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von Maria Schorpp, 19.04.2021

Verfickte Gefühle

Verfickte Gefühle
Wie soll man nur all diese chaotischen Gefühle in den Griff bekommen? Luca (Clemens Oplatka) in dem Stück «Never have i ever» von Leonie Moser. | © Veronika Zeis

Im Theaterhaus Thurgau in Weinfelden wird die Uraufführung von Léonie Mosers Stück „Never have I ever“ via Livestream gespielt. Es schaut Menschen beim Erwachsenwerden zu und streut Zweifel, ob das Erwachsensein der bessere Zustand ist. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

Never have I ever – Ich habe noch nie. Eigentlich müssten nach diesem Halbsatz drei Pünktchen kommen. Ich habe noch nie … jemanden geküsst, mit jemandem geschlafen, gekifft. Solche Sachen. Liv macht sich eine Liste der Dinge, die sie noch nie gemacht hat und die nach ihrer Meinung dazugehören zu – was eigentlich?

Konsequent, wie sie ist, strengt sie sich an, die einzelnen Punkte abzuarbeiten. Die anderen finden das komisch bis bescheuert, aber, wenn sie ehrlich sind, müssen sie zugeben, dass was dran ist an der To-Do-Liste. Irgendwie kämpfen sie alle mit diesen Sachen, diesem Standardrepertoire, was so vom Leben erwartet wird.

Alles ist möglich in dieser Zwischenwelt

Dabei haben sie noch gar nicht so richtig Bezug dazu, zu solchen Eindeutigkeiten. Liv (Evelyne Kübler), Elli (Lena Häusler), Alice (Veronika Zeis), Marco (Stefan Vasic) und Luca (Clemens Oplatka) sind noch viel zu sehr damit beschäftigt, ihre chaotischen Gefühle in den Griff zu bekommen, um so etwas wie zum Beispiel eine Zweierbeziehung hinzukriegen. Alles Muster der Alten, denen sie mehr schlecht als recht folgen.

Marco ist in Elli verliebt, obwohl er eindeutige Zeichen der Eifersucht sendet, als ihm Liv sagt, dass sie mit Luca schlafen wird. Und umgekehrt scheint es Liv auch nicht ganz egal zu sein, dass ihr Vertrauensmensch mit einer anderen zusammen ist. Eigentlich ist alles möglich in dieser Zwischenwelt zwischen jugendlichem Ausprobieren und der Konformität der Eltern.

Die Thurgauer Autorin Léonie Moser hat in ihrem zweiten Theaterstück „Never have I ever“ mit viel Fingerspitzengefühl diese so schwierige wie wichtige Zeit eingefangen, in der übergestülpte Gewissheiten und durchgetaktete Tagesabläufe die Sinnfragen noch nicht zugedeckt haben. Warum zum Beispiel dieser Optimierungswahn? „Wir müssen mehr sein. Wir müssen mehr sein, als wir sind“ lässt Léonie Moser ihre jungen ProtagonistInnen im Chor gegen die Anspruchshaltung der Eltern skandieren. Als ob deren Leben so perfekt wären.

Luca (Clemens Oplatka) und Liv (Evelyne Kübler) nehmen sich vor, miteinander zu schlafen. Bild: Veronika Zeis

Undurchdringliches familiäres Schweigen

In Wirklichkeit haben die fünf schon genug damit zu tun, die Baustellen ihrer Erzeuger auszuhalten. Bei Marco ist die Mutter von heute auf morgen verschwunden und hat ihn mit seinem überforderten Vater zurückgelassen. Luca soll an die Uni und Karriere machen, obwohl er eigentlich andere Vorstellungen davon hat, was er gern tun würde. Überhaupt herrscht allenthalben ein undurchdringliches familiäres Schweigen, gegenseitiges Unverständnis, das Elli in die Verzweiflung getrieben hat. Sie ritzt sich, um irgendwie noch Verbindung zu sich selbst zu halten.

Die jungen Darstellenden im Theaterhaus Thurgau spielen diese „verfickten Gefühle“ erstaunlich versiert und emotional sehr glaubwürdig aus. Léonie Moser, die auch Regie führt, lässt ihnen Zeit sich auszudrücken. Da geht es nicht um eine vorübergehende Phase, in der die Hormone durchdrehen, sondern um einen existenziell prägenden Lebensabschnitt, der mit den üblichen Nickligkeiten wie Instagram und Co nicht gerade einfacher wird.

Der Stream zeigt auch: Theater braucht Präsenz

Die Wirkkraft der Gemeinschaftsproduktion der jungen Theatergruppe mit dem Theaterhaus Thurgau ist umso bemerkenswerter, als die Uraufführung des Jugendstücks bislang nur als Live-Stream geschaut werden konnte. Pandemiebedingt durfte (noch) kein Publikum in den Theatersaal. Dass es dennoch Abstriche im Atmosphärischen gibt, muss eigentlich nicht eigens erwähnt werden.

Der Live-Stream konnte übrigens bei der Premiere erst mit vierzigminütiger Verspätung beginnen, was positiv gewendet belegt, dass wir noch weit davon entfernt sind, ins Digitale abzudriften.

Marco (Stefan Vasic) und Alice (Veronika Zeis) in alter Verbundenheit. Bild: Veronika Zeis

Mitten reingefasst in das Leben der Mädchen und Jungs

Léonie Moser, selbst erst 22 Jahre alt, hat mitten reingefasst in das Leben der Mädchen und Jungs mit all den Unsicherheiten und Nöten, mit denen – eingezwängt in ihre Ein-Person-Kästen (Bühne von Martin Stapfer) – sie von einer zu Empathie unfähigen Erwachsenenwelt alleingelassen werden.

In solch einer sensiblen Phase kann einem wie Elli durchaus auch bewusstwerden, was für Wichtigtuer die Menschen sind angesichts der Weiten des Sternenhimmels. Reichlich Drama liefert Alice, die eine Zeitlang Arrest hatte, weil sie einen Stuhl nach dem Biolehrer geworfen hat. Wie sich rausstellt, war das Alices Gegenwehr gegen dessen sexuelle Übergriffe.

Ein bisschen viel Drama für einen Abend

Die Autorin Moser hat sicher das eine oder andere Fass zu viel aufgemacht, um die Situation der jungen Leute richtig drastisch ins Licht zu setzen. Alice ist in ihrer Widerständigkeit und Experimentierfreude aber auf jeden Fall ein dramaturgischer Zugewinn.

Letztlich ist sie es, die die Gruppe mit den Verletzungen des Erwachsenenlebens bekannt macht – und mit persönlichem Versagen. Ein Happy End sieht jedenfalls anders aus.

Weitere Vorstellungen (im Theater): 29. April, 30. April, 1. Mai 2021, jeweils um 20.15 Uhr. Tickets gibt es über die Website des Theaterhaus Thurgau.

Video: Trailer zur Inszenierung

 

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