von Judith Schuck, 28.08.2025
Wenn die gemeinsame Realität verloren geht

Ein Tanztheater nähert sich dem Zustand des Entrücktseins an: Eine Familie verliert sich in unterschiedlichen Realitäten. „Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde“ ist die zweite Koproduktion von Choreografin Judith Geibel und Dramaturg Georg Kistner. (Lesezeit: 4 Minuten)
Es gibt nicht nur die eine Wirklichkeit. Was wir als Realität erkennen, hängt stark von der eigenen Wahrnehmung, dem momentanen persönlichen Gefühlszustand, unserem Erfahrungshorizont und unserem Fokus ab. Innerhalb dieses Rasters können wir uns aber doch meist auf eine allgemeine Wirklichkeit einigen. Funktioniert dies nicht mehr, driften unsere Welten zu weit auseinander, kann uns dieser Umstand – vor allem, wenn es Menschen betrifft, die uns nahestehen – lähmen.
2024 gewann Tijan Sila mit seinem Text „Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde“ den Ingeborg Bachmann-Preis. 1981 in Sarajevo geboren, floh Tijan Sila 1994 mit seinen Eltern vor dem Krieg in Jugoslawien nach Deutschland. In seinem etwa zehnseitigen Text beschreibt er, wie seine Familie auch nach all den Jahren mit dem Wechsel von ihrer ursprünglichen Heimat nach Deutschland nicht fertig wurde. Sila selbst ist neben seiner Tätigkeit als Lehrer musisch unterwegs, schreibt Romane sowie Beiträge für deutsche Zeitungen. In seiner Jugend spielte er in Punkbands.
Flucht vor Krieg bringt sozialen Abstieg
Seine Eltern waren in Sarajevo Akademiker. Die Ankunft in Deutschland bedeutete für sie einen sozialen Abstieg. „An dem Tag, als meine Mutter verrückt wurde, war sie seit etwa einem Jahr arbeitslos, mein Vater noch länger. Dieser Niedergang hatte den steinernen Hochmut der beiden jedoch nicht brechen können ...“, heisst es ins Silas autofiktionaler Erzählung.
„Du musst mir endlich die Wahrheit sagen, Tijan.“
„Welche Wahrheit?“
„Versprich, dass du mir die Wahrheit sagst.“
„Versprochen. Worum geht es?“
„Wann haben sie dich rumgekriegt?“
„Was meinst du damit? Wer hat mich rumgekriegt?“
„Sie alle. Die Leute vom Amt. Hier und in Bosnien, die Leute vom Amt.“
„Mama, was redest du da?“
„Wie kann einem Leben zustossen? Was macht diese Veränderung von Lebensumständen mit der konkreten Person?“ Das ist eine Frage, die die Konstanzer Tänzerin und Choreografin Judith Geibel an Tijan Silas kurzem Text interessierte. Denn an diesem Tag bemerkt der Erzähler erstmals die Symptome für eine Schizophrenie bei seiner Mutter, auch wenn er die Diagnose zunächst noch nicht kennt.
Annäherung an Gefühlszustand durch Intermedialität
Judith Geibel studierte klassisches Ballett und zeitgenössischen Tanz. Nach Abschluss ihrer Ausbildung 1999 in Stuttgart war sie in erster Linie freischaffend in der Tanzszene unterwegs – in Deutschland, Schweiz und Frankreich, tanzend, als Choreografin oder Tanzpädagogin. Seit einigen Jahren ist bei ihr die Verbindung von Sprache und Tanz mehr und mehr ins Zentrum ihres Schaffens gerückt.
2023 inszenierte Judith Geibel gemeinsam mit dem Dramaturgen Georg Kistner das Tanztheater „Man kann die Wahrheit nicht erzählen“, basierend auf Texten von Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Wegen des grossen Erfolges führten sie es 2024 nochmals auf, in Konstanz und in der Schweiz.
Mit „Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde“ bringen Judith Geibel und Georg Kistner nun ihr zweites Tanztheater auf die Bühne. Es feiert am 3. September Premiere in Konstanz im Kulturzentrum am Münster. „Tanz ist eine abstrakte Sache. Ein erzählendes Tanzstück ist schwer umsetzbar“, erläutert Geibel. Darum sei es gut, noch ein weiteres Medium mit dazu zu nehmen.
Tanz drückt das Unaussprechliche aus
Neben den Tänzer:innen Sofia Carotti und Alex Ferro, beide aus Italien, gehören die Schauspieler Irfan Kars und Martin Schweingruber zum Ensemble. Irfan Kars ist in Stuttgarter Theaterhäusern zu sehen und wirkte in „Tatort"-Produktionen aus Stuttgart mit. Martin Schweingruber, der Tijan Silas Vater mimt, lernte Judith Geibel über das Phönix Theater in Steckborn kennen, wo dieser auch lebt.
Tanz und Schauspiel funktionierten völlig anders, erklärt Judith Geibel, Regie und Choreografie. „Tanz braucht Platz und Musik. Ein:e Schauspieler:in besetzt die Bühne ganz anders. Das ist eine interessante Mischung.“ Wenn sie sich aufeinander einliessen, funktioniere die Zusammenarbeit.
Tanz eigne sich vor allem, um Gefühle, das Unaussprechliche auszudrücken. Zum Beispiel Wut: Judith Geibel sagt, sie kenne es aus persönlicher Erfahrung, dass es mit Wut zu tun habe, wenn jemand nicht mehr in unserer Realität lebt und das auch spürt. „Das Ringen mit sich selbst geht über das Textliche hinaus.“ Mit der Inszenierung des Stücks als Tanztheater möchte sie mit ihrem Team diese Gefühlslage in all ihren Facetten beleuchten und erfahrbar machen.
Düster und tragikomisch
Judith Geibel möchte das Publikum mitnehmen auf einen Ausflug in die Gefühlswelt einer Familie, die keine gemeinsame Realität mehr teilt. Während im Kopf der Mutter zunehmend paranoide Gedanken kreisen, hat der Vater den Spleen entwickelt, an alten, kaputten Elektrogeräten herumzuschrauben, in der Annahme, damit noch Geld verdienen zu können. Dabei stapeln sich diese im ehemaligen Kinderzimmer des Autors. „Sie kommen und kommen nicht zusammen. Ich denke, dieses Gefühl kennt jeder Mensch irgendwoher“, sagt Judith Geibel. Dies sei auch das traurige Bild dafür, was Krieg auslösen könne.
Trotz des düsteren Stoffs gebe es auch tragikomische Momente in ihrer Inszenierung. Die Rolle der Mutter in ihrem entrückten Zustand tanzt Sofia Carotti, die derzeit in Mailand engagiert ist. Den Vater verkörpert Martin Schweingruber (Schauspiel). Die Rolle des Sohns wird getanzt von Alex Ferro aus Zürich und gespielt von Irfan Kars. „Es gibt genügend Möglichkeiten, wie man aus der Realität aussteigen kann“, sagt Judith Geibel zum Inhalt. „Tijan Sila hat das in seinem Text toll auf den Punkt gebracht.“ Für den Tanz brauche sie vielmehr Zustände als Inhalte. „Für mich gilt im Wortsinn: Wir machen Tanz und Theater. Es wird gesprochen, wir haben Schauspiel. Die schweigende Beziehung, die Zwischentöne, werden durch Bewegung und Körperausdruck umgesetzt. Der Tanz übernimmt die Ebene des Unterbewussten.“
Die Inszenierung wird vom Kulturfonds der Stadt Konstanz gefördert. Aktuell läuft zur Kostendeckung noch ein Crowdfunding.
Spieldaten und Reservation
3./4./9./10./30. September und 1./2./3. Oktober um 20 Uhr im Wolkenstein-Saal, Kulturzentrum am Münster, Konstanz.Karten gibt es an der Abendkasse ab 19.15 Uhr oder im Vorverkauf bei der Buchhandlung Homburger & Hepp, Münsterplatz 7, Konstanz sowie unter www.judith-geibel-tanz.de

Von Judith Schuck
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