30.09.2024
Ist der Kulturjournalismus noch zu retten?
Bei einem Workshop in Bern diskutierte die Branche Anfang September wie es trotz Krise weitergehen könnte. Auch thurgaukultur.ch war vertreten.
Von Bettina Gugger, Anzeiger Region Bern
An einem Workshop von ch-intercultur (Verein für Kulturkritik) und Suisseculture (Dachverband der Organisationen der professionellen Kulturschaffenden der Schweiz und der schweizerischen Urheberrechtsgesellschaften) diskutierten am 5. September Akteure und Akteurinnen aus allen Feldern des Kulturjournalismus aus der Deutschschweiz und der Romandie über die Zukunft der Kulturberichterstattung und mögliche Zukunftsmodelle. Das Onlineprojekt von ch-intercultur soll die unterschiedlichen Bestrebungen einen und für mehr Sichtbarkeit der einzelnen Medien sorgen.
Krisensymptome in der gesamten Schweiz
Der Verein ch-intercultur, präsidiert von Ulrich E. Gut, ging aus dem Schweizer Feuilletondienst (SFD), gegründet 1939 im Zeichen der geistigen Landesverteidigung, hervor. Der SFD belieferte die Schweizer Medien, seit 1993 in Zusammenarbeit mit der Schweizer Nachrichtenagentur Keystone-SDA, kostenlos mit kulturellen Inhalten. 2020 endete die Zusammenarbeit zwischen ch-intercultur und der SDA. Seither arbeitet ch-intercultur an einer neuen Onlineplattform und kämpft für die Verankerung des Kulturjournalismus in der Kulturbotschaft.
In der Romandie entstand vor 85 Jahren parallel zum SFD der Service de Presse Suissse (SPS). Er hat das Ziel, die Schweizer Literatur über die Sprachgrenzen hinweg und über die Landesgrenzen hinaus bekannt zu machen. Das geschieht über das viersprachige Jahrbuch «Viceversa» und die Literaturwebseite viceversaliteratur.ch, welche unter anderem über die grösste Datenbank der in der Schweiz lebenden Autorinnen und Autoren verfügt. Das Bundesamt für Kultur will künftig die Finanzierung des Jahrbuches und der Webseite der Pro Helvetia übertragen. «Die Finanzierung des Jahrbuches 2025 und der Webseite sind im Moment in der Schwebe», so Ruth Gantert, Geschäftsführerin und Redaktionsleiterin von Viceversa Literatur.
In der neuen Kulturbotschaft fehlt der Kulturjournalismus immer noch
Was 80 Jahre lang im Zeichen des nationalen Zusammenhaltes funktioniert hat, die Förderung des Kulturjournalismus durch den Bund, muss heute wiedererkämpft werden. Im Entwurf für die Kulturbotschaft 2025– 2028 wird die Förderung der kulturellen Berichterstattung nicht explizit erwähnt.
In seiner Stellungnahme zum Entwurf schreibt ch-intercultur: «Was auch im vorliegenden Entwurf wieder fehlt, ist die grundsätzliche Einsicht, dass die kulturelle Teilhabe der Bevölkerung auf eine Öffentlichkeit angewiesen ist, die nicht bloss von der Seite der Produzent:innen her publizistisch bearbeitet werden sollte, sondern einen dynamischen Kulturjournalismus beinhaltet, der die Rezipient:innen vertritt.» Diese Vertretung werde von den privaten Medienunternehmen kaum mehr gewährleistet, deshalb müsse kulturjournalistische Arbeit dort gefördert werden, wo sie noch eine Chance habe: im Onlinebereich.
Die Teilnehmer:innen der Konferenz
Um die einzelnen Onlinemedien miteinander zu vernetzten, luden ch-intercultur und Suisseculture zum Workshop «Neue Wege für Kulturjournalismus und Kulturkritik» folgende Akteurinnen und Akteure aus dem Onlinebereich ein: «Akut Mag», «Le Regard Libre», «Viceversa Literatur», Thurgaukultur und das Magazin «FRIDA». Daniel Graf von der «Republik», Julia Stephan von CH-Media und Theresa Beyer von SRF boten einen Einblick in ihre Strategien aus Sicht der generalistischen Medien. Die Studierenden Niklaus Bächli und Samuel Bächli stellten den Teilnehmenden die Welt der Videoessays auf Youtube vor, wo sich die Generation Z ihre kulturellen Inhalte holt.
Sophie Jaussi, Dozentin für Französische Literatur am Institut für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg, zeigte, wie Thomas Hunkeler und sie ihre Studierenden mit praxisorientierten Projekten an den Kulturjournalismus heranführen, beispielsweise durch die Zusammenarbeit mit den Solothurner Literaturtagen oder der Publikation «Livre Suisse».
Fünf Dinge, die Kulturjournalist:innen sofort ändern können (aus dem Text "Wie sich der Kulturjournalismus selbst abschafft" von Michael Lüntroth, erschienen am 19.August 2024 auf thurgaukultur.ch)
Neben strukturellen Neuerungen ist aber auch eine inhaltliche Neuorientierung im Kulturjournalismus zwingend. Notwendig dafür sind zum Beispiel:
1. Mehr Offenheit für neue Formate: Der Kulturjournalismus des 21. Jahrhunderts schafft verschiedene Zugänge zu seinen Themen. Er erzählt multimedial und divers und passt sich so den neuen Nutzungsgewohnheiten des Publikums an, ohne dabei an Tiefe zu verlieren.
2. Mehr Mut: Kulturjournalismus sollte viel häufiger das Instrument der Recherche verwenden, um Zusammenhänge und Kontexte zu erklären. Dazu gehört auch, sich nicht als Teil der Kulturbubble zu verstehen, sondern als konstruktiv-kritischer Begleiter.
3. Mehr Transparenz: Wir Kulturjournalist:innen müssen viel besser erklären, wie wir arbeiten und nach welchen Kriterien wir beispielsweise Rezensionen verfassen. Es geht darum, unser journalistische Selbstverständnis offenzulegen. Das schafft Nähe und Vertrauen. Ein öffentlich einsehbares Redaktionsstatut kann ein Mittel sein, dies zu erreichen.
4. Mehr Dialog, weniger Selbstgewissheit: Die Vorstellung vom über allem thronenden Kritiker:in ist längst überkommen. Wer Kritik übt, muss auch selbst Kritik ertragen können. Deshalb sind Formate gut, die zeigen, das wir uns durchaus auch selbst hinterfragen. Wir haben beispielsweise bei thurgaukultur.ch mit dem innovativen Format der Gegenkritik experimentiert. Hier erhalten Kulturschaffende Gelegenheit auf Rezensionen zu antworten.
5. Mehr Expertise: Vielleicht das Wichtigste - es braucht wieder mehr Kulturjournalist:innen, die wissen, worüber sie schreiben. Der Abbau der Kulturredaktionen hat zu einem massiven Wissensverlust geführt. Das kann man nur stoppen, in dem man Kulturjournalist:innen regelmässig schult. Auch darin, wie man komplizierte Zusammenhänge verständlich erklärt, ohne sie zu plump zu vereinfachen. Es geht auch darum, ein neues Berufsbild zu schaffen: Weg vom Welterklärer, hin zum konstruktiv-kritischen Kulturvermittler.
Weiterlesen: Den ganzen Text gibt es hier.
Das Beispiel thurgaukultur.ch: Förderung durch Lotteriefonds
Dass eine Förderung der kulturellen Berichterstattung durch die öffentliche Hand möglich ist, demonstriert der Kanton Thurgau mit dem Projekt Thurgaukultur.ch, welches Geschäftsführerin Sarah Lüthy, präsentierte. Das Projekt entstand 2009 als Reaktion auf die Diskrepanz zwischen der Professionalisierung der Kulturförderung und der fehlenden Sichtbarkeit des Kulturschaffens. Das Portal verent Agenda, kulturelle Berichterstattung und einen wöchentlichen Newsletter. Das Redaktionsstatut garantiert die inhaltliche Unabhängigkeit.
Organisiert ist Thurgaukultur als Gemeinnützige Aktiengesellschaft mit den beiden Aktionären Kanton Thurgau, dessen Kulturfördergelder aus dem Lotteriefonds stammen, und Kulturstiftung des Kantons Thurgau (die ebenfalls vom Lotteriefonds gespeist wird). Der Lotteriefonds des Kantons Thurgau finanziert das Projekt zu 64 Prozent, knapp 20 Prozent leistet die Kulturstiftung des Kantons Thurgau, der Rest wird durch weitere Stiftungen und Eigenfinanzierung erbracht. Ausserdem stellt Thurgaukultur ihre IT-Infrastruktur anderen Anbietern zur Verfügung.
Eigenkapital und Milizbasis
Das Onlinemagazin «akut», gegründet von Leila Alder, setzt auf Native Advertising, also bezahlte redaktionelle Beiträge. Unter den 14 monatlichen Beiträgen ist laut Alder im Schnitt ein bezahlter Beitrag. Lanciert hat Alder ihr Onlinemagazin mit Eigenkapital. Mit Themen, die in der publizistischen Öffentlichkeit kaum Platz finden, spricht akut ein junges Publikum an. Mittlerweile verfügt «akut» über ca. 200 bis 250 Stellenprozent, beschäftigt 15 Angestellte, die Hälfte davon Freelancer. Monatlich verzeichnet die Webseite 20 000 Unique Users.
Auf Milizbasis beruht die Arbeit der Autorinnen und Autoren von «Le Regard Libre». Das Magazin wurde von Jonas Follonier gegründet, der auch für L’Agefi als Bundeshauskorrespondent arbeitet. Es erscheint sowohl online als auch in Print. «Le Regard Libre» setzt auf die Verbindung zwischen kulturellen und intellektuellen Inhalten und umfasst Politik, Wirtschaft, Geschichte, Philosophie und Kultur, wobei das Magazin nach Querverbindungen sucht und Wissensvertiefung bietet. Finanziert wird «Le Regard Libre» durch Abos, Verkäufe und Stiftungen.
Vielfalt der Berichterstattung
Dass die Kulturberichterstattung in den Publikumsmedien nicht gesondert betrachtet werden darf, sondern integraler Bestandteil sein muss, dafür plädiert Daniel Graf von der Republik. «Es ist unlogisch, Themen gering zu schätzen, die das Menschsein thematisieren», so Graf. Die Onlinezugriffe auf die kulturellen Beiträge seien massiv gestiegen, seit diese auf der Webseite gleichberechtigt neben den anderen Beiträgen stünden.
Die «Republik», 2018 gegründet, wird genossenschaftlich, also durch die Leserschaft finanziert, und zählt heute knapp 27 000 Abonnenten und Abonnentinnen. Ein Crowdfunding ermöglichte den Start; das Gründerteam verfügt über 40,1 Prozent der Aktien, neben externen Geldgebern, die über 18,1 Prozent ausmachen. Auch wenn die Rahmenbedingungen schwierig seien, dürften die Kulturjournalistinnen und Kulturjournalisten ihren Handlungsspielraum nicht unterschätzen, so Graf. Dennoch müsse die Debatte um staatliche Medienförderung geführt werden. Die Krise des Kulturjournalismus sei eine grundsätzliche Medienkrise, so Graf.
Auch für Alex Meszmer, Geschäftsleiter von Suisseculture ist die Finanzierung des Kulturjournalismus Sache der Medienpolitik. Die Medienkrise sei selbst gemacht, auch wenn sie der Kultur in die Schuhe geschoben werde. Er warnt davor, die Kulturberichterstattung an die Kulturförderung zu delegieren. Die Situation der Kulturschaffenden sei bereits prekär.
Bestrebungen bündeln
Der Workshop zeigte die Vielfalt in der der Kulturmedienlandschaft und das unermüdliche Engagement der Kulturjournalistinnen und Kulturjournalisten aller Unkenrufe zum Trotz. Das Pilotprojekt kultur-online von ch-intercultur will in Zusammenarbeit mit der Stiftung We.Publish diese Vielfalt künftig bündeln, um die Reichweite der einzelnen Akteure und Akteurinnen zu erhöhen, wie Nina Graf von der gemeinsamen Arbeitsgruppe ausführte. Auf der Webseite «cültür» soll ein Kulturpool entstehen, auf dem die Medienpartner ihre Inhalte austauschen und verbreiten können. Bajour, Tsüri, Hauptstadt und viele mehr sind bereits Mitglieder von We.Publish.
Im ersten Schritt wird ein Newsletter, der erstmals im Oktober den Unterzeichnenden des Manifestes von ch-intercultur angeboten wird, die wöchentlichen Highlights aus der kulturellen Berichterstattung zusammenfassen. Durch den Verweis auf die Originalquellen bietet er den bislang solitär agierenden Kulturmedien Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit. Angestrebt wird ein schweizweiter Austausch über die Sprachregionen hinweg.
In der Abschlussdiskussion, geleitet von Susanne Sugimoto, Vorstandsmitglied von ch-intercultur, diskutierten die Teilnehmenden mit Interesse die unterschiedlichen Finanzierungsmodelle. Auch wenn Lösungsansätze da sind, sind die freien Onlineportale finanziell nicht auf Rosen gebettet und langfristig auf die Unterstützung von Partnerinnen und Partnern angewiesen. Eine 100-prozentige Eigenfinanzierung sei nicht möglich, sind sich die Teilnehmenden einig.
Dieser Text erschien zuerst im Anzeiger Region Bern.
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