von Barbara Camenzind, 11.03.2024
Eine Passion für alle
Warum berührt uns Bachs Johannespassion noch heute? Christian Bielefeldt, künstlerischer Leiter und Dirigent des Oratorienchor Kreuzlingen, über Bachs dramatisches Geschick und seine Klangsprache. Am Sonntag, 17. März, führt er das Werk in Kreuzlingen auf. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Christian, wenn du einem Teenager erklären müsstest, was die Johannespassion (BWV 245) ist, was würdest du sagen?
Naja, zuerst ist da die Geschichte, die der Evangelist Johannes aufgeschrieben hat. Das Leiden und Sterben Christi, seine dramatischen letzten Tage von der Gefangennahme bis zu seinem Tod. Das, was man auch Passionsgeschichte nennt. In der Barockzeit gab es viele Komponisten, die das musikalisch geschildert haben. Diese Passionsmusiken wurden dann immer am Karfreitag aufgeführt, auch in den evangelischen Kirchen. Bach war ein evangelisch-lutherischer Kirchenmusikkomponist, wenn nicht gar der wichtigste. Interessant bei diesem Werk: Bach war gerade erst ein paar Monate im Amt (als Thomaskantor in Leipzig, ab 1723), da hat er angefangen, dieses Stück zu komponieren. Und es in kaum fünf Wochen fertig gehabt. Er war endlich in einem Amt, wo er auch die entsprechenden Ressourcen vorfand.
Was ist das Spezielle an Bachs Johannespassion?
Ihre direkte, kraftvolle Sprache. Nicht umsonst gibt es heute immer wieder Versuche, die Johannespassion halbszenisch aufzuführen. Es wird nicht nur erzählt oder andächtig gesungen. Gerade Bachs Johannespassion ist eine Zwischenform mit Figuren, die sprechen, man hört Jesus argumentieren, Pilatus, die Hohenpriester, aber auch Leute aus dem Volk, eine Magd, den Diener. Wie ein Theater ohne Kostüme, ohne Bühnenbild. Es wäre aber nur ein kleiner Schritt zum geistlichen Musiktheater.
„Es wird nicht nur erzählt oder andächtig gesungen. Im Grunde ist es wie ein Theater ohne Kostüme, ohne Bühnenbild.“
Christian Bielefeldt, Dirigent
Um noch einmal als Teenagerin zu fragen: Dann ist die Johannespassion eine Art klingendes Bild, etwa ein Musikkino, das einem die Geschichte erleben lässt?
Es ist nicht nur ein klingendes Bild, es ist auch Handlung. Da gibt es den Tenor als Erzähler, den Evangelisten. Und der bringt die Handlung weiter. Das Werk beginnt ziemlich dramatisch im Garten Gethsemane, wo Jesus wieder auf Judas und die Tempelwachen trifft, die ihn verhaften.
Die Zuhörenden sind sofort drin in der Geschichte. Hatte Bach einen besonderen Zugang zur deutschen Sprache?
Das ist ein interessantes Kapitel. Bach hat erst nach der Johannespassion Dichter gefunden, wie Picander, mit denen er länger zusammenarbeitete. Bei der Johannespassion hat er seine Texte noch selbst zusammengestellt. Er griff auf verschiedene ältere Texte zurück, sowie auf die zweier anonymer Dichter. Da war er eben noch neu in Leipzig und musste schauen, woher er die Texte bekam. Es ist auch zu vermuten, dass er die meisten Choralstrophen selber aussuchte. Die Choräle, die er in der Passion einsetzte, das waren ja Kirchenlieder, die das Volk gut kannte.
Geschickt den Wiedererkennungseffekt genutzt. Aber der Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“ kommt nicht darin vor?
Nein, der kam erst in der späteren Matthäuspassion zur Verwendung. Die Choräle der Johannespassion sind aber nicht weniger eindringlich. Diese barocke Sprache, diese teils merkwürdigen Redewendungen, die wir nicht mehr gebrauchen, haben einen grossen Reiz. Die Sprache ist drastisch und griffig, ich mag das sehr. Und sie ist nicht nur für die damalige Zeit sehr verständlich.
„Die Sprache ist drastisch und griffig, ich mag das sehr.“
Christian Bielefeldt, Dirigent (Bild: Inka Grabowsky)
Bachs Musik, die ganze Konzeption der Johannespassion wirkt sehr konkret und nah an der Handlung, wie ist da dein Eindruck?
Das Starke an diesem Werk ist nicht zuletzt der ständige Wechsel zwischen den Turba-Chören (Turba-Volkshaufen) und dem Evangelisten. Es wirkt, als gebe es ganz schnelle Schnitte, wie bei einem Film. Dann die ganzen Zwiegespräche, die Streitgespräche, die Dramaturgie schaukelt sich hoch.
…und dann Zack. Stillstand. Es ist vollbracht.
Ein ganz besonderer Moment. Den die Altistin zusammen mit der Gambe begeht. Das ist das musikalische Herz der Johannespassion. Bach löst diesen Stillstand wieder mit einem schnellen Wechsel auf: „Der Held aus Juda siegt mit Macht“ und lässt die Sängerin jubilieren.
„Die Johannespassion ist volkstümlicher, leichter verständlich und nahbarer als die Matthäuspassion.“
Christian Bielefeldt, Dirigent
Von der Gambe zu den Tonarten: das Schaffhauser Barockorchester wird in der damals üblichen Stimmung spielen, auf Kammerton a’ 415 Hz gestimmt. Das ist tiefer als die moderne Stimmung.
Was die ‚alte‘ Stimmung betrifft, gibt das der Musik natürlich zusammen mit den barocken Instrumenten eine spezielle Klangfarbe. Der Klang ist zarter und wärmer, aber auch reicher. Zum Orchester, dem Schaffhauser Barockensemble: Die Streicher sind bei uns solistisch besetzt. Da bin ich gespannt und freue mich darauf, wir wollten eine kleine Besetzung. Wir fanden, das sei auch für unseren Chor das Richtige. Zu den Tonarten: Bach ist der Meister des „Wohltemperierten Klaviers“ und hatte grosse Freude daran, dass durch das Aufkommen der temperierten Stimmung nun auch Tonarten mit vielen Vorzeichen wie E-Dur ganz gut klangen. Eine systematische Anordnung der Tonarten, wie er sie beim „Wohltemperierten Klavier“ anwendete, findet sich in der Johannespassion nicht. Aber: Er beginnt bei G-moll und endet in Es-Dur – im letzten Choral mit den ‚lieb Engelein‘, bei dem man sich fragt, warum kommt der denn jetzt noch? Der Schlusschor wäre eigentlich, „Ruht‘ wohl, ihr Heiligen“, da geht es nochmal um den Tod. Ein monumentales Ende. Bach wollte dem aber wohl nochmals eine Aussage hinzufügen – „Herr Jesu Christ. Ich will dich mit Fleiss bewahren“. Es endet mit einem Versprechen! Und der Choral schlägt einen Bogen zurück zum Anfang, dem Chor „Herr, unser Herrscher“ - so wird die Beziehung des Gläubigen zu Gott noch einmal betont.
Als Lehrerin würde ich jetzt sagen: Bach schafft zum Schluss noch einmal einen Alltagsbezug.
Ich finde es auf jeden Fall sehr schön, dass er das Werk so abschliesst. Mit dem Schluss entlässt Bach die Menschen mit einer Frage nach Hause: Wie soll es in unserem Leben weitergehen, was können wir bewahren von dieser Geschichte? Auch wenn wir selbst nicht kirchlich orientiert sind, das beschäftigt uns trotzdem. Der Oratorienchor Kreuzlingen ist ja kein Kirchenchor.
„Mit dem Schluss entlässt Bach die Menschen mit einer Frage nach Hause: Wie soll es in unserem Leben weitergehen, was können wir bewahren von dieser Geschichte?“
Christian Bielefeldt, Dirigent
Es existieren verschiedene Fassungen der Johannespassion. Welche verwendet ihr?
Wir haben uns dazu entschieden, die einzige Fassung aufzuführen, von der gesichert ist, dass Bach sie damals selbst so musiziert hat. Es böten sich auch Mischfassungen an, aber das wollten wir diesmal nicht. Man weiss nicht ganz genau, was in Bachs Kopf vorging, anders als bei der Matthäuspassion gibt es hier keine Fassung letzter Hand. Wir wissen aber, dass Bach sie wenige Monate nach seinem Stellenantritt komponierte und sie schon ein Jahr später ziemlich verändert wieder aufführte. Wahrscheinlich den Umständen geschuldet, passte er das Werk immer wieder an. Dann gab es aber diese vierte Fassung, von der das Material bis heute vorhanden ist und von der man ganz genau weiss, dass er sie so aufgeführt hat. Er kehrte darin im Kern wieder zur ersten Version zurück, allerdings reicher instrumentiert. Der Zeitgeschmack hatte sich verändert. Vielleicht hatte er aber auch einfach mehr Musiker zur Verfügung, wer weiss.
Mit dieser Musik wurde gearbeitet - oft auch aus ganz pragmatischen Gründen.
Ja. Früher habe ich oft Mischfassungen aufgeführt, jetzt ist es umso reizvoller, einmal diese vierte Fassung kennenzulernen, auch wenn man vielleicht hin und wieder etwas vermisst. Und er hat das mit seinem Chor aufgeführt. Da waren ja auch viele Kinder dabei. Die Knaben des Thomanerchors Leipzig hat er auch unterrichtet, nicht nur in Musik, sondern zum Beispiel auch in Kirchenlatein. Und dann hatte er seine Ratsmusiker zur Verfügung.
Noch ein paar Takte zu den Stimmen, angefangen bei den solistischen Partien:
Sie sind für die Darstellung der Gefühlszustände verantwortlich. Barockmusik beinhaltet die Kunst der Affekte. Diese Kunst ist bei Bach so stark herausgearbeitet, wie bei kaum einem anderen Komponisten dieser Zeit. Auch im Wechsel der Gefühlslage und ihrer Direktheit. Für die Sänger gehört die Johannespassion zum Schwierigsten überhaupt im Bereich der Barockmusik. Wir haben in Nik Kevin Koch einen erfahrenen Tenor im Ensemble, der die Partie des Evangelisten und die Arien singt, da der vorgesehene Evangelist, Jonas Salzer, leider erkrankt ist. Das ist eine grosse Leistung! Damit die anderen Solisten nicht zu lange Pausen zwischen ihren Auftritten haben, lösen wir das übrigens so, wie zu Bachs Zeiten: Sie singen zum Teil in den Chören mit.
„Für die Sänger gehört die Johannespassion zum Schwierigsten überhaupt im Bereich der Barockmusik.“
Christian Bielefeldt, Dirigent
Die Säule des grossen Klanggebäudes ist der Chor. Kannst du über ihn etwas erzählen?
Der Oratorienchor Kreuzlingen ist eine Gruppe von sehr erfahrenen Amateursängerinnen und -sängern, von denen viele sich auch regelmässig weiterbilden und in den Gesangsunterricht gehen. Der Wunsch war gross im Chor, eben genau dieses Werk aufzuführen. Ich bin jetzt im dritten Jahr hier und freue mich immer wieder über das grosse Engagement.
Und warum die Johannespassion und nicht die Matthäuspassion? Beziehungsweise, was unterscheidet die beiden Werke Bachs, abgesehen vom Evangelium?
Die Matthäuspassion ist länger und sie ist doppelchörig angelegt. In der Anlage unterscheidet sich die Johannespassion fundamental: Sie ist viel direkter, dramatischer und weniger andächtig. Die Handlung steht viel mehr im Vordergrund. Die Johannespassion ist volkstümlicher, leichter verständlich und nahbarer.
Was ist dein persönlicher Zugang zu Bachs Musik?
Ich stamme aus Norddeutschland und habe in der norddeutschen Kirchenmusiktradition gelebt und gearbeitet. Das hat mich sehr geprägt. Mit diesem Erfahrungshintergrund habe ich versucht, gemeinsam mit dem Oratorienchor Kreuzlingen die richtige Einstellung zu Bachs Musik und der Johannespassion zu finden. Die eben nicht als abgehobene Kunst verstanden werden will. Sondern unmittelbar, harsch, direkt und wunderbar schwungvoll.
Tickets und Termin
Oratorienchor Kreuzlingen, Johannespassion
Sonntag 17. März 2024, 17 Uhr
Kirche St. Stefan, Kreuzlingen-Emmishofen
Mechthild Bach - Sopran
Johanna Rademacher - Alt
Nik Kevin Koch -Tenor / Evangelist
Tobias Wicky – Bass / Jesus
Sascha Litschi – Bass / Pilatus
Schaffhauser Barockensemble
Christian Bielefeldt - Leitung
Tickets:
Voverkauf:
Buchhandlung Bodan AG
Hauptstrasse 35 | 8280 Kreuzlingen
T +41 71 672 11 11
Online:
www.oratorienchor-kreuzlingen.ch
Abendkasse:
Eine Stunde vor Konzertbeginn
Karten zu 50 / 45 CHF
Schüler:innen / Studierende 20 CHF
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