von Barbara Brauckmann, 29.07.2024
Die Kraft der Kräuter
Wie entstanden die Heilkräutergärten der Klöster und wo spielen sie noch heute eine Rolle? Damit beschäftigt sich der erste Teil unserer neuen Serie «Facetten des Mittelalters».(Lesedauer: ca. 10 Minuten)
Eine der Schlüsselfiguren des frühen Mittelalters war Kaiser Karl der Grosse (747–814), der die Ausbreitung von benediktinischen Klostergemeinschaften begünstigte. Das tat er im Rahmen einer effizienten Herrschaftspolitik; denn diese trugen nicht nur zur Verbreitung des Christentums bei, sondern erweiterten häufig in noch unbefriedeten Gegenden auch sein Stammesgebiet.
Ausserdem schufen sie Schulen und Schreibstuben, in denen antike Literatur über Recht, Verwaltung oder Arzneikunde kopiert wurde. Hinzu kam, dass der Ordensgründer Benedikt von Nursia (etwa 480–547) in einer seiner Anweisungen bestimmt hatte, dass Mönche als Krankenpfleger auszubilden seien.
Warum die Reichenauer Mönche Recht sprechen durften
So begann die Epoche der Klostermedizin, die Heilpflanzen aus den jeweiligen Klostergärten verwendete. Daraus entwickelte sich letztendlich die «Landgüterverordnung» («Capitulare de villis») des fränkischen Regenten, in der er die Anpflanzung von 16 verschiedenen Obstbaumarten und 73 Nutz- und Heilpflanzen in seinen Krongütern und in Klöstern die Kultivierung von Heilkräutern verfügte.
Auch wenn die Insel Reichenau vermutlich bereits durch den früheren alamannischen Landbesitzer Sintlaz, gerodet worden war, kam es dem Karolinger gelegen, dass der Wandermönch Pirmin im Jahr 724, dort ein Kloster gegründet hatte. Bald verlieh Karl der «reichen Au» den Rang einer Königsabtei, sodass die Mönche eigenes Recht sprechen durften und nur ihm unterstanden.
In der neuen Serie «Facetten des Mittelalters» wollen wir euch bis zum Jahresende etwa einmal im Monat einen Artikel über wichtige Meilensteine des Mittelalters mit Bezug zur Gegenwart anbieten. Die Texte sollen unterhaltsam sein und Wissenswertes über Klostermedizin, Gärten, Buchwerke, Rechtsprechung, Zünfte, Wein und Rezepturen vermitteln. Dabei machen wir an ganz verschiedenen Orten rund um den Bodensee und in der Ostschweiz Station. Alle Texte der Serie bündeln wir im zugehörigen Dossier.
Klostergärten Reichenau: Alte Pläne und neue Interpretationen
Von den früheren Reichenauer Klostergärten gibt es keine detaillierten Darstellungen. Selbst das im Münster aufgehängte grosse Ölgemälde von der Rückführung der Heilig-Blut-Reliquie von 1738 ins Kloster zeigt nur eine kleine vierteilige barocke Gartenanlage mit einem Springbrunnen in der Mitte.
«Die im April 2024 anlässlich des Jubiläumsjahres fertiggestellte Neuanlage der Klostergärten am Reichenauer Münster soll eine Weiterentwicklung der Welterbe-Stätte sein, bei der sich die Gestaltung dem heutigen Zeitgeist anpasst, ohne alte Pläne zu kopieren», betont Karl Wehrle, Geschäftsführer von Reichenau Kultur-Marketing-Tourismus und Vorstandsvorsitzender der Stiftung «Welterbe Klosterinsel Reichenau».
Die neue Anlage beruht im Wesentlichen auf zwei frühmittelalterlichen Quellen zur Gartenkultur, die beide um die Zeit von etwa 825–833 entstanden und einander ähneln. «Da ist zum einen der St. Galler Klosterplan, mit dem die Reichenauer Mönche das Ideal eines Klosters darstellten und darauf die Anordnung der Gebäude, Gärten und sonstigen Bereiche skizzierten», erklärt Wehrle.
Ein Heilkräutergarten für 16 Heilpflanzen
Auf dem Pergament ist links oberhalb vom Ärztehaus mit Apotheke und dem Haus für Aderlass und Abführkuren der «herbularius» eingezeichnet. In diesem Heilkräutergarten sollte für jede der insgesamt 16 Heilpflanzen ein eigenes Beet angelegt werden, um die Reinheit des Krauts zu gewährleisten und Verwechslungsgefahr zu vermeiden. Rechts oben neben dem Obstgarten und Friedhof ist ein grosser Gemüsegarten abgebildet.
«Zum anderen haben wir uns natürlich das berühmte Lehrgedicht «Über die Pflege der Gärten» («De cultura hortorum») des Reichenauer Abtes Walahfrid (809–849) genau angeschaut, der vermutlich an der Anfertigung des St. Galler Klosterplans mitbeteiligt war.» Sein Gedicht gilt als ältestes Werk der Pflanzen- und Gartenkunde in Nord- und Westeuropa.
Abt Walahfrid Strabo: Diplomatischer Hofdichter und schwärmerischer Gartenbauer
Der gartenliebende Walahfrid Strabo (der «Schielende») lebte in unruhigen Zeiten, in der Kriegszüge die Familienstreitigkeiten um das Erbe Karls des Grossen regeln sollten. Zweimal wurde dessen legitimer Sohn und Nachfolger Kaiser Ludwig der Fromme, von seinen Söhnen Lothar, Pippin und Ludwig aus erster Ehe gestürzt. «Möglicherweise beginnt er sein Gedicht zum Gartenbau deshalb auch mit einem politischen Gleichnis», deutet der emeritierte Professor für mittellateinische Philologe, Walter Berschin, in seinem gut besuchten Vortrag über grosse Reichenauer Äbte an.
Denn in 444 lateinischen Versen beschreibt der Mönch nicht bloss 24 Kräuter nach Aussehen und Verwendung in der Pflanzenheilkunde. Es heisst darin gleich bei der ersten Pflanze: «… leuchtend blühet Salbei ganz vorn am Eingang des Gartens, süss von Geruch, voll wirkender Kräfte und heilsam zu trinken. Aber sie trägt verderblichen Zwist in sich selbst: … denn der Blumen Nachwuchs, hemmt man ihn nicht, vernichtet grausam den Stammtrieb, lässt in gierigem Neid die alten Zweige ersterben…»
«Dies könnte als Ratschlag an den Kaiser aufgefasst werden, die Macht seiner rebellischen Söhne kräftig zu beschneiden. Zumal zwischen harmlosen Versen zu Gewächsen und Gemüsesorten wie Sellerie, Rettich oder Kürbis auch noch andere Anspielungen rund um das offenbar bestehende Kriegs- und Jagdmilieu des Hofes versteckt sind», fügt Berschin hinzu.
Rezept gegen feindselige Stiefmütter
Im Kapitel 10 beispielsweise schreibt der Dichter: « … Sollten dir Stiefmütter je feindselig bereitete Gifte mischen in das Getränk oder trügenden Speisen verderblich Eisenhut mengen, so scheucht ein Trank des heilkräftigen Andorns, unverzüglich genommen, die drohenden Lebensgefahren…».
Natürlich verfasste er auch unbedenkliche Einleitungskapitel zur «Schwierigkeit der aufgenommenen Arbeit», der «Beharrlichkeit des Gärtners» und über den Winter als «Abbild des Alters».
Prügel bei Ungehorsam
Noch als Walahfrid etwa 827 nach der Klosterschule und der Ablegung des Gelübdes zur weiteren Ausbildung in die Schule des Universalgelehrten Rabanus Maurus nach Fulda kam, neigte er in seinen lateinischen Gedichten zu Spötteleien. «Doch Schüler mussten auch mit Prügel rechnen, wenn sie bei ihren Vorgesetzten Tadel hervorriefen», gibt Berschin zu bedenken.
«Der begabte Zögling lernte es allerdings bald, Missstände lieber in Versen anzudeuten. Nur einmal, als er im Winter keine Schuhe hatte und ihn schreckliches Heimweh nach der Reichenau plagte, klagte er in seinem «Metrum Saphicum» verzweifelt: «… Schwester Muse, sieh, Tränen fliessen, wenn ich mich daran erinnere, wie gute Ruhe ich vor kurzem genoss, als mir die glückliche Insel (Augia felix) ein bescheidenes Dach darbot …»
Hofdichter in Aachen
Aus dieser für ihn trostlosen Situation befreite ihn Grimald, der Erzkapellan Ludwigs des Deutschen, der ihn nach Aachen an den Hof von dessen Vater Kaiser Ludwig dem Frommen holte, welcher wegen der vielen Reichsstreitigkeiten überzeugende Lobgedichte gut gebrauchen konnte. Von 829 an fungierte der Mönch als geschätzter Hofdichter und Kapellan der zweiten Frau, der schönen, gebildeten und politisch angefeindeten Kaiserin Judith.
Dankbar widmete Walahfrid in demonstrativer Bescheidenheit das Gartengedicht seinem ehemaligen Lehrer: «Dir, geehrtester Vater Grimaldus - … Während du liest, was ich dir freudig verehre, bitte ich dich, dass du beim Lesen Fehlerhaftes tilgst und das, was Gefallen findet, bekräftigst.»
Hoffnung auf eine Rückkehr zur Reichenau
Für seine Verdienste ernannte ihn 838 Ludwig nach dem Rücktritt Erlebalds zum Abt seines Heimatklosters Reichenau, obwohl dies gegen das von ihm 815 persönlich zugesicherte Recht der freien Abtwahl verstiess. So wurde Ruadhelm neuer Abt. Als der «alte» Kaiser im Jahr 840 starb, musste sich Walahfrid, der in der Hoffnung auf eine Reichseinigung gegen den jungen Ludwig Partei ergriffen hatte und unter dessen Schirmherrschaft das Kloster stand, ins Exil in Speyer begeben.
Grimald kam auch diesmal zu Hilfe und vermittelte 842 eine Versöhnung. Endlich durfte Walahfrid als Abt ins Kloster Reichenau zurückkehren. Lange konnte er diese Zeit allerdings nicht geniessen; denn 849 ertrank er auf einer Gesandtschaftsreise «im glitschigen Sand» der Loire.
Im heutigen Reichenauer Garten fällt eine mit Weidensträuchern bepflanzte «Erdskulptur» auf, die aus mit Ziegelschutt befüllten, korrodierten Stahlplatten besteht und auf dem Untergrund des Ostflügels der Klosterklausur liegt. «Neben diesem Areal gestaltete der Gartenarchitekt das zweite Element, das «claustrum»: Dabei handelt es sich um einen viereckigen Aufbau mit Verstrebungen, an denen beschnittene Lindenbäume emporwachsen, welche sozusagen Säulen des Kreuzgangs nachbilden», erklärt Karl Wehrle. In der Mitte befindet sich eine viereckige stufig geschnittene Rasenfläche und davor der restaurierte Pirminbrunnen.
Das Areal des dritten Gestaltungselementes umfasst die «hortuli» als Flächen der Pflanzenkultur mit Küchen- und Heilkräutergarten.
Obstbäume als Sinnbild der Auferstehung
Da die Mönche in Obstbäumen mit ihrem jährlichen Vegetationsrhythmus ein Sinnbild der Auferstehung nach dem Tod sahen, befanden sich im Obstgarten üblicherweise die Begräbnisstätten. Auch auf der Reichenau wird der Bereich des ehemaligen Mönchsfriedhofes («cimiterium») als viertes Gartenelement dargestellt. Denn östlich des Münsterchors wurden vor einigen Jahren zwei parallele Reihen mit zehn weitgehend erhaltenen Gräbern entdeckt.
Rechts und links von einem rechteckigen Kiesplatz mit langem, schmalem Brunnen und von Maulbeerbäumen beschatteten Bänken wachsen in Blau, Rot und Gelb gehaltene, unterschiedlich hohe Staudenpflanzen.
Im Jahr 724 wurde das Kloster auf der Insel Reichenau gegründet. Es entstand ein gigantisches Wissens- und Beziehungsnetzwerk. Zwei Ausstellungen erinnern mit fulminanten Schätzen daran.
«Welterbe des Mittelalters» - bescheiden ist er nicht, der Titel der Grossen Landesausstellung im Archäologischen Landesmuseum (ALM) in Konstanz. Aber die Kuratoren treten auf 900 Quadratmetern und zwei Stockwerken den Beweis an, dass der Einfluss der Benediktiner-Abtei auf die Welt tatsächlich nicht zu unterschätzen ist.
Die Mönche dort schufen im Skriptorium Bücher, die Reiche und Mächtige aus ganz Europa bei ihnen in Auftrag gaben. Hier lebten Wissenschaftler wie Abt Walahfrid Strabo, der mit seinem Gedicht «Hortulus» aller Welt klarmachte, was in einen Garten gehört und wozu es dient. Als Hofdichter in Aachen (829 -839) hatte er Einfluss auf die Kaiserfamilie.
Mehr zur Ausstellung gibt es bei uns im Magazin.
Die Ausstellung ist bis zum 20.Oktober zu sehen und hat auch eine eigene Internetseite:
https://www.ausstellung-reichenau.de/
Benediktinerkloster St. Georgen in Stein am Rhein: Blumenkunst und Heilkräuter
Nicht weit von der Reichenau entfernt befindet sich ein weiteres benediktinisches Kloster. Im Jahr 970 liessen Herzog Burchard III. von Schwaben und seine Gemahlin Hadwig neben ihrer Burg auf dem Hohentwiel ein dem Heiligen Georg geweihtes Burgkloster errichten. Knapp 40 Jahre später wurde es an die Strassen- und Wasserkreuzung in Stein am Rhein verlegt und gehörte nun kirchlich zur Diözese Konstanz.
Die Höfe der terrassenartig um das Klostergebäude herum angelegten Nutzflächen dienten dem Anbau von Kräutern und Gemüse oder zur Haltung von Nutztieren. Nur auf der oberen Terrasse befand sich vor den Pestausbrüchen bis etwa 1611 der Gottesacker für Mönche, die nicht im Kreuzgang begraben wurden.
Vorliebe für Blumen und Arzneikräuter
Der letzte Abt David von Winkelsheim liess von etwa 1505 bis 1516 den Südflügel der Klosteranlage und seine privaten Wohnräume kunstvoll ausstatten. «Er mochte Arzneikräuter und Blumen», stellt lic. phil. Claudia Eimer fest, die sich als ehemalige Stadtpräsidentin und Volkskundlerin zur Geschichte von Stadt und Kloster Stein am Rhein bestens auskennt.
Sie weist auf die Wandmalereien der Fensternischen und gotischen Holzdecken hin, welche mit farbenprächtigen Zeichnungen gewundener Heilpflanzen und geschnitzten Blütenmustern verziert sind. Selbst in den Nischen und Gewölbeecken des viereckigen Kreuzganges lassen sich Blätterranken erkennen.
«Es gibt keine konkreten Quellen, wie und womit der Klostergarten von St. Georgen im Mittelalter bepflanzt war» bedauert Eimer. «Einige vorgefundene Grundrisse datieren von 1724 bis 1797. Das ist ein Grund, weshalb der heutige Heilpflanzengarten ähnlich angelegt ist.»
Auch hier ist der St. Galler Klostergarten Vorbild
Doch sie geht davon aus, dass sich schon im Mittelalter viele naturkundliche und medizinische Werke in der Bibliothek befanden und auch hier der Plan des St. Galler Klostergartens sowie Walahfrid Strabos Gartengedicht bekannt waren.
«Leitthema unseres 2015 neu angelegten Arzneikräutergartens ist die mediterrane Pflanze. Dies wird durch verschiedene Varianten der Pflanzenfamilie Artemisia (Wermut, Eberraute) betont», erklärt sie. «Damit soll eine Verbindung zu der im klösterlichen Festsaal dargestellten Artemisia III von Halikarnassos (ca. 300 v. Chr.) geknüpft werden. Der Überlieferung nach hat die Königin die Asche ihres verstorbenem Mannes Mausolos in einem Kelch mit Wasser getrunken, um ihm so die beste aller Ruhestätten zu gewähren.»
Von Rosen und Schwertlilien
Die mittlere Terrasse verfügt heute über einen Blumengarten mit Wegkreuz. In den Randbeeten sind Rosen und Schwertlilien gepflanzt. Denn wie im Schlusskapitel des «Hortulus» veranschaulicht, sind sie Sinnbild der höchsten kirchlichen Ehren.
Auf den Beeten wachsen 34 verschiedene Heilpflanzen, von Gartensalbei, Thymian, Baldrian, Gewürzfenchel bis zur Artischocke. «Diese gewissermassen mit der Mariendistel verwandte Cynara gilt schon seit der Antike als Leberheilpflanze und gehört zu meinen Lieblingspflanzen. Wobei sie in der Region Schaffhausen wohl erst ab dem 13. Jahrhundert angebaut wurde», schmunzelt Eimer.
Kartäuser von Ittingen: Schweigen, Lesen, eigenes Gärtchen und Aderlass
Auch die Kartause Ittingen im Thurgau weist bei der Gestaltung Parallelen zum Kloster Reichenau auf. Die Anlage ging aus einem etwa 1151 von den drei letzten Nachkommen der Herren von Ittingen gegründeten Augustiner-Chorherrenstift hervor. Nachdem etwa 1430 wirtschaftliche Probleme, Kriegszüge, Hungersnöte, Seuchen, Glaubensreformen zur Schliessung geführt hatten, fanden 1461 Kartäuser auf der Flucht vor den Osmanen hier einen Zufluchtsort.
Doch schon 1524 wurde mit dem «Ittinger Sturm» im Zusammenhang mit Reformation und Bauernaufständen der grösste Teil des Klosters zerstört. Erst 1533 kehrten die Mönche zurück, und es wurde wieder ein Prior eingesetzt.
Wirtschaftliche Grundlage der Kartause
«Ideen vom Aussehen der damaligen Gebäude und Nutzflächen geben farbige Darstellungen aus dem 17. Jahrhunderts, die sich beispielsweise als Verzierung auf Türblättern oder einer Ofenkachel im Refektorium befinden», erzählt der Kurator des Ittinger Museums Dr. Felix Ackermann.
Als wirtschaftliche Grundlage und zur Selbstversorgung besass auch dieses Kloster Reben, Wiesen und Ackerland, Getreidefelder, Kühe und Hühner, die von Knechten bewirtschaftet wurden. Auch für die drei grösseren Gartenflächen für Kräutergarten, Küchengarten und Krautgarten waren Angestellte zuständig. Als Friedhof der Mönche diente der kleine Kreuzgarten, während der grosse Kreuzgarten vom Kreuzgang umgeben ist, der die einzelnen Mönchszellen miteinander verbindet.
Ein Leben hinter Mauern
Da das vor allem schweigend verbrachte Leben der Ordensbrüder der Kartausen hinter den Klostermauern weitgehend verborgen bleiben soll, waren selbst ihre frei gestaltbaren eigenen Gärtchen zur Vermeidung von Sichtkontakt von hohen Mauern umgeben.
Entsprechend der Statuten lebten die sich vegetarisch ernährenden Mönche von Brot, Wasser, Salz, rohem Gemüse und Obst. Nur an Sonn- und Feiertagen durften sie gemeinsam im Refektorium auch Käse, Eier, Fisch essen und zu festgelegten Zeiten miteinander sprechen.
Wie das karge Essen die Nachfrage nach Heilkräutern steigerte
«Das eher dürftige Essen war vielleicht ein Grund für die Magenbeschwerden, gegen die Rezepte in den medizinischen Handbüchern der Bibliothek gesucht wurden», berichtet der Kurator. «War es nötig, holte der Infirmarius (Krankenpfleger) einfache, auch für das arme Landvolk verfügbare Heilkräuter aus Kräutergarten oder Umland und pflegte den Kranken, möglichst in dessen eigener Zelle. Dieser erhielt zudem kräftigende Speisen und durfte eventuell mit Erlaubnis des Priors das auf der blossen Haut getragene Cilicium (Tuchstück aus kratzigem Ross- oder Ziegenhaar) ablegen. Bei Bedarf bekam er oft noch eine zusätzliche weiche Unterlage ins Bett oder Dispens vom Gottesdienst».
Gesundheitsvorbeugend sollte der Aderlass helfen, den die Ordensmitglieder jährlich drei- bis fünfmal in separaten Aderlasshäusern über sich ergehen lassen mussten. Danach war zur Stärkung reichlicheres Essen und Ausruhen erlaubt. «Für die Durchführung und auch das Rasieren alle zwei Wochen war der Bader von Warth zuständig. Nur im äussersten Notfall wurde ein Arzt aus Konstanz geholt.» Vermutlich waren deshalb für einen Mann, der ins Kloster eintreten wollte, ein Mindestalter von 20 Jahren und gute Gesundheit Voraussetzung. Denn eine allfällige Krankheit sollte als Busse ertragen werden.
Vitaplant AG in Uttwil: Züchtungsprozesse und Heilkräutergarten
Bestimmt wäre der «Infirmarius» im mittelalterlichen Kloster froh gewesen, seine Kranken mit effizienten Heilkräutern versorgen zu können. Um die Grundlagen der in den Klostergärten gesammelten Kenntnisse zu nutzen, untersuchen Wissenschaftler seit einigen Jahrzehnten, wie sich die mittelalterlichen Pflanzenporträts auf heutige medizinische Behandlungen übertragen lassen.
Einen derartigen Weg hat die Vitaplant AG in Uttwil beschritten, die mit Hilfe von ausgewählten Sonderkulturen wirkungsvolle pflanzliche Arzneimittel herstellt. Die Tochterfirma der Max Zeller Söhne AG wurde 1998 als Spin off der Universität Basel gegründet und hat nahe des Bodenseeufers ebenfalls einen Arzneipflanzengarten errichten lassen.
«Dieser entstand 2013 in Zusammenarbeit mit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZAHW) in Wädenswil», erläutert Dr. Malena Rabenau, Head of Medical Marketing der von dem Apotheker Max Zeller im Jahr 1864 gegründeten Zeller AG mit Hauptsitz in Romanshorn. «Der Garten ist in sieben Indikationsgebiete mit jeweils vier verschiedenen Pflanzenarten unterteilt, die für ihre heilenden Eigenschaften bekannt sind.»
Lernen vom Mittelalter
Neben den Pflanzen finden sich auf Beschriftungstafeln Informationen zu Blütezeit, Herkunft, Wachstumsbedingungen, Inhaltsstoffen sowie zu Anwendungen in Volksmedizin und Pharmakologie. Auch antike oder mittelalterliche Autoren berühmter Kräuterbücher werden erwähnt.
«Die auf den Feldern nahe den Gewächshäusern angebauten Heilpflanzen wie beispielsweise Mönchspfeffer, Johanneskraut, Baldrian, Passionsblume, Traubensilberkerze oder Pestwurz dienen der Forschung zu unseren Pflanzenprodukten», fügt sie an.
Woher der Name «Pestwurz» kommt
«Pestwurz wurde vom Arzt Dioskurides, der im 1. Jahrhundert n. Chr. lebte und als Pionier der Pharmakologie gilt, wegen seiner riesigen Blätter als „petasos“ bezeichnet. Im antiken Griechenland war das ein flacher Strohhut mit breiter Krempe, der auch als Regenschutz gute Dienste leistete.» Der deutsche Name verweist auf Zeiten im Mittelalter, in denen man sich mit stark riechenden Räuchermischungen gegen die Pest schützen wollte.
«Inzwischen ist bekannt, dass es sich bei den aktiven Inhaltsstoffen der Pflanze in erster Linie um Petasine handelt. Sie besitzen krampflösende (spasmolytische), entzündungshemmende und antiallergische Eigenschaften», informiert Rob van den Beuken, Head of Vitaplant. Daher dienen Extrakte aus Pestwurzblättern zur Behandlung der allergischen Rhinitis (Heuschnupfen). Konzentrate aus den Wurzeln werden gegen Spasmen des Urogenital- und Verdauungstraktes, Spannungskopfschmerz sowie zur Migräneprophylaxe eingesetzt.
Wie man unerwünschte Inhaltsstoffe isoliert
«Bei uns ist der Pestwurz eine geschützte Sorte; denn von der Art Petasites hybridus wurden über 400 Pflanzen mit jeweils spezifischer genetischer Ausstattung aus insgesamt 14 Ländern gesammelt und hier in Uttwil über mehrere Jahre auf Inhaltsstoffe und Reinheit geprüft», verdeutlicht er.
«Bereits bei der Auswahl der geeigneten Sorte einer Arzneipflanze wird nicht nur darauf geachtet, dass sie gut kultivierbar ist, sondern auch, dass der Gehalt an unerwünschten Inhaltsstoffen möglichst gering ist. Zu diesen gehören beispielsweise leberschädigende Pyrrolizidinalkaloide (PAs), die in bestimmten Pflanzen als natürlicher Frassschutz vorkommen.»
«Daher werden schon früh zu unterschiedlichen Zeitpunkten Proben entnommen und diese auf unerwünschte bzw. gesuchte Inhaltstoffe analysiert», betont Dr. Amin Chaanin, Head of R&D Agro. «Die anschliessende Kultivierung und Erforschung ausgewählter Exemplare führen schrittweise zu sogenannten Elitepflanzen».
Deren Vermehrung erfolgt sowohl in der Petrischale als auch später als kleines Pflänzchen im Gewächshaus. «Wir setzen das gesamte Repertoire an gärtnerischen Methoden ein: Wurzelschnittlinge, Stecklingsproduktion bis zur Vermehrung von Kriechsprossen oder klassisch über Saatgut».
Was die Mönche im Mittelalter geleistet haben
Daran schliessen sich Testanbauversuche auf kleinen Parzellen an. Dabei geht es um geeignete Vermehrungsmethoden, Klima- und Bodenansprüche, Bekämpfung von Krankheiten und Schädlingen, optimale Erntetermine, Ertrag und bestmögliche Nacherntebehandlung.
Derlei ausgefeilte Methoden hatten die Mönche in ihren Klostergärten nicht. Trotzdem haben sie Anwendungsgrundlagen geschaffen, die auch heute noch Bestand haben.
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