von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 06.10.2025
Der Thurgau bekommt eine Kulturbotschaft

Das Publikum hat entschieden: Bei der dritten Ausgabe des Kulturstiftungs-Wettbewerbs «Ratartouille» gewinnt ein Frauenfelder Vernetzungsprojekt 100’000 Franken. Es will Kultur erklären und Kulturschaffende in den Austausch bringen. (Lesedauer; ca. 5 Minuten)
Am Ende war es knapper, als es manch einer im Vorfeld vermutet hatte – nur acht Stimmen aus dem Publikum trennten beim Finale des Kulturstiftungs-Wettbewerbs «Ratartouille» am vergangenen Freitagabend den Sieger vom Zweitplatzierten. 42 Stimmen für die «Kulturbotschaft», 34 Voten für das «Thurgauerlied», etwas weiter abgeschlagen landete das Wanderdünenprojekt «Kulturlandschaften Thurgau» mit 20 Stimmen auf Platz 3. Entsprechend erleichtert zeigte sich Rémy Sax, einer der Initianten des Gewinnerprojekts «Die Kulturbotschaft»: «Ich freue mich sehr, dass wir gewonnen haben. Heute Abend können wir erst mal ein bisschen feiern!», sagte der Musiker, Künstler und Buchhändler aus Frauenfeld.
Wenn alles glatt läuft, dann soll die Kulturbotschaft Ende 2026 in Frauenfeld eröffnen. Die wesentlichen Ziele des Projekts: Mit Vernetzungsarbeit die Kultur in der Schweiz stärken und niederschwellig erlebbar machen, wie Kultur heute eigentlich entsteht.

Willkommen im Madison Square Garden des Thurgau!
Vor dem Moment der Erleichterung für die Initiator:innen stand ein kurzer, knackiger, fast schon nüchterner Abend im Thurgauerhof Weinfelden. Diesen Ort hatte Moderator Giuseppe Spina zu Beginn sehr hübsch als «Madison Square Garden» des Thurgau bezeichnet. Der Vergleich mit der legendären New Yorker Veranstaltungshalle war einerseits offensichtlich absurd (besonders für all jene, die zum Zeitpunkt der Bemerkung in diesem maximal glamourlosen, leicht abgedunkelten Raum sassen) und andererseits eben doch auch ziemlich treffend, weil er die Verhältnisse der Thurgauer Kulturlandschaft klar auf den Punkt brachte.
Das war insofern ein schöner Bogen, weil der Wettbewerb, um den es hier ging – Ratartouille – von der Kulturstiftung des Kantons Thurgau 2020 ja auch deshalb gegründet worden war, um die Verhältnisse der Thurgauer Kulturlandschaft mal ein bisschen aufzuwirbeln. Oder anders gesagt: mal die Fenster und Türen zu öffnen, um durchzulüften, Altes zu verabschieden und Neues hereinzubitten. «Wir wollten neue Impulse setzen, um Innovation in Kultur und Kulturförderung zu ermöglichen», sagte Stefan Wagner, der mit einem bunten Kulturstiftungs-Schal umhangene Beauftragte der Kulturstiftung, zur Begrüssung und gleichzeitigen Erläuterung, weshalb die knapp 100 Zuschauer:innen nun hier in Weinfelden sassen.


Jede:r Zuschauer:in konnte 1000 Franken verteilen
Denn: Ein Teil dieser Umkrempelung des Thurgauer Kulturlebens beinhaltete nicht nur die Abschaffung von Formaten wie der Werkschau und der Lyriktage, sondern auch die Aufforderung oder besser: das Angebot an das Kulturpublikum, sich stärker in den Kulturförderprozess einzubringen. Ein Wesenskern von «Ratartouille» war von Anfang an, dass nach einer jurierten Vorauswahl der Bewerbungen am Ende die Zuschauer:innen vor Ort entscheiden, welches Projekt die ausgelobten 100’000 Franken erhält. Bei rund 100 Menschen im Publikum konnte damit jede und jeder 1000 Franken verteilen.
Bei der dritten Ausgabe von «Ratartouille» standen nun einerseits sehr verschiedene, aber andererseits doch auch sehr ähnliche Projekte im Finale. Alle drei Bewerbungen setzten zwar gleichermassen auf die kulturpolitischen Buzzwords der vergangenen Jahre: Partizipation, Interdisziplinarität und Dialog. Aber was sie daraus schlussfolgerten, war dann doch sehr unterschiedlich.

Dieselben Buzzwords, ganz andere Schlussfolgerungen
Während beispielsweise «Die Kulturbotschaft» den Prozess der Kulturentstehung in den Blick nahm, konzentrierte sich Samantha Zauggs und Stefan Schellingers «Thurgauerlied» auf einen klassischen Ausstellungsbetrieb an ungewöhnlichen Orten, wohingegen Stephan Militz’ Wanderdünen-Projekt weniger die Kulturschaffenden, sondern viel stärker ein, wie auch immer geartetes, Publikum fokussierte. (Mehr zu den einzelnen Projekten gibt es hier, hier und hier.)
Vielleicht war das der interessanteste Gedanke des Abends – dass man zwar dieselben Ziele formulieren kann, sie aber auf sehr verschiedenen Wegen erreichen kann.


Was die Flagge der Kulturbotschaft ausstrahlt
Die Sieger:innen Dario Bossy, Jana Kohler, Gino Rusch und Rémy Sax von der Kulturbotschaft hatten sich für ihre Präsentation im Finale einen speziellen Rahmen ausgedacht – sie inszenierten die Vorstellung als Pressekonferenz, bei der sie nicht nur die Grundzüge ihrer Idee erklärten, sondern auch erwartbare Fragen aus dem Publikum («alles nur heisse Luft?») direkt selbst beantworteten.
Teil des Bühnenbilds war eine Flagge, die sich die Kulturbotschafter:innen schon selbst geschaffen hatten: zwei grüne Dreiecke, zwei bordeauxrote, leicht ins Magentafarbene changierende Dreiecke, darauf ein schwarzer, eher finster dreinblickender Löwe mit scharfen Krallen und einem ellipsenförmigen Kreis um sich. Klares Signal: Mit diesem Löwen legst du dich besser nicht an.

Strukturen für zukünftige Generationen schaffen
Die Haltung der Kulturbotschaft ist also einerseits kämpferisch, sie will aber auch konstruktiv sein. Es gehe auch darum, den weiteren Wegzug junger, talentierter Leute aus dem Thurgau zu stoppen. «Junge Menschen gehen hier oft weg, weil es an Strukturen fehlt, in denen man sich als kunstschaffende oder kulturinteressierte Person ausleben kann», sagte Dario Bossy auf der Bühne.
Austausch, Vernetzung, ein besseres Verständnis über Kultur und Kulturschaffen erreichen, sind drei von vielen Zielen der Kulturbotschaft. «Wir sind explizit kein Festival. Wir wollen ein Gefäss schaffen, in dem in professionellen Strukturen der interkantonale Austausch in der Kultur gestärkt werden kann», erläuterte Gino Rusch.
Konkret bedeutet das: Kulturschaffende aus verschiedenen Regionen der Schweiz sollen eingeladen werden, gemeinsam mit der Programmgruppe (bestehend unter anderem aus den Gründer:innen der Kulturbotschaft, sie soll aber erweitert werden) kulturelle Veranstaltungen im Thurgau umzusetzen, die an verschiedenen Standorten im Kanton und in der Kulturbotschaft selbst stattfinden. «Das können Konzerte, Performances, Lesungen, Screenings, Ausstellungen oder Spartenübergreifendes sein – alles aber immer mit einem vermittelnden Charakter», erklärt Dario Bossy.

Es gibt noch viel Arbeit vor der Eröffnung
Als Vorbild für das Frauenfelder Projekt gilt das Veranstaltungshaus PROGR in Bern. Etwas Vergleichbares soll nun auch im Thurgau entstehen. Nach Wünschen der Projektinitiator:innen am liebsten ganz nah an der Stadtkaserne Frauenfeld. Dort soll in den nächsten Jahren ein ganz neues Quartier wachsen, idealer Nährboden für eine neue Kulturinitiative.
Vor der Eröffnung der Kulturbotschaft steht aber noch eine Menge Arbeit: die schönen Ideen aus der Theorie in die Praxis überführen, einen Verein gründen, am Programm feilen, Unterstützer:innen finden. Nach den aktuellen Plänen soll die Botschaft Ende 2026 eröffnet werden, ein erstes Pilotprojekt dann im Januar 2027 starten. «Es gibt noch viel zu tun, aber wir freuen uns sehr darauf», sagte Gino Rusch am Freitagabend, nachdem sie die erstmals digital durchgeführte Abstimmung gewonnen hatten.
Was die unterlegenen Bewerber:innen sagen
Selbst die unterlegenen Projekte wollten kein Trübsal blasen am Ende des Abends. «Natürlich ist es schade, dass wir nicht gewonnen haben, aber ich spüre auch eine gewisse Erleichterung, dass wir nicht die 100’000 Franken bekommen haben und unser Projekt jetzt vielleicht in einem kleineren Rahmen umsetzen können», sagte Samantha Zaugg vom Projekt «Thurgauerlied».
Stephan Militz, Initiator des Wanderdünen-Projekts, gab sich ebenfalls gelassen: «Es hat ein gutes Projekt gewonnen. Und wir versuchen, unsere Idee jetzt auf anderen Wegen zu realisieren. Ist also alles gut», sagte er gegenüber thurgaukultur.ch.

Die Zukunft von Ratartouille bleibt offen
Stefan Wagner, Beauftragter der Kulturstiftung und der Kopf hinter der Ratartouille-Idee, lächelte am Ende ebenfalls: «Dieses Format ist immer eine grosse Herausforderung, weil man nie weiss, wie es ausgeht, aber jetzt freue ich mich über das Gewinnerprojekt und bin gespannt, was sie daraus machen.»
Ob es Ratartouille auch in Zukunft geben wird, das sei noch offen, so Wagner weiter. Man werde das in Ruhe mit dem Stiftungsrat besprechen und dann eine Entscheidung treffen. Turnusmässig stünde die nächste Ausgabe des Wettbewerbs 2027 an.
Einer freute sich am Freitagabend jedoch besonders über den Ausgang der Abstimmung – Anders Stokholm, Präsident der Kulturstiftung. Als Stadtpräsident von Frauenfeld hatte er das Stadtkasernen-Projekt massgeblich vorangetrieben. Dass jetzt ein Kulturprojekt mithelfen will, das Areal nachhaltig zu beleben, findet er «eine grossartige Idee».


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