von Barbara Camenzind, 16.09.2025
Der Sound der Gleichheit

500 Jahre sind seit dem Bauernkrieg vergangen. Die Forderungen nach Gleichheit, Selbstermächtigung und Rechtssicherheit klingen nach. Mit dem Gedichtband und der Klanginstallation «Wenn alle Menschen» schufen Reto Friedmann, Oliver Augst und Michael Wagener ein brandaktuelles Kunstprojekt. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
eigenleut
eigentum
eigentlich
eigenheim
…
eigenarbeit
wenn der geduldlose, rebellische, ernstliche Wille
zum Paradies
eigenart
auf die Inhalte zur Aktivitätsverfolgung in privaten Fenstern?
Eigelb
Alliterationen sind etwas Wunderbares: Sie versetzen die Leserin in einen Flow – das ist Buchstabenmusik, in die eingetaucht werden kann, generiert Rhythmus, und das Eigelb wird zum Stolperstein. Dies ist ein Auszug aus dem Lyrikband «wenn alle menschen». Es soll uns ja nicht zu gemütlich werden bei der Lektüre.
Fast wie die Partitur eines zeitgenössischen Komponisten
Die Seiten mit den wunderbaren typografischen Variationen von Michael Wagener, den Buchstaben-Ritornellen, den grossen Lettern und dem tückischen Kleingedruckten: Aus der Distanz wirken die Blätter dieses kleinen Büchleins wie die Partitur eines zeitgenössischen Komponisten – was sie ja auch sind, irgendwie. Das Auge taucht ein, folgt einem Muster und spinnt sich seinen Weg durch die Textbausteine, durch das unvollendete Konditionalsatz-Ostinato, oder wie Reto Friedmann schreibt: «wenn das geschriebene wort mit dem gedachten klang / wenn der o-ton mit dem püntisch liedlein». Wenn, ja, wenn Frau in diesen Textfragmenten liest und gleichzeitig die Klanginstallation hört, die Augst und Friedmann sorgsam und vielschichtig komponierten.
Aus Liedfragmenten der Bauernkriegszeit, den Klängen des französischen Kontrabassisten Fred Marty, den Geräuschen, den Stimmen – die anarchische Lust spürend, diese Klänge über das Musikprogramm Max/MSP immer wieder neu vernetzen zu lassen. Wenn dann, ist die Zeitspanne von 500 Jahren eine Lyrikerfahrung für Kopf, Herz und Ohr, die einen zack in die Gegenwart katapultiert. Doch um was geht es eigentlich?
Der Bauernkrieg als zeitloses Gesellschaftslaboratorium
Vor 500 Jahren wollten Thomas Müntzer und die aufständischen Bäuerinnen und Bauern das Paradies auf Erden errichten, erklärte Reto Friedmann im Gespräch. Sie wollten das Reich Gottes realisieren und hatten aus heutiger Sicht ziemlich logische Forderungen: Sie kämpften für die Abschaffung der Leibeigenschaft oder dafür, dass eine Dorfgemeinschaft sich einen eigenen Pfarrer wählen konnte.
Gleichheit – die Aufständischen stellten sich darunter auch eine Form der Rechtssicherheit und Selbstorganisation vor. Vielleicht das, was wir in der Schweiz noch von der Landsgemeinde kennen, wobei diese jahrhundertelang nur freien Bauern mit Grundbesitz zugänglich war – und wohl eher nicht den eidgenössischen Untertanen im Thurgau beispielsweise.
Reto Friedmann, der nicht nur Kunstschaffender, sondern auch katholischer Theologe ist, spürte in seiner Auseinandersetzung mit der universalistischen Forderung nach Gleichheit und Gerechtigkeit (weil Christus ja alle Menschen erlöste) auch einer zutiefst spirituellen Frage nach: das Paradies – was ist das?
Freiheit? Gleichheit? Noch immer suchen wir nach Antworten
Müntzer hatte eine genaue Ahnung davon und nannte es das Reich des Heiligen Geistes. Geschickt schuf Friedmann daher auch mit Antworten aus Strassenbefragungen einen wichtigen Gegenwartsbezug. Die Fragen nach Freiheit und Gleichheit, nach einem besseren Leben, sind zeitlos. Auch heute fahnden wir immer noch danach.
Mit dieser Ahnung damals sei etwas in die Welt gekommen, ein neuer Gedanke aufgeblitzt, wie die Autoren im Vorwort schreiben. Der wurde in der Aufklärung weitergetragen, durch die Französische Revolution, und trieb die Entwicklung der demokratischen Staatsformen voran: Nach 500 Jahren gehe eine Epoche zu Ende. Nun spürten wir die Verwerfungen, mahnte Friedmann nachdenklich. Was bedeutet das?
Ende mit ungewissem Ausgang
Die offenen Formen in den Texten verweisen auf weitere Übergänge und (poetische) Kontroversen. Die ersten Anlagen zu diesem Projekt gehen zurück ins Jahr 2013. Dadaist Hugo Balls intensive Auseinandersetzung mit Müntzer während des Ersten Weltkriegs beschäftigte die Autoren – stilistisch wie inhaltlich ebenso –, so wie Ernst Blochs 1921 erschienene Biografie Thomas Müntzer als Theologe der Revolution.
Wobei Reto Friedmann Thomas Müntzers blutige Rolle im Bauernkrieg als höchst zwiespältig erlebte, ebenso wie seine Instrumentalisierung in den aktuellen Protesten im Landwirtschaftssektor. Dort geht es hauptsächlich um den reichlich sturen Erhalt von Privilegien gegenüber dem Erhalt der Schöpfung – im Widerspruch zur veränderten Ressourcenlage und zum Klimawandel.
Die Verfasser beziehen klar Position
Im Vorwort werden die Schöpfer von «wenn alle menschen» ziemlich deutlich, was die Gegenwart betrifft:
«heute beobachten wir eine abkehr vom gleichheitsprinzip. im mittelpunkt des gegenwärtigen gerechtigkeitsdiskurses stehen identitäten, perspektiven und historische kontexte. die eine universelle gültigkeit beanspruchende wahrheit wird durch relative wahrheit ersetzt. errungenschaften wie die allgemeinen menschenrechte stehen zur disposition.»
Oder die demokratischen Errungenschaften, mit Verlaub.
Es liegt etwas in der Luft, in der Tat. Die poetische Unruhe dieses Buchs macht hellwach und schafft mit dem Schwung von 500 Jahren den totalen Gegenwartsbezug.
wenn alle menschen von Reto Friedmann und Michael Wagener ist im Gutleut-Verlag in der «reihe licht» erschienen. Und hier geht es zur Klanginstallation, die online hörbar ist: WENN ALLE MENSCHEN.

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