Seite vorlesen

von Maria Schorpp, 13.09.2021

Potenzial für wunderbare Freundschaften

Potenzial für wunderbare Freundschaften
Regina Dürig gewinnt den 1. Weinfelder Buchpreis. | © Weinfelder Buchtage

Bei den 5. Weinfelder Buchtagen wurde zum ersten Mal der Weinfelder Buchpreis vergeben. Die mit 4‘000 Franken dotierte Auszeichnung geht wie das Lesefestival selbst auf die Buchhändlerin Katharina Alder zurück. Regina Dürig wurde im Theaterhaus Weinfelden mit „Federn lassen“ erste Preisträgerin.

Buchhandlungen sind Begegnungsstätten. Auch zwischen Mensch und Mensch, vor allem aber zwischen Mensch und Buch. Im bestmöglichen Fall findet eine Begegnung zwischen zwei sich bislang Unbekannten statt, aus der sich eine wunderbare Freundschaft entwickelt. Genau das war nicht möglich, als aus Pandemiegründen die Buchhandlungen nicht betreten werden durften. Ein Problem für Neuerscheinungen unbekannterer Autorinnen und Autoren, die auf Begegnungen dieser Art angewiesen sind.

Katharina Alder, die Buchhändlerin in Weinfelden, hat aus der Not einer Tugend gemacht. Sie hat den Weinfelder Buchpreis ins Leben gerufen, der in seiner ersten Ausgabe genau jene Literatur ans Licht holt, die, was den Verkauf angeht, ziemlich sicher nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit gefunden hatte.

Jury konnte eigentlich nicht danebenliegen

Nominiert waren fünf Titel von Autorinnen und Autoren, die in der Schweiz ihren Wohnsitz haben. Katharina Alder hat sie mit ihrer ganzen Erfahrung ausgewählt und offensichtlich viel Wert auf die Vielseitigkeit der Literatur gelegt. Die Jury, bestehend aus fünf Studierenden der Uni Zürich, haben Regina Dürigs Buch „Federn lassen“ für den ersten Preis auserkoren. Mit Sicherheit eine richtige Wahl. Nach der Lesung im Theaterhaus Thurgau in Weinfelden konnte man jedoch zur Überzeugung kommen, dass sie gar nicht danebenliegen konnten.

 

Die fünf Nominierten und ihre Werke. | Bild: zVg

 

Regina Dürig: „Federn lassen“

Was die Lesungen der Nominierten betrifft, kann gesagt werden: Alle literarischen Kostproben hatten das Zeug, den Zuhörenden Appetit auf mehr zu machen. Und das obwohl sich die Autorinnen und Autoren nicht vertrauter Formen bedienen, sondern sämtlich Grenzen ausloten, experimentieren, Erwartungen zuwiderlaufen.

Da sass gleich als erste die spätere Preisträgerin Regina Dürig am Lesetisch im Bühnenraum des Theaterhauses, der mit Wohnzimmerteppich und biedermeierlich anmutenden Tischlampe die gehörte Literatur konterkarierte. Eine Novelle nennt sie die kleinen Stücke, in denen sie ohne Punkt und Komma von einem „Du“ berichtet, das ein auf Distanz gebrachtes „Ich“ ist.

„Regina Dürig ist mit „Federn lassen“ eine mutige und feministische Novelle gelungen, die durch ihre aufrüttelnde Gesellschaftskritik zum Nachdenken anregt.“

Jury des 1. Weinfelder Buchpreises

Die Bielerin, eine umfassende Künstlerin, die das Schreiben in Berührung mit Klang und Bildender Kunst bringt, bezieht sich mit jedem ihrer Stücke auf eine Erinnerung an Grenzüberschreitungen, die Spuren hinterlassen haben. Episoden, die etwa von einem in sich gekehrten Kind handeln, das entschlossen ist, seine Welt zu verteidigen, indem es einen ihr aufgedrängten Jungen durch hartnäckiges Zähneputzen vertreibt. Oder dem Kind, das nach dem Vorbild der Mutter den Vater im Büro abholt und fragt, ob ihr Mann da sei. Das ist lustig, vor allem für die Erwachsenen. Die Übergriffe im späteren Leben werden brachialer, bis hin zu tatsächlicher sexueller Gewalt.

 

Regina Dürig am Lesetisch im Bühnenraum des Theaterhauses Thurgau. | Bild: Weinfelder Buchtage

 

Am Ende steht immer eine Stille, die die Menschen gefangen hält. Da ist schockartige Starre, da ist schamvolles Schweigen oder gar Enttäuschtsein von sich selbst. Letzteres in der ersten Episode „Nachtblind“, die einen nächtlichen Gang durch einen Park erinnert, in dem im Dunkeln die Wirklichkeit zu schillern beginnt. Das sind starke Sequenzen, in denen in wenigen nüchternen Sätzen ein ganzer Erinnerungskosmos ersteht.

„Regina Dürig ist mit „Federn lassen“ eine mutige und feministische Novelle gelungen, die durch ihre aufrüttelnde Gesellschaftskritik zum Nachdenken anregt“, so begründen die studentischen Jurymitglieder u.a. ihre Wahl. Wobei es sich stilistisch eher um lyrische Prosa, denn um eine Novelle handelt, wie sie noch anmerken.

Judith Keller: „Oder?“

Leider waren ihre Einführungen akustisch nicht immer gut zu verstehen, was schade war, wenn man ihre fundierten Analysen im Nachhinein liest. Über Judith Kellers Buch „Oder?“ heisst es im Programm sehr zu Recht, es mache sich über den Literaturbetrieb lustig. Er balanciere souverän auf der Grenze zwischen Noveau Roman und Sesamstrasse.

„Ein bisschen veräppelt fühlt man sich da bei der Lektüre schon“, schreiben die Jurorinnen und Juroren. Auf jeden Fall scheint die Autorin aus dem Kanton Schwyz in ihrem ersten Roman nichts ehrwürdig genug zu finden, um es nicht zum Ziel ihres fulminanten Spotts zu machen, ob es sich um Homers Odyssee handelt oder Tennislegende Roger Federer. Angesichts der Zettelwirtschaft, mit der Judith Keller ihre Lesung bestritt, dürften auch hier Zweifel angebracht sein, dass es sich um einen Roman im traditionellen Sinne handelt.

 

Judith Keller. | Bild: Weinfelder Buchtage

 

Seraina Kobler: „Regenschatten“

Auf den satirischen Parforceritt folgte Seraina Koblers Dystopie „Regenschatten“, eine beklemmende Geschichte von einer Welt, die in doppeltem Sinne aus den Fugen geraten ist. Während Anna sich in der Situation wiederfindet, mit ihrer Schwangerschaft allein zu sein, ist es um sie herum so heiss, dass Zürich zu brennen beginnt. Tierkadaver bedecken die Erde, Vögel fallen brennend vom Himmel, Herden von wilden Tieren ergreifen die Flucht.

„Kobler verschränkt gekonnt die Geschichte einer Frau und ihrer Schwangerschaft mit der einer Klimakatastrophe“, bilanziert die Jury.

 

Seraina Kobler. | Bild: Weinfelder Buchtage

 

Anaïs Meier: „Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken“

Und dann kam Anaïs Meier mit ihrem „bunten Sammelsurium“, Kurzgeschichten, die sie mit „Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken“ übertitelt. Wer es für respektlos erachtet, wie sie die Heiligtümer der Schweiz – Berge, Skifahren, Käse – historisch neu einordnet, sollte doch einen gewissen liebevollen Unterton nicht überhören. Meier sei „eine abgeklärte Erzählerin und wache Beobachterin der Schweiz“, befinden die Studierenden.

 

Anaïs Meier. | Bild: Weinfelder Buchtage

 

Vergessen sollte auch nicht werden, dass sich die Autorin in ihrer Rolle als Schriftstellerin, die sich im Künstlercafé gewichtige Gedanken macht, selbst durch den Kakao zieht. Ein grosser, wenn auch nicht immer harmloser Spass.

X Schneeberger: „Neon Pink & Blue“

„In gedrängten Sätzen und dem rastlosen Stil der indirekten Rede zeichnet Schneeberger das flackernde Porträt einer prekär lebenden Hauptfigur“, stellten die Studierenden einleitend vor die Lesung von X Schneeberger fest. Diese Hauptfigur im Buch „Neon Pink & Blue“ stellt sich als Drag Queen mit einer Biografie heraus, die sich nicht in den üblichen Kategorien von binärer Geschlechteridentität und Sexualität festmachen lässt.

Schwer greifbar war der Autor auch als Performer seiner Lesung: Er liess bei der Auswahl der Stellen im Buch, das es 2020 auf die Hotlist der Bücher des Jahres aus unabhängigen Verlagen schaffte, den Zufall sprechen. Das Fragmentarische seines Werks kam dadurch plastisch zum Ausdruck. Für das Publikum nicht einfach, einen Eindruck zu erhalten. Die Jury verspricht ein „beeindruckendes Porträt“ und eine Geschichte, die gleichsam unglaublich und allzu glaubwürdig erscheint“.

 

X Schneeberger. | Bild: Weinfelder Buchtage

 

Dass es Katharina Alder in erster Linie um die Sache – hier: die Texte – geht, merkte man auch an der Preisverleihung, die fast ein bisschen unterging. Das war so sympathisch wie schade, zumal eigens eine kleine Plastik vom Musikinstrumentenbauer Fabian Bächi dazu hergestellt worden war. Der Applaus der Gekommenen war nichtsdestotrotz nachhaltig angesichts dieser erfreulichen Begegnungen zwischen Mensch und Buch.

Kommentare werden geladen...

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Literatur

Kommt vor in diesen Interessen

  • Bericht
  • Belletristik

Werbung

Unsere neue Serie: «Wie wir arbeiten»

Unsere Autor:innen erklären nach welchen Grundsätzen und Kriterien sie arbeiten!

Eine verschleierte Königin

Einblicke ins Leben der Künstlerin Eva Wipf: Hier geht's zu unserer Besprechung der aktuellen Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau.

Fünf Dinge, die den Kulturjournalismus besser machen!

Unser Plädoyer für einen neuen Kulturjournalismus.

Was bedeutet es heute Künstler:in zu sein?

In unserer Serie «Mein Leben als Künstler:in» geben dir acht Thurgauer Kulturschaffende vielfältige Einblicke!

„Der Thurgau ist ein hartes Pflaster!“

Wie ist es im Kanton für junge Musiker:innen? Wir haben mit einigen von ihnen gesprochen!

#Kultursplitter im November/Dezember

Kuratierte Agenda-Tipps aus dem Kulturpool Schweiz.

Kultur für Klein & Gross #22

Unser Newsletter mit den kulturellen Angeboten für Kinder und Familien im Thurgau und den angrenzenden Regionen bis Ende Januar 2025.

15 Jahre Kulturkompass

Jubiläumsstimmen und Informationen rund um unseren Geburtstag.

«Kultur trifft Politik» N°I

Weg, von der klassischen Podiumsdiskussion, hin zum Austausch und zur Begegnung. Bei der ersten Ausgabe am Mittwoch, 27. November geht es um das Thema "Räume".

"Movie Day": jetzt für 2025 bewerben!

Filme für das 12. Jugendfilm Festival können ab sofort angemeldet werden. Einsendeschluss der Kurzfilme für beide Kategorien ist der 31.01.2025

Kulturplatz-Einträge

Veranstaltende

Departement für alles und nichts

8570 Weinfelden

Ähnliche Beiträge

Literatur

Wirklichkeit ist, was du daraus machst!

Michèle Minelli hat ein neues Buch vorgelegt, das schwer aus der Hand zu legen ist. Man will einfach wissen, wie es endet. Wer das noch nicht wissen will, der lese diesen Text nicht bis zum Schluss. mehr

Literatur

Sanfte Radikalität

Die Aargauer Autorin Barbara Schibli stellt ihr zweites Buch vor: «Flimmern im Ohr» erzählt von einer Frau, die mitten im Leben steht und dennoch einen Blick zurück auf ihre wilden Jahre wirft. mehr

Literatur

Familiengeschichte im Zeichen des Kolonialismus

Mit „The White Rasta“ erforschte die Autorin Dominique Haensell ihre Herkunft. Ein Teil des Buches entstand während eines Stipendiums im Literaturhaus Thurgau. Dort liest sie am 24.Oktober daraus. mehr