von János Stefan Buchwardt, 20.02.2020
Dietrich und wir
In der Ausstellung «Konstellation 11 – Dietrich & Co.» stellt das Kunstmuseum Thurgau Adolf Dietrich zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler gegenüber. Unsere neue Serie untersucht einzelne Beziehungsgeflechte. Zum Auftakt: Judit Villiger.
Anschaulich und faszinierend zeigt sich in einer der klösterlichen Ausstellungszellen des Kunstmuseums Thurgau wie Adolf Dietrich eine kunstvermittelnde Künstlerin der Jetztzeit zu Aus- und Nachforschungen animiert. Viel mehr als (verpflichtende) räumliche Nähe sei es, was die neben Zürich vor allen Dingen auch in Steckborn lebende Judit Villiger anregt und zu gründlichen Auseinandersetzungen führt.
Sie will einem bedeutsamen Schweizer Maler des 20. Jahrhunderts, dem in den 1920er-Jahren als «Schweizer Rousseau» Gehandelten auf die Spur kommen, indem sie sich direkt von seinen Bilderwelten anstossen lässt: «Ich will ihn lesen, ihn de- und rekonstruieren. Mit ihm durch die Blumentöpfe auf dem Fenstersims in den Nachbarsgarten schauen (lassen). Aus meiner Arbeit als Kunstpädagogin und Kunstvermittlerin heraus interessiere ich mich grundsätzlich dafür, wie Kunst respektive Bilder entstehen.»
Bildverschiebungen als Erbanlage
In seiner Funktion als Direktor des Kunstmuseums führt Markus Landert aus: «Es gibt bei Villiger generell die Beschäftigung mit bedeutenden Werken der Kunstgeschichte. Das scheint weit mehr als eine Werkgruppe zu sein.» Die 1966 in Luzern Geborene bestätigt: «Meine ganze Arbeit bezieht sich auf die anderer. Sie geschieht aus der Rezeption heraus.» Bilder würden auf Bilder reagieren. Diese Auffassung der Bezugnahme bestimme sie. Und mit munterem Lachen versetzt spricht sie diesbezüglich von ihrer «DNA», ihrer persönlichen Grundanlage.
Gerade die Gärtchenbilder seien «ihr Ding»: Dietrichs sich lebenslänglich wiederholendes Sujet, das Sich-Verändernde auf kleinem Radius als Abbild seiner selbst. Landert: «Wenn die Künstlerin auf Einzelteile reduziert, auf Ornamente und Blütenköpfe, wenn sie Bilder auseinandernimmt, sie neu zusammensetzt, Elemente Dietrichs wende und drehe, kommt sie, über zeichnerisches Formenspiel und computertechnische Gemäldeproduktion, zu hochinteressanten Einsichtnahmen.
Das Geheimnis der Kunst
Der Reiz für Villiger besteht also darin, sich in die Ausgangslage eines Malers hineinzuversetzen, um nachvollziehbar zu machen, wie er auf seine Bildfindungen kommt. Wie müssen sich Dinge konstellieren, dass Bilder zu Kunstwerken werden? Wo liegen die bezeichnenden grossen oder kleinen Verschiebungen? Nicht einen Dietrich nachzumachen, würde sie interessieren, sondern herauszufinden, wo das ganz Entscheidende bei ihm passiere, so dass eine Arbeit zum «Wahnsinnswerk» werden könne.
Dass Dietrichs Bilder grosse Achtung abverlangen, hat sich inzwischen herumgesprochen. Dass wir es mit der Thurgauer Kulturpreisträgerin 2018 Judit Villiger konkret erspüren können, warum das so ist, ist ein Geschenk. Wenn sie mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln plausibel zu machen versucht, warum der grosse Maler immer noch zu erschüttern weiss, dann ist das nicht weniger als eine wertvolle Hinführung, sich dem Nicht-Fassbaren zu nähern.
Auf Bilder antworten
In der Kartause stark einbezogen worden zu sein, was Bildhängung und -arrangement ihrer Exponate angeht, weiss Villiger sehr zu schätzen. Nicht zuletzt auch die ihr zuteilwerdende Ehre, zusammen mit Dieter Hall, Peter Koehl, Richard Tisserand, Christoph Rütimann und anderen ausgestellt zu werden. In «ihrem» Raum sollte spürbar werden, dass sie ein Antworten auf Bilder mit Bildern betreibt. Im Speziellen müsse sie richtig verstanden werden, da es sich um eine Recherchearbeit handele, deren Teile nicht mit dem üblichen Einzelwerkcharakter gezeigt werden könnten.
Auch hatten Landert und sie gemeinsam im Archiv gestöbert, um etwa Originalfotografien Dietrichs heranziehen zu können, die nun als Vergleichsgrössen in die aktuelle Gegenüberstellung integriert sind. Ihre Bezugnahmen seien übrigens schon im Jahr 2015 für eine Ausstellung im Kunstmuseum Olten entstanden und zwischenzeitlich in Teilen etwa an der Werkschau Thurgau oder der ZHdK im Toni-Areal gezeigt worden.
Analyse versus Naivität
Dass Dietrich auch aufgliedernd vorgegangen sei, stehe ausser Frage, auch wenn sein Werk oftmals mit dem Begriff «naiv» beschrieben werde. Anzunehmen sei, dass ihm gewisse Ausprägungen und Verzerrungen dennoch «passiert» sind, dadurch dass seine Malunterlagen nicht etwa hochgestellt waren, sondern auf dem Tisch lagen. Wo er eigens fotografierte Vorlagen verwendet hat, werden seine bewussten Bild-Entscheidungen einsehbar. Verschiebungen und Vorne-Hinten-Bezüge seien typisch für ihn.
Landert ergänzt kunsttheoretisch: «Ein Teil der magischen Bildwirkung bei Dietrich besteht darin, dass er Hintergrund und Vordergrund mit gleicher Akribie behandelt. Das führt bei vielen Bildern dazu, dass wir das Gefühl haben, aus der Tiefe in die Fläche zu kippen.» Der Museumsdirektor spricht vom inkohärenten Bildraum, nicht kohärent im Sinne einer normalen Zentralperspektive. Obwohl Dietrichs Bilder wie Momentaufnahmen aussähen, seien sie gleichzeitig eine Mehrfokussierung auf die Wirklichkeit. Das mache beispielsweise ihren Reiz aus.
Verständnisproduktion
Junge im Vordergrund, Mädchen im Hintergrund und Blumenköpfe, alles gestochen scharf. Das entspricht nicht unserer Vorstellung, die, geprägt von der fotografischen Abbildung, unsere Sehgewohnheit beeinflusst. Kein Verwischen, keine Verunschärfung, keine perspektivische Fokussierung. Kennt der Berlinger die Tricks der akademischen Malerei, mit denen man Räumlichkeit vortäuschen kann?
Zumindest wendet er sie nicht an. Und wo er motivisch unaufhörlich variiert und über das Sehen sinniert, eben da setzt Villiger mit ihren Bildmontagen, Ab- und Umrissstudien an. So entstehen digitale Collagen in überwuchernder Komposition, «neubarocke» Ordnungsgefüge und feingliedrig gefasste Zeichnungen sowie Scherenschnitte und Aquarelle, die erkundend in Dialog treten wollen – mit den Ausgangsbildern, mit sich, mit uns. So entstehen kleine landschaftsarchitektonische Skizzenblätter, die Vervielfältigung und stärkere oder schwächere Abstraktionsgrade erfahren und so das Natürliche vermustern. Und so durchforscht die Künstlerin gerade auch Dietrichs Bleistiftschraffuren, indem sie sie neu zu fassen und formen versucht.
Punktum nach Barthes
Alles in allem erstaunlich, wie das Studium eines Malers eine Künstlerin erfüllen und voranbringen kann und was da regelrecht empirisch-qualitativ unter die Lupe genommen wird. Dass ihre Motivation sich von Sehnsucht nach dem Punkt, wo Worte versagen, ableitet, belegt Villiger durch den Hinweis auf Roland Barthes’ Begriff des Punktum.
Hat sie, im Sinne des französischen Philosophen, nicht längst schon ihre Dietrich-Sache wie mit einem Pfeil durchbohrt und trägt an der Schnittstelle eine Wunde mit sich? Oder umgekehrt. Dass Dietrich aufgrund seines Alleinstellungsmerkmals nicht so einfach in eine Kunstgeschichte einzuordnen sei und dass sie selber bis heute von ihm getroffen werde, lässt Villiger letztlich auch seine Zeitlosigkeit erahnen. Da wahrzunehmen, wo man ist, was ist, das fände sie «super spannend», und das ist in der Tat sehr viel mehr als binsenweise gedacht und gesprochen.
Die Serie «Dietrich und wir»
Die Serie: Dreimal fokussiert, was in der laufenden Ausstellung «Konstellation 11 – Dietrich & Co.» im Kunstmuseum Thurgau zu Gewicht und Relevanz kommt. Für dieses Mal scharfgestellt auf Judit Villiger, in Folge auf Richard Tisserand und schliesslich Christoph Rütimann – exemplarische Künstlerpersönlichkeiten, die sich in direkten Bezug zu Adolf Dietrich stellen. Zu diesem lange ungerechtfertigt belächelten Berlinger, dessen mehr und mehr begreiflicher Einfluss so aufs Beste nachvollzogen werden kann. Die weiteren Beiträge erscheinen während der Laufzeit der Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau.
Die Ausstellung: «Konstellation 11 – Dietrich & Co.» ist bis zum 13. April 2020 im Kunstmuseum Thurgau zu sehen. Details zur Ausstellung gibt es auf der Internetseite des Museums.
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