von Inka Grabowsky, 01.04.2025
Zwei Hundertjährige, die ausstiegen und malten

Die Künstler Anton Bernhardsgrütter und Johannes Diem begegnen sich posthum im Kreuzlinger Museum Rosenegg. Sie haben viel mehr gemein als ihr Alter. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Bunt geht es zu in der Sonderausstellung im Museum Rosenegg. Kräftige Farben hat sowohl Johannes Diem für seine Naturbilder genutzt als auch Anton Bernhardsgrütter für seine Gemälde von Prozessionen, Artisten oder Gartenmotiven. Doch idyllisch sind die rund siebzig ausgestellten Werke nur auf den ersten Blick.
Das Museum Rosenegg hat die Schau unter das Motto «Fürchterlich schöne Welt» gestellt – ein Zitat von Anton Bernhardsgrütter: «Da ich weder für die Kunstgeschichte arbeite, mich nicht nach Kunstkritikern zu richten habe, noch zur Avantgarde gehöre, kann ich tun, was mich bewegt: Abschied nehmen aus einer fürchterlich schönen Welt.»
Museumsleiter David Bruder sagt: «Wir fanden, dass es in seiner Ambivalenz sehr gut zu beiden Künstlern passt. Bei Bernhardsgrütter wird die vermeintliche Idylle immer wieder getrübt durch Gewaltszenen. Bei Diem ist offensichtlich, dass die Natur, so wie er sie darstellt, längst gefährdet ist durch den Menschen, so dass man um sie fürchten muss.»

Der Lehrer kommt nicht mehr
Bernhardsgrütter war ein beliebter Lehrer in Kreuzlingen. «Es heisst, einige Leute seien extra umgezogen, damit die Kinder bei ihm in Emmishofen in die Schule gehen konnten», so Bruder, «aber am 20. Oktober 1973 nach mehr als zwanzig Jahren im Beruf verschwand er einfach und ging auf Reisen. Erst 14 Tage später meldete er sich wieder bei seiner Familie.» Offenkundig reichte es dem Künstler nicht mehr, nur nach Feierabend oder am Wochenende zu malen.
Einen äusseren Anlass gab es für den Aufbruch. Das grossformatige Gemälde «Zug der Artisten» wurde von der Schulgemeinde Frauenfeld angekauft. Der Maler erkannte also, dass er auch von seiner Kunst leben konnte und nicht unbedingt auf das Lehrergehalt angewiesen war. «Es war eine innere Not», sagt die Kuratorin Dolores Claros-Salinas. «Er hat das auch schriftlich dokumentiert. Es nötigt einem durchaus Respekt ab.»
Künstlerisch verarbeitet hat Bernhardsgrütter den inneren Zwiespalt unter anderem im Bild «Was nun, Anton B.», das im Obergeschoss der Rosenegg zu sehen ist.

Der Coiffeur macht dicht
Diems Leben verlief noch etwas wechselvoller. Er wurde unehelich als Hermann Metzger geboren, wuchs in Heimen der Heilsarmee auf und erst als 4- oder 5-Jähriger von der Familie Diem adoptiert. «Er wurde als junger Mann Coiffeur und war damit auch sehr erfolgreich», erzählt David Bruder. «Sein Salon in Zürich war in bester Lage. Seiner Frau hat es eindeutig nicht gefallen, dass er sich plötzlich entschloss, nach Ermatingen aufs Land zu ziehen und dort Maler zu werden.»
Ein Mäzen hatte ihm den Einstieg in das Abenteuer ermöglicht. «Alle zwei Jahre machte er eine Ausstellung, bei der viele Werke schon vorab verkauft waren», erklärt der Museumsleiter. «Da er sehr bescheiden lebte, reichte ihm das Einkommen als Künstler.»
Mehr als «Naive Kunst»
«Es hat naive Elemente im Werk von Diem, aber dieses Etikett genügt nicht, um seine Arbeiten zu erfassen», so Bruder. Er verweist auf das «Libellenleben», das neben der «Blumenwiese» zu den Prunkstücken der Ausstellung gehört. Claros-Salinas ergänzt: «Es zeigt wissenschaftlich exakt die Metamorphose der Insekten, von der Eiablage bis zum Hochzeitsflug. Es ist beeindruckend in seiner Qualität.»
Ausserdem ist es sehr gross und sehr schwer. Die Leihgabe aus einem Schulhaus passte kaum durch die Tür, und sie wiegt so viel, dass sich nicht aufgehängt werden konnte, sondern an der Wand lehnt. «Nun hat man den Eindruck, man könne in den Schilfgürtel hineinlaufen», lacht Bruder.

Stilistisch viele Unterschiede
So parallel die beiden Leben der Maler auch verliefen, so unterschiedlich ist ihre künstlerische Position, wenn man sie im Detail betrachtet. Die beiden Gleichaltrigen lebten nicht weit voneinander entfernt. Von einem Austausch ist aber nichts bekannt. Im Museum jedoch begegnen sich nun ihre Werke und erlauben Vergleiche. Bei Diem findet sich etwa immer wieder eine Libelle oder ein Frosch, fast nie eine menschliche Figur. «Menschen waren nicht gerade seine Stärke», sagt Bruder diplomatisch.
Ganz anders bei Bernhardsgrütter. Oft erkennt man oft ihn selbst als Figur im Bild. Seine charakteristische Frisur mit Haarinsel auf der hohen Stirn macht das Erkennen leicht. Auch die Mutter kommt immer wieder vor. Sogar bei vermeintlich harmlosen Blumenbildern gibt es eine persönliche Hintergrundgeschichte.
«Wir haben eine Seidelbast-Hypothese aufgestellt», sagt Dolores Claros-Salinas. «Der blühende Strauch ist häufig ein Motiv. Botanisch heisst er ‹Daphne›. Und das bringt uns zur griechischen Mythologie. Daphne wird zu einem Lorbeerbaum verwandelt, damit sie Apollon nicht vergewaltigen kann. Möglicherweise war auch Bernhardsgrütter in eine junge Frau verliebt, die er nicht erreichen konnte.»
Anekdoten geben ein Bild
Seit dem Sommer 2024 haben David Bruder und Dolores Claros-Salinas von der Kunstkommission als Ausstellungskuratorin recherchiert. «In Thurgauer Haushalten befinden sich Schätze von den Malern, die nie ausgestellt worden sind», so Claros-Salinas. «Zu zeigen, was man sonst nicht sieht, war unser Anliegen.»
Doch gleichzeitig gab es bei den Gesprächen mit Leihgebern die Chance Zeitzeugen zu befragen, die den 2010 verstorbenen Diem und den 2015 verstorbene Bernhardsgrütter persönlich kannten. Eine ehemalige Referendarin berichtet etwa, dass Bernhardsgrütter sich Anfang der siebziger Jahre als ihr Ausbilder elegant aus dem Staub gemacht hätte.
Bruder fasst zusammen: «Am Montag hatte sie ihm beim Unterrichten zugeschaut. Am Dienstag übernahm sie unter seiner Aufsicht die Klasse. Am Mittwoch ging er ins Atelier. Am Freitag überreichte er ihr eine Radierung, die er in der Zwischenzeit angefertigt hatte.»

Neues Wissen zusammengetragen
Durch die Recherche seien die beiden Persönlichkeiten für die Ausstellungsmacher lebendig geworden, sagt Bruder. «Wir konnten auch Lücken den biografischen Daten füllen.» Tatsächlich war nur das Leben von Bernhardsgrütter in einer Monografie vom Kunstverein Frauenfeld aus dem Jahr 1995 dokumentiert. Hilfreich waren Videos über die Künstler von Bodensee-TV, die nun auch in der Rosenegg zu sehen sind.
Bernhardsgrütters panoptische Tagebücher, die er seit 1973 akribisch füllte, sind noch nicht wissenschaftlich ausgewertet. Dass sich das lohnen würde, zeigt die Ausstellung eines Exemplars im Altbau. Darin befindet sich eine Skizze von Daphne als Lorbeerbaum. Die oben erwähnte Seidelbast-Hypothese wird also untermauert.
Biografie hilft beim Entschlüsseln
«Natürlich kann man die Bilder auch ohne Hintergrundwissen geniessen», meint der Museumsleiter. «Aber wenn man weiss, dass in der Jugend von Bernhardsgrütter ein Mord an einem jungen Mädchen geschah, der nie aufgeklärt wurde, versteht man besser, warum sich dieses Motiv so oft in seinen Gemälden findet.» Das idyllische Bild vom Landleben wird gebrochen, wenn im Hintergrund ein Mann mit einem Messer auf eine Frau losgeht.
«Einige Bilder von Bernhardsgrütter erinnern mich an Wimmelbilder. Je mehr man weiss, desto mehr symbolische Ebenen entdeckt man.» Die innere Zerrissenheit des Künstlers, exemplarisch gegenübergestellt in seinen Bildern einer katholischen Prozession und dem Einzug einer Artistentruppe in die Stadt, beruhe in seiner Verwurzelung im ländlichen Thurgau und dem Wunsch nach Aufbruch in die weite Welt.

Die Ausstellung & das Rahmenprogramm
«Fürchterlich schöne Welt» vom 29. März 2025 bis zum 23. November im Kreuzlinger Museum Rosenegg
Öffentliche Führungen
Sa, 5.4., 10.5., 30.8. (Roseneggfest), 15 Uhr
Sa, 8.11., 21 Uhr (Kunstnacht)
Wandelkonzerte: Bilder einer Ausstellung
Sa, 26.4., 15 Uhr: Martin Stadler (Blockflöte)
Sa, 20.9., 15 Uhr: Yvonne Brühwiler (Querflöte)
Znacht im Rosenegg
Do, 12.6., 19 Uhr: Führung und sommerliche Suppe
Do, 23.10., 19 Uhr: Führung und herbstliche Suppe
Vorträge
Di, 24.6., 19 Uhr: Kunst im Ausnahmezustand, Dr. Monika Jagfeld, Leiterin open art museum (SG)
Do, 18.9., 19 Uhr: Ein Künstler schreibt, Markus Landert,1992–2023 Direktor Kunstmuseum Thurgau
Gespräch
So, 9.11., 11 Uhr: Künstlertöchter.
Bettina Diem und Cornelia Fassbind (-Bernhardsgrütter)
Finissage: So, 23.11., 17 Uhr. Führung und Apéro

Von Inka Grabowsky
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