Seite vorlesen

von Jochen Kelter, 21.12.2020

Am Scheideweg

Am Scheideweg
Welcher Weg ist der richtige? Der Dichter Jochen Kelter zweifelt an dem von der Kulturstiftung eingeschlagenen neuen Weg. | © Canva

Die Kulturstiftung des Kantons Thurgau lanciert eine neues Format der Kulturförderung. Warum das keine gute Idee ist. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

Die Kulturstiftung des Kantons Thurgau kann im nächsten Jahr auf dreissig Jahre Existenz in ihrer heutigen Form zurückblicken.  Dass man da auf die Idee kommt, das Bisherige zu evaluieren und Neues auszuprobieren, liegt  eigentlich nah. Drei bisherige Förderungsinstrumente soll es zukünftig nicht mehr geben:

Erstens: Die alle drei Jahre stattfindende Werkschau Thurgauer Künstler (die erste fand 2013, die nun wohl letzte 2019 statt). Auf solche Ausstellungen, die ja häufig Allerweltscharakter haben, kann wohl verzichtet werden, stünde ein adäquates neues Instrument der Kunstförderung zur Verfügung. Zweitens: Tanz. Der Tanz und mit ihm seine Förderung haben sich hierzulande von Beginn an schwergetan. Vielleicht müsste zu seiner Förderung ein grösserer regionaler Rahmen gefunden werden. Drittens: Die Frauenfelder Lyriktage. Sie gehörten seit Gründung der Kulturstiftung zu den national ausstrahlenden  „Leuchttürmen“ der Stiftung.  Sie waren das erste internationale Poesiefestival der Schweiz (der Autor zählte damals zu den Gründern des Festivals, d. Red.) überhaupt und stiessen auf grosse mediale und Publikumsresonanz.

Fatales Zeichen: Streichung der Lyriktage

Die liess mit den Jahren nach, weil Literaturtage und Festivals allüberall und noch im letzten Krachen wie Pilze aus dem Boden schossen. Man ersetzte die Leitung, strich den alternativ stattfinden Übersetzungsworkshop „Poeten übersetzen Poeten“ und setzte fortan ausschliesslich auf regionale deutschsprachige Lyrik.

Damit wurde das Problem indessen nicht behoben, im Gegenteil. Die Streichung der Lyriktage ist in einer Zeit, in der es seriöse Literatur und vorab Gedichte schwer haben, ein fatales Zeichen. Meine Meinung: Man hätte sich konsequent (aber durchaus mit Änderungen) auf die Ursprünge der Lyriktage zurückbesinnen sollen.

Zählte zu den Höhepunkten der vergangenen Lyriktage: Performance von Nicole Bachmann, die Grenzen auflöste und hinterfragte. Bild: Caroline Minjolle

Zu viel Spektakel, zu wenig Kunst

An die Stelle der genannten Formate soll also nun ein „Ratartouille“ genanntes Veranstaltungsformat treten. Das ist nicht so neu (und originell) wie es klingen soll. Auch andernorts wird auf Spartenübergreifendes gesetzt. Vor allem: Es wird überall auf Veranstaltungen  abgehoben, auf Spektakel und „Performance“, nicht aber auf die Schöpfung und Entstehung von neuen Kunstwerken aller Art. 

„Ansätze“, die „Kunst, Musik, Tanz, Literatur miteinander verbinden“ , sollen gefördert werden. Die Branche scheint ganz versessen auf Aufführungen und Darbietungen, aber nicht auf die meist im stillen Kämmerlein stattfindenden  Entstehungsprozesse dahinter . Dabei ist es doch ganz einfach: bevor bildende Kunst und Tanz, Literatur und Musik sich (vielleicht) miteinander verbinden, müssen sie zuerst entstehen.

Es wird nicht gekleckert

Darauf, dass in der Verballhornung des französischen Gemüsegerichts auch noch das Wort „Art“ steckt, muss man erst einmal kommen. „Ratartouille“ kommt mir vor wie die schöne französische Redensart, die ins Deutsche übersetzt etwa lauten würde: Egal was, Hauptsache mit System präsentiert. Und die Durchführung des Projekts hat bereits System.

Ende Mai 2021 „wählt“ eine Jury aus fünf Experten „maximal drei Bewerbungen aus“. Alleine für diese erste Phase der Ausarbeitung der Projekte stehen je 5'000 Franken zur Verfügung (für diese Summe könnte ein/e Autor/in, ein/e Musiker/in oder Künstlerin einen Monat oder länger an einem Werkarbeiten). Für das erwählte Projekt werden dann 100'000 Franken zur Verfügung stehen. Da wird nicht gekleckert.

Populistisch und pseudodemokratisch

Anfang Juli soll dann über den endgültigen Preisträger entschieden werden. Und zwar durch das Publikum, das heisst, jeden und jede, die oder der teilnehmen möchte. Das scheint mir eine populistische und anbiedernd  pseudodemokratische Veranstaltung zu werden. Wofür hat denn die Kulturstiftung vorher ein Gremium von fünf Experten/innen eingesetzt (und bezahlt?).

Das neue Projekt der Kulturstiftung liegt im zeitgeistigen Trend. Performance statt Produktion. Oberfläche statt Tiefgang. Woher sollen denn die Aufführungen kommen, wenn nicht von vorher Erarbeitetem und Geschaffenem?

Lieber Networking statt Kunstwerke

Dazu fällt mir zum Schluss eine Anekdote ein. Als ich vor zwei oder drei Jahren die vorherige Leiterin der Kulturstiftung fragte, ob man das von ihr aus der Taufe gehobene, gut dotierte Künstlerstipendium in Belgrad (!) nicht vielleicht von sechs Monate auf vielleicht zwei oder drei Monate beschränken könne – ich kenne zwar Belgrad, könne mir aber einen so langen Aufenthalt weder vorstellen noch leisten - , lautete die Antwort, die Künstler/innen müssten erst einmal eine Zeitlang dort „networken“. Und ich hatte mir wirklich eingebildet, sie würden dort an einem Werk arbeiten und nicht an ihm networken.

Aber: Welche Künstlerin, welcher Autor hat es denn in der Vergangenheit ganz ohne öffentliche Förderung etwa nicht geschafft, bei Bedarf für die Vertonung eines Texts, den Text für eine Musik eine/n Partner/in zu finden?

 

Pro & Contra

Wir beleuchten das Thema in einem Pro und Contra. Während Jochen Kelter die Neuausrichtung eher skeptisch betrachet, sieht Michael Lünstroth vor allem die Chancen. Seinen Beitrag «Ein kluges Wagnis» könnt ihr hier lesen.

 

Mehr davon: Die Details zum Projekt Ratartouille und alle Ausschreibungsformalitäten haben wir hier für euch zusammengefasst.

Transparenz-Hinweis: Die Kulturstiftung des Kantons Thurgau ist eine von zwei AktionärInnen der gemeinnützigen Thurgau Kultur AG, die thurgaukultur.ch betreibt. Alle Details zur Struktur und Finanzierung von thurgaukultur.ch findet ihr hier.

 


 

 

 

 

 

Kommentare werden geladen...

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Kulturpolitik

Kommt vor in diesen Interessen

  • Kulturförderung

Ist Teil dieser Dossiers

Werbung

Unsere neue Serie: «Wie wir arbeiten»

Unsere Autor:innen erklären nach welchen Grundsätzen und Kriterien sie arbeiten!

„Der Thurgau ist ein hartes Pflaster!“

Wie ist es im Kanton für junge Musiker:innen? Wir haben mit einigen von ihnen gesprochen!

Was bedeutet es heute Künstler:in zu sein?

In unserer Serie «Mein Leben als Künstler:in» geben dir acht Thurgauer Kulturschaffende vielfältige Einblicke!

Fünf Dinge, die den Kulturjournalismus besser machen!

Unser Plädoyer für einen neuen Kulturjournalismus.

Eine verschleierte Königin

Einblicke ins Leben der Künstlerin Eva Wipf: Hier geht's zu unserer Besprechung der aktuellen Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau.

Kultur für Klein & Gross #22

Unser Newsletter mit den kulturellen Angeboten für Kinder und Familien im Thurgau und den angrenzenden Regionen bis Ende Januar 2025.

#Kultursplitter im November/Dezember

Kuratierte Agenda-Tipps aus dem Kulturpool Schweiz.

15 Jahre Kulturkompass

Jubiläumsstimmen und Informationen rund um unseren Geburtstag.

«Kultur trifft Politik» N°I

Weg, von der klassischen Podiumsdiskussion, hin zum Austausch und zur Begegnung. Bei der ersten Ausgabe am Mittwoch, 27. November geht es um das Thema "Räume".

"Movie Day": jetzt für 2025 bewerben!

Filme für das 12. Jugendfilm Festival können ab sofort angemeldet werden. Einsendeschluss der Kurzfilme für beide Kategorien ist der 31.01.2025

Ähnliche Beiträge

Kulturpolitik

Ohne Raum bleibt alles nur ein Traum

Vor welchen Herausforderungen steht Gemeinschaft heute? Und wie kann Kultur Gemeinschaft stiften? Diesen Fragen gaben den Impuls zur dritten Thurgauer Kulturkonferenz. mehr

Kulturpolitik

Was hält uns zusammen?

Die dritte Thurgauer Kulturkonferenz begibt sich auf die Suche nach Zukunftsmodellen für unser Zusammenleben. Die grosse Frage dabei: Welche Rolle kann Kultur in Gemeinschaften spielen? mehr

Kulturpolitik

«Falsch gespart»: Kritik am Sanierungs-Stopp

Pro Infirmis kritisiert den Entscheid des Regierungsrats, das Schloss Frauenfeld vorerst nicht barrierefrei zu machen. Damit würden Menschen mit Behinderung vom Historischen Museum ausgeschlossen. mehr