von János Stefan Buchwardt, 29.11.2024
Fettnapf Theaterkritik
Geschmacksrichter, Schönrednerei, auf den Punkt gebracht: Auch im Thurgau – wie überall – ist die Theaterkritik eine heikle Disziplin. Der Autor fasst sich selbst an die Nase und beschreibt Lust und Tücken der gefürchteten journalistischen Sparte. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)
Die Reise beginnt vor dem ersten Vorhang, falls ein solcher überhaupt noch zum Einsatz gelangt. Bestenfalls kommt man als Theaterkritiker dazu, vorbereitend den Originaltext des zu musternden Stücks zu lesen. Oder man hat ihn zumindest für sich aufgefrischt, falls man nicht sowieso schon inwendig Kenntnis davon hat und es sich nicht gerade um eine Uraufführung handelt. Am Anfang steht also das stille Kämmerlein des Archäologen, der nach Spuren sucht, die die Basis seiner späteren Analyse bilden.
Letztendlich besteht die Kunst der Theaterkritik darin, sehr viel mehr als nur so eine Annahme hinzuwerfen. Da will sich eine Komposition aus Beobachtung, Interpretation und persönlicher Resonanz herausbilden. Um Reflexion komme ich nicht herum. Sich aufrichtigen Herzens solcher Besonderheit zu stellen, weder in die reine Rezension abzugleiten noch einen oberflächlichen Bericht zu fabrizieren, darf niemals darüber hinwegtäuschen, dass am Ende, neben der Freude an der Arbeit, durchaus so manche Fallstrick-Gefahr lauert.
Recherche als Rüstzeug
Inzwischen wandle ich also auf den Spuren von Regisseurinnen und des Ensembles. Entsprechende Auskünfte sind längst eingeholt, mögliche dramaturgische Konzepte abgeklopft. Eine Handvoll Hintergründe im Hinterkopf, historische Kontexte mitgedacht, allenfalls mit einem Überblick über frühere Inszenierungen ausgestattet, darf nun in die Welt der jeweiligen Aufführung eingetaucht werden. Schon fällt der erste Lichtstrahl auf die Bühne. Mit Bleistift und Notizblock ausgerüstet, ist man gewissermassen exponiert.
In der Serie „inside thurgaukultur.ch – wie wir arbeiten“ schreiben unsere Autor:innen über ihren Arbeitsalltag. Sie erklären, wie sie sich für ihre Termine und Texte vorbereiten, auf welchen Wegen sie recherchieren und welchen Herausforderungen sie dabei begegnen. Wir öffnen damit bewusst die Tür zu unserer Werkstatt, damit du besser nachvollziehen kannst, wie wir arbeiten und welche Kriterien uns in unserem Tun leiten.
Damit sollen einerseits unsere Autorinnen und Autoren sichtbarer werden, zudem wollen wir die Bedeutung von Kulturjournalismus damit herausstellen. Denn es stimmt ja immer noch, was Dieter Langhart im Mai für uns geschrieben hat: „Ohne Kulturjournalismus keine Abbildung und Einordnung von Kultur.“
Alle Teile der Serie bündeln wir in einem Dossier.
Eigener Genuss ist in dieser Situation nachgerade nicht erlebbar. Die Sichtweise wird zum multiperspektivischen Ankerwerfen, um sich im oft lichtdichten Dschungel einer Inszenierungsstrategie zu orientieren. Gelingt die Dekonstruktion des Klassikers? Ähnelt das Gezeigte einem überbordenden Gourmet-Menü oder einer Trockenobstschale mit hohem Nährwert? Kostüme, Personenführung, das Drama zwischen den Zeilen … Welche Diskrepanzen tun sich auf, welche Höhenflüge? Welches Stichwort wird aufs Blatt gekritzelt?
Reflexion und Resonanz
Parallel zu den Prozessen sportlicher Durchforstung schleichen sich intuitive Resonanzen ein, leicht oder stark verzögerte Rückmeldungen ans Wachbewusstsein. Wo befinden wir uns auf der Skala zwischen Magie und Katastrophe? Innere Antennen zielen auf Publikumsreaktionen. Erfährt die Zuschauerschaft da, wo sie sich möglicherweise von Alltagssorgen befreien zu können glaubt, gerade das schiere Gegenteil davon? Inwieweit lässt sich das Offensichtliche überhaupt durchdringen? Wo bleibt die Substanz?
Kostümpracht mit nichts dahinter, darunter? Mein Ansinnen als Kritiker: Vorhänge lüften, möglichst ohne mich aufzuschwingen. In den Rausch wie in die Kälte intellektueller Neugier eintauchen, um alchemistischem Verlangen gerecht zu werden, um, Drüsensekrete abschmeckend, den Kern zu erfassen, die Plasmamasse zu erspüren. Die Herausforderung liegt darin, als Chronist des Augenblicks das Ephemere, das Flüchtige handzuhaben. Sich auf etwas berufen, was bauernschlau macht: eine Nacht darüber schlafen.
Stärke in der Balance
Nach der Durchleuchtung beginnt der zielführende Reflexionsprozess. Es geht darum, die Masse an Eindrücken zu rationieren, sie zu atomisieren. Worte sollen Gehalte abrufbar, das Spiel nacherlebbar machen. Nüchternheit verschmilzt mit dem Gestus des Geschichtenerzählers. Bei einem Verriss wird der Brückenbauer manchmal am liebsten selbst von der Brücke gestossen, die er elegant und stabil zwischen der Welt des Theaters und der Aussenwelt errichten wollte. Ungeist wie mutmassliches Scheitern zu benennen, braucht bisweilen (mehr als) Mut.
Mit Demut darf ich mich selbst bezichtigen, selbstverständlich auch nicht immer bravourös unterwegs sein zu können. Rückmeldungen der Leserschaft auf dieser Kulturplattform sprechen etwa davon, im Presseecho selbst die Orientierung verloren zu haben oder mit einer Besprechung einen kaum für möglich gehaltenen Höhepunkt von «Theater-Kritik-Geschwurbel» erreicht zu sehen. Der Anspruch, sich meisterhaft und treffsicher zwischen Ästhetik und Unbarmherzigkeit zu bewegen, kann Nacht- und Angstschweiss verursachen.
Hartes Pflaster
Von einer jahrzehntelangen Provinzialität eines grossen Teils des Schweizer Theaterlebens darf nachweislich ausgegangen werden. In seiner Studie zum Thema «Theaterkritik in der deutschsprachigen Schweiz» geht Tobias Hoffmann-Allenspach noch einen Schritt weiter und attestiert der hiesigen journalistischen Kultur eine nicht eben förderliche Zurückhaltung, die die Entfaltung stilistischer und argumentativer Bravour geradezu verhindere. Ein verdammt hartes Pflaster also, das mutige Recken auf den Plan rufen sollte.
Kühn und dabei fair zu bleiben, heisst, mit geschliffenem Ausdruck zu faszinieren und trotz Scharfzüngigkeit das Verletzungspotenzial persönlichen Angriffs nicht vollends auszukosten. Wenn die Kritik zur arroganten Richterin wird, schadet sie nicht nur dem kritisierten Werk, sondern auch dem Verfasser. Eine destruktive Abhandlung mindert den Erkenntnisgewinn und degeneriert zu einem blossen «Geisseln» des Werks. Schlimmer noch, wenn man in Zeiten von Social Media darum fürchtet, kein aufnahmefähiges Lesepublikum mehr vorzufinden.
Brennende Fragen
Dürfen Veranstalter sich wehren, wenn sie sich geschäftsschädigend behandelt fühlen? Wenn die Aufführung ein offensichtlicher Reinfall war, wird sie auch kein Schokoguss aus gütigen Worten retten. Kulturkritik ist keine Dienstleistung für Veranstalter. Wenn ein solcher nach einer schlechten Besprechung erbost ist, entlarvt er oder sie nur, wie sehr es hier ums Geschäft und nicht um die Kunst geht. Kunstkritik darf nicht den Gesetzen des Marktes unterworfen sein, eine kritikführende Person nicht zum PR-Berater degradiert werden.
Der Dilettant hat eine dicke Haut, solange er gelobt wird, aber ein einfacher Nadelstich genügt, um ihn bluten zu lassen. Man überlegt es sich zweimal, bevor man sagt, es wäre passender, das Laientheater-Ensemble würde in der Pause die Bratwürste wenden. Gute Kritik in der Provinz bedeutet, nicht nur eine fundierte Stellungnahme abzugeben, sondern auch das Management sozialer Dynamiken mitzudenken. Das Kritikerwesen bleibt auf mannigfaltigen Ebenen gefordert – im Thurgau wie in den Kulturmetropolen unserer Welt.
Unter folgendem Link finden sich auch diverse Theaterkritiken unseres Korrespondenten János Stefan Buchwardt:
https://www.thurgaukultur.ch/magazin#/autors=8619/genreGroups=31
Weitere Beiträge von János Stefan Buchwardt
- Visionen mit Bodenhaftung (05.07.2024)
- Zwei starke Frauen (07.06.2024)
- Thurgauer Nachtigall (02.10.2023)
- Am Rand der Welt (08.08.2023)
- Hype mit langem Atem
Kommt vor in diesen Ressorts
- Bühne
Kommt vor in diesen Interessen
- Schauspiel
- Medien
Ist Teil dieser Dossiers
Ähnliche Beiträge
Herr Fässler besiegt die Angst
Therapeutin trifft auf Zyniker: In der Theaterwerkstatt Gleis 5 in Frauenfeld ist mit „Herr Fässler und die Stürme der Liebe“ zu erleben, wie sich eine Puppe von ihrer Puppenspielerin emanzipiert. mehr
Problemfamilie mit Wiedererkennungswert
Die Eigenproduktion „Familienidylle“ des theagovia theater zeigt eine Familie im Ausnahmezustand, der vielleicht gar nicht so ungewöhnlich ist. mehr
«Ich will auch nicht immer in den Abgrund schauen.»
Die Schauspielerin und Produzentin Susanne Odermatt hat sich in den vergangenen Jahren als Spezialistin für Dramen einen Namen gemacht. Jetzt bringt sie eine Komödie auf die Bühne. mehr