es in der Theaterwerkstatt Gleis 5 auf einfühlsame Weise. mehr
Junge Schauspieltalente gesucht!
Regisseur Florian Rexer sucht für das Theaterprojekt «Die drei Musketiere» jugendliche Schauspielerinnen und Schauspieler. 14 bis 22-jährige können sich jetzt für das Casting bewerben. mehr
Der Garten als Bühne
Das „Festival der Vorgärten“ bringt im Mai Kultur und überraschende Performances in drei verschiedene Thurgauer Quartiere. Los geht es am 10. Mai in Arbon. mehr