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von Samantha Zaugg, 21.01.2021

Der Platz im Leben

Der Platz im Leben
Auf der Suche nach ihrem Platz im Leben: Alessandra, Titelfigur des Dokumentarfilms «Ale» von O'Neil Bürgi | © Filmstill

«Ale» ist ein sensibles Portrait über eine junge Frau und eine Hommage ans Leben mit all seinen Tücken. Der neue Dokumentarfilm des Frauenfelder Regisseurs O’Neil Bürgi feiert Schweizer Premiere an den Filmtagen in Solothurn. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Der Film ist mutig, schneidet die ganz grossen Themen im Leben an. Erwachsenwerden, Bildung, Arbeit, Feminismus, Beziehung, Herkunft, Rassismus. Und schliesslich geht es auch darum, dass im Leben manchmal alles ganz anders kommt, als man es geplant hat.

Wichtig für den Film ist ein abenteuerlicher Plotwist, der das Leben von Alessandra, der Hauptfigur des Filmes, auf den Kopf stellt. Doch dazu später mehr. Zuerst zum Regisseur. Denn auch für O’Neil Bürgi kam alles anders als geplant. Eigentlich wollte er nur einen Kurzfilm über Wrestling drehen.

«Als Teenager war ich selbst Wrestling-Fan. Heute nicht mehr unbedingt, aber ich habe ein gewisses Grundinteresse für den Sport behalten», sagt Regisseur O’Neil Bürgi. «Wrestling ist eine eigene bizarre, fast märchenhafte Welt. Ich wollte schon immer einen Film machen, der in dieser Welt spielt.»

Video: Trailer zum Film

Sich selbst erfinden

Das fantastische an Wrestling ist, dass es um mehr als nur den Sport geht. Mindestens so wichtig ist die Show. Die Kämpfe sind nicht echt, sondern inszeniert – was sie übrigens nicht minder anstrengend macht, wie die Aufnahmen aus dem Training zeigen.

Die Wrestlerinnen und Wrestler kreieren einen eigenen Charakter, den sie im Ring verkörpern. Dieser «Gimmick» ist ein Gesamtkunstwerk aus Name, Outfit, Charaktereigenschaften und Musik.

Wer ist die Ringfigur? Wie verhält sie sich? Wie spricht sie,  wie bewegt sie sich? All das schaffen die Wrestlerinnen und Wrestler. Sie haben Kontrolle darüber, wie sie wahrgenommen werden, können ihren Charakter nach Belieben formen.

Zwischen Fiktion und Wirklichkeit

Wer bin ich? Oder wer will ich sein in einer fiktionalen Welt? Und wie viel davon übernehme ich in einer realen Welt? Diese Themen will Bürgi in seinem Film erforschen. Durch einen Zeitungsbericht erfährt er von der Wrestlingschule in Rorbas. Er fährt hin und ist begeistert.

«Da ist diese alte Weberei. Auf dem Dachboden steht der riesige selbstgebaute Wrestlingring. Das hat mich visuell angezogen, ich habe sofort ein dokumentarisches Narrativ gesehen. Das Sujet war klar, ich musste nur noch die Geschichte finden.» Und da kommt Alessandra ins Spiel.

Beim Wrestling-Training geht es nicht nur um Kraft und Kondition, Bewegungsabläufe werden wie Choreografien einstudiert. Bild: Filmstill

Eine Frau auf der Suche

Thomas Heri, der Leiter der Wrestlingschule, vermittelt Kontakte. Bürgi spricht mit einigen Wrestling-SchülerInnen. Mit Alessandra hätte es gleich bei den ersten Gesprächen eine Bindung gegeben. «Ich habe gemerkt, dass Alessandra eine junge Frau ist, in deren Innern viel vorgeht. Eine Frau, die ihren Platz im Leben sucht.»

Alessandra ist noch neu in der Wrestlingschule. Im Training gibt sie alles. Sie macht Liegestütze, Beinarbeit, rennt Runden, schleppt Reifen, rennt das Treppenhaus hoch und runter. Schliesslich wird sie in der Gruppe aufgenommen, findet in ihren Wrestling-Kollegen so etwas wie die Familie, die ihr oft gefehlt hat.

Flucht vor der realen Welt

Sie beginnt sich auf einen Showkampf vorzubereiten, arbeitet an ihrem Ringcharakter. Aber eben, die Wrestlingwelt ist auch eine Traumwelt, die nicht viel mit der Realität zu tun hat.

«Es ist auch eine Form von Eskapismus, eine Flucht vor der realen Welt, vor Problemen, vor Mobbing», sagt Regisseur O'Neil Bürgi, «man sieht dann auch im Film, wie sie von der realen Welt wieder eingeholt wird, bis sie gezwungen wird anzufangen richtig erwachsen zu werden.»

Im zweiten Teil des Films verändert sich Alessandras Leben auf unerwartete Weise. Doch zu viel soll hier nicht verraten werden.

Im Dachstock der Wrestlingschule verbringt Alessandra Stunde um Stunde mit Training. Bild: Filmstill

«Darf ich eine rauchen bitte?»

Während einem Jahr begleitet O’Neil Bürgi Alessandra im Training. War zuerst nur ein Kurzfilm über Wrestling geplant, so wird das Projekt immer grösser. Bürgi beginnt Alessandra auch ausserhalb des Trainings zu begleiten, dokumentiert nicht nur ihre sportliche, sondern auch ihre innere Entwicklung. Und dabei kommt eine andere Frau ins Spiel.

Alessandras Mutter Josephine spielt eine wichtige Rolle im Film. Sie ist für Alessandra eine Freundin, eine Bezugsperson, aber auch eine Autorität, mit der es zu Konflikten kommt. Eine Schlüsselszene ist hierbei ein Streit im Wohnzimmer. Alessandra und ihre Mutter sitzen auf dem Sofa. Es ist eine Interviewsituation, wohl deshalb ist es noch nicht zum Streit gekommen.

Doch die Stimmung ist zum Zerreisen gespannt, die Situation verfahren. Die Mutter hält es nicht mehr aus: «Darf ich eine rauchen bitte?» Steht auf, läuft aus dem Bild. «Kann ich auch schnell eine rauchen?», fragt auch Alessandra.

Alessandra und ihre Mutter Josephine. Beim Rauchen entsteht Raum für Gespräche. Bild: Filmstill


In solchen Szenen verschwimmt die Grenze zwischen abgesetzten Interviews und szenischen Aufnahmen. Dadurch bekommt der Film eine Präsenz, die ZuschauerInnen werden in die Handlung hineingezogen. Das hat auch damit zu tun, dass Bürgi Hintergrund und Information nicht auf dem Silbertablett serviert. Vielmehr arbeitet er mit narrativen Ellipsen.

Beim Streit wissen wir, wie bei vielen Szenen, nicht von Anfang an genau worum es geht. Doch durch die Emotionen der Protagonistinnen können ZuschauerInnen die Situation sofort lesen, können sich Informationen selbst erarbeiten.

Vertrauen erarbeiten

Die Geschichte so zu erzählen ist nur möglich, weil Bürgi das Vertrauen der beiden Frauen gewinnen konnte. Vor allem bei der Mutter war das nicht ganz leicht: «Sie ist vorsichtig gegenüber Männern. Das hat auch mit ihrer Herkunft Kamerun zu tun», sagt Bürgi.

Deshalb gab es, bevor die Dreharbeiten begonnen konnten ein grosses Nachtessen. «Es hat mir dabei sicher auch geholfen, dass ich einen gewissen Zugang zur Afrikanischen Kultur habe. Meine Mutter ist Jamaikanerin, deshalb ist mir einiges vertraut, etwas gewisse Gerichte oder Lebensmittel.»

Im Scheinwerferlicht: Beim Wrestling geht es um mehr als nur den Kampf. Bild: Filmstill

Kein Film über Rassismus. Jedenfalls nicht nur

In Alessandras Geschichte geht es auch um Ausgrenzung, um Mobbing. Das wohl nicht zuletzt auch rassistisch motiviert war. Laut Bürgi sei Rassismus zwar eines der Themen, aber es sei kein Film über Rassismus. «Für mich ist eine gute Geschichte nicht abhängig von Gender, Nationalität oder Hautfarbe. Trotzdem ignoriere ich die Themen nicht.»

Vielmehr streife er Rassismus, Mobbing oder Feminismus, weil sie wichtig sind für Alessandras Geschichte: «Es sind alles Einzelteile und Aspekte, die ein Teil ihrer Reise sind, die sie in diesem Film macht. Darum spielt das alles mit in diesem dokumentarischen Coming of Age Narrativ.»

Der Film hat eine Vielschichtigkeit, behandelt und streift verschiedene grosse und aktuelle Themen. Allerdings ohne sie zu bewerten oder zu gewichten. Das ist eine der Qualitäten des Films. Nebst dem grossen Plottwist natürlich. Aber dazu wird nicht mehr verraten, da müsst ihr den Film schon selber schauen.

Der Regisseur O’Neil Bürgi. 

 

Schweizer Premiere an den Solothurner Filmtagen

Zu Gast in Solothurn: «Ale» wird an den Solothurner Filmtagen 2021 gespielt. Der Film wird online gestreamt. Alle Termine dazu gibt es auf der Website der Filmtage. Am Donnerstag, 21. Januar, um 16 Uhr findet online ein Filmgespräch mit Regisseur und Protagonistin statt. Das ganze Festival findet ausschliesslich online statt, Filme kann man für 10 Franken anschauen. Hier findet ihr Informationen zu Tickets und Zugang.

 

Der Regisseur: O’Neil Bürgi, geboren 1981 in Arbon, schlug nach einer handwerklichen Berufsausbildung den Weg in die Film-und Medienbranche ein. Er war Videojournalist und ist seit 2001 als freier Regisseur tätig. Seine Regiearbeiten belaufen sich auf diverse Auftragsproduktionen und Eigenproduktionen im Bereich Dokumentarfilm, Fiktion, Animation und Musikvideos. Von 2015 bis 2018 absolvierte er an der F+F Schule für Kunst und Design in Zürich das Studium zum eidg. dipl. Gestalter HF Kommunikationsdesign mit Vertiefungsrichtung Film. Bürgi lebt und arbeitet in Frauenfeld. Im Internet: www.oneilbuergi.com 

 

Mehr zu «Cat Noir», einem anderen Film von O'Neil Bürgi könnt ihr hier lesen.

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