von Inka Grabowsky, 15.09.2022
Abschied im eigenen Haus
Nach 17 Jahren als Kurator des Kunstraums Kreuzlingen muss Richard Tisserand aus gesundheitlichen Gründen sein Amt abgeben. Zum Abschied hat Reto Müller für ihn eine Ausstellung im Saal an der Bodanstrasse organisiert.
«Wir bieten hier keine Retrospektive», sagt Reto Müller, der Tisserand seit mehreren Jahren als Assistenz-Kurator zur Seite steht. «Es ist so viel Material, dass wir es noch nicht auswerten oder priorisieren konnten. Stattdessen geht es darum, den Gesamt-Werkkörper zu spüren und Tiss würdig zu verabschieden.» Richard Tisserand ist schwer erkrankt. «Es geht bergab», sagt der 74-Jährige, der im Rollstuhl durch die Ausstellung geschoben werden muss.
Reto Müller hat für Richard Tisserand das Atelier in Paris ausgeräumt, ausserdem die Räume in Sainte-Marguerite, Neuhausen und Stein am Rhein. Dabei entstand die Idee für die Ausstellung. «Hier versammelt sich jetzt alles, was nicht bei privaten Besitzern oder in Museen ist. Das älteste Bild datiert aus dem Jahr 1970, das jüngste ist im Februar entstanden», so Tisserand.
«Man soll einen Überblick bekommen», erklärt Reto Müller. «Das impliziert, dass man nicht jedem Werk gerecht werden kann.» Tatsächlich lehnen ganze Stapel von Gemälden an der Wand. Der Kunstraum ist gross, aber nicht gross genug für das Œuvre aus über fünfzig Jahren. Müller hat eine Werkstatt-Atmosphäre geschaffen, in der sich im Laufe der Zeit immer andere Bilder in den Vordergrund drängen werden.
Tisserand als Themenmaler.
Im Augenblick noch halb in einem Stoss verborgen ist ein Gemälde, das für Richard Tisserand emotional wichtig war. «Das ist mein tausendstes Bild», sagt er mit einem Lächeln. «Als ich im Winter 69/70 mit 22 Jahren nach Paris ging, begann ich zu zählen. Und das tausendste wollte ich nie verkaufen.»
Seit 1975 konnte «Tiss» von seiner Kunst leben. «Aber den Kunsthandel wollte ich nicht bereichern. Ich habe für mich gemalt, nicht für die Karriere.»
Seine ersten Werke brachten ihm den Ruf ein, Landschaftsmaler zu sein. «Und tatsächlich ist bei mir die Landschaft immer Teil des Bildes – das zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk.» Was sich verändert habe, sei jeweils das Umfeld gewesen. «In den Siebzigern entstand die grüne Bewegung. In meinen Bildern setze ich mich damit auseinander.» Zehn Jahre habe er sich ganz der Themenmalerei gewidmet. Jedes Bild erzählt eine Geschichte. «Damit hatte ich mir aber auch eine Falle gestellt. Man muss immer so malen, dass die Bilder verstanden werden.» Damals entstanden die emblematischen Tücherbilder, bei denen gestreifte Tücher in einer Landschaft platziert sind. Später stellt er der Natur Architektur gegenüber.
Technisch auf der Höhe der Zeit.
Eindrücke aus der Natur hielt Tisserand gerne auf Polaroids fest. Die Sofortbildkamera faszinierte ihn in ihrer autarken Funktionsweise und der Tiefenwirkung der Fotos. «Es ist ein Apparat zwischen Künstler und Motiv, und er macht, was er will. Das gibt Distanz zum Sujet. Das habe ich gesucht und beibehalten.» Einige Impressionen, die er mit der Polaroid-Kamera eingefangen hatte, liess er auf Meter mal Meter grosse Ciba-Chrome Abzüge vergrössern. Auch sie sind zu sehen.
Tisserand war in Bezug auf Kommunikationstechnologie jeweils auf der Höhe der Zeit. In der Mitte des Kunstraums steht ein i-Mac G4 von 2002 neben einem fünfzig Jahre alten Minitel, dem Vorläufer des Laptops. «Ich habe erst jetzt beim Blick auf die Bild-Inhalte und die Geräte realisiert, in welchen Zeiten er gearbeitet hat», sagt Reto Müller, der selbst erst 1984 geboren ist. Tisserand meint: «Alles, was man hier sieht, entstand aus meinem Erleben. Es ist immer etwas von der Zeit darin. Das Leben breitet sich aus und kommt auf der Leinwand zu Vorschein.»
Hinterglasmalerei
Über die Polaroids kam Tisserand zu seiner Spezialität, der Hinterglasmalerei. «Ich war am Rheinfall und wollte das grüne, schäumende Wasser thematisieren. In Öl bekommt man aber die Tiefe nicht gut hin.» Hinterglasmalerei jedoch imitiere die Tiefenwirkung eines Polaroids. Er hat die Technik langsam perfektioniert. In der Ausstellung sind die postkartengrossen Scheiben zu sehen, mit denen er geübt hat. «Man muss bei der Hinterglasmalerei alles ganz genau planen», sagt er.
«Deshalb habe ich inzwischen das Zeichnen wiederentdeckt. Es gab mir ein Stück Freiheit zurück. Meine Konzentration war zu Beginn meiner Erkrankung schon lädiert. Ich durfte beim Zeichnen anders als bei der Glasmalerei die Pausen machen, die ich brauchte.» Von der minutiösen Konzeption hat er sich ebenfalls verabschiedet: «Wenn man Maler ist, muss man nicht überlegen. Der Kopf stört oft, die Hand weiss es meistens besser.» Den Effekt dieser Arbeitsweise auf den Betrachter beschreibt er so: «Malerei ist immer ein «Versteckisspielen». Wie bei den grossen Gartenbildern an der Stirnseite des Saals: Man lebt mit ihnen über Jahre und plötzlich sieht man etwas, was einem vorher nie aufgefallen ist.»
Tisserand als Kulturförderer
Der Eingangsbereich des Kunstraums stimmt die Besucher auf die Umbruchs-Situation ein. Hier wird Tisserands Wirken jenseits der Malerei angerissen. «Sein umfangreiches kuratorisches Schaffen ist bemerkenswert», so Reto Müller. «Er hat zur heutigen Kulturförderung beigetragen und die lebendige Kunst-Szene im Thurgau massgeblich mitgeprägt.»
Unter anderem darauf wird das Rahmenprogramm mit Salongesprächen eingehen. Und deshalb ergänzt im Tiefparterre eine Video-Schau mit Interviews von Exponenten der Thurgauer Kulturszene die Gemälde-Ausstellung oben. «Kunst persönlich» heisst die Serie, die Jeremias Heppeler im Auftrag der Thurgauischen Kunstgesellschaft begonnen hat und weiter pflegt.
Verwiesen wird im ersten Raum auch auf Tisserands Engagement in der Disziplin «Kunst am Bau». Seine Friese für das Spital in Münsterlingen bezeichnet der Künstler selbst als seine gelungensten Werke: «In Paris sagten wir: Ein Künstler muss nur ein gutes Bild malen, dann hat sich sein Leben erfüllt. Das Entree des Spitals Münsterlingen gehört für mich dazu, auch wenn ich nicht genau sagen kann, warum es so ist.»
Oeuvre complete – Richard Tisserand im Kunstraum Kreuzlingen
16. September bis zum 31. Dezember 2022
Freitags 15 bis 20 Uhr. Samstags und sonntags 13 bis 17 Uhr
Eröffnung am 16. September 2022, ab 18 Uhr
Im Rahmenprogramm sind Salongespräche geplant. Termine über kunstraum kreuzlingen. Für den Dezember ist die Uraufführung eines Musikstücks vorgesehen, das der Kreuzlinger Komponist Ulrich Gasser zu einem Bild geschaffen hat.
Buchvernissage «Mer et Falaises
von Richard Tisserand und Sybille Omlin im Rahmen der Museumsnacht Hegau-Schaffhausen:
Samstag, 17. September, 17.00 bis 22.00 Uhr
Atelier Tisserand im SIG-Areal, Mittelbau, Neuhausen.
Lesung und Gespräch mit Sibylle Omlin um 18.00 und 20.00 Uhr
Nachfolge
Noch bis zum 15. Oktober können sich bei der Kunstgesellschaft Thurgau sekretariat@kunstgesellschaft-tg.ch
Bewerber melden, die in die grossen Fussstapfen von Richard Tisserand als Kurator des Kunstraums Kreuzlingen treten wollen.
Hier geht es zur Ausschreibung.
Von Inka Grabowsky
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