von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 01.11.2022
Eintauchen in Literatur
Eine neue Form des Erzählens: Der Autor Klaus Merz und der Regisseur Sandro Zollinger haben eine virtuelle Lesereise geschaffen. Am 10. November kann man sie im Literaturhaus Thurgau erleben. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)
Lesungen laufen immer gleich ab. Vorne sitzt die Autorin oder der Autor, ihm oder ihr gegenüber nimmt das Publikum in fein sortierten Stuhlreihen Platz. Es wird gelesen, es wird gelauscht und am Ende vielleicht noch ein bisschen geplauscht mit einer mal mehr, mal weniger originellen Moderation. Muss das so sein oder könnte man das vielleicht auch mal anders machen?
Eine Frage, die auch den Regisseur Sandro Zollinger beschäftigt hat. Ebenso wie die Frage, ob es nicht grundsätzlich neue Formen des Erzählens bräuchte. „Ich möchte immer Geschichten erzählen, die herausfordern. Seit dem Auftauchen von Virtual Reality hab ich mich damit beschäftigt, wie mit diesem Medium zu erzählen ist“, sagt Zollinger in einem Interview auf seiner Website.
Und so hat er vor zwei Jahren mit dem vielfach ausgezeichneten Schweizer Autor Klaus Merz eine virtuelle Lesereise konzipiert, der die Zuhörer:innen mit VR-Brillen folgen können. Klang, Bild, Ton - alles verschmilzt und soll zusammen zu einem Literaturerlebnis werden, in das man komplett eintauchen kann.
Trailer zu «Los» von Klaus Merz und Sandro Zollinger
Eine Geschichte über das Leben und den Tod
Basis der Geschichte ist die 2005 erschienene Erzählung „Los“ von Klaus Merz. Darin erzählt Merz von einem Mann, der alleine zu einer Wanderung in die Berge aufbricht und dabei verunglückt. Sein nahendes Ende vor Augen macht er sich Gedanken über das Leben und den Tod. Es geht um Vergänglichkeit, ums Abschiednehmen und darum, den Frieden zu finden.
Ziel des Projektes war es, einen modernen Zugang zu Literatur zu schaffen und gleichzeitig eine neue Form des Erzählens mit Hilfe von Virtual Reality zu schaffen, „die nicht primär auf den Effekt setzt, sondern den Effekt einsetzt, um eine tiefsinnige Geschichte zu erzählen“, heisst es auf der Internetseite des Projektes. Jetzt kann man natürlich sagen: Braucht die Literatur das überhaupt? Kann sie nicht mehr ohne Technik-Schnick-Schnack berühren?
„Unser Ziel war es eine Symbiose zwischen Literatur und Virtual Reality zu finden.“
Sandro Zollinger, Regisseur
Aber darum ging es Sandro Zollinger gar nicht. „Unser Ziel war es eine Symbiose zwischen Literatur und Virtual Reality zu finden, wie wir sie aus der Natur kennen. Ein Zusammengehen von zwei eigenständigen Arten zu ihrem gegenseitigen Nutzen“, erklärt der Regisseur im Interview. „Los“ ist letztlich auch der Versuch, ein neues Publikum für Literatur zu erschliessen.
Weltpremiere feierte das Projekt 2020 beim Sundance Filmfestival. Seither touren Zollinger und Merz quer durchs Land und bringen ihre Lesung zu den Menschen. Am Donnerstag, 10. November, gastieren sie mit „Los“ im Literaturhaus Thurgau. Klaus Merz wird seine Erzählung vorlesen und 25 Zuschauer:innen tauchen gleichzeitig mittels VR-Headsets in eine 360°-Lesung ein, die sie buchstäblich zu Augenzeuginnen und Augenzeugen in einem Hörbuch werden lässt.
„Die Passion von Sandro Zollinger und sein umsichtiges Herangehen an meinen Stoff hat mich überzeugt.“
Klaus Merz, Schriftsteller
Auch für den Schriftsteller Klaus Merz eine neue Erfahrung: „Die Zuhörer:innen in voller VR-Montur, das ist ungewohnt, aber eigentlich wurde mir dann auch rasch deutlich, was auch in üblichen Lesungen der Fall ist: Es sitzen lauter einzelne Menschen im Saal und der Weg zu ihren Herzen und Gedanken haben wir mit unseren jeweiligen Medien naturgemäss nur zum Teil in der Hand“, wird Merz auf der Projekt-Homepage zitiert.
Auf die Frage, was ihn überhaupt bewogen hat, an dem Projekt mitzuwirken, antwortet der Autor: „Die Passion von Sandro Zollinger und sein umsichtiges Herangehen an meinen Stoff hat mich überzeugt“, so Klaus Merz. Für ihn sei das ein lohnendes Experiment gewesen: „Mich schlagen besonders jene Filmbilder in Bann, die mein eigenes Buchstaben- und Imaginationsgehäuse weiten“, erklärt der Autor.
Wie Virtual Reality das Erzählen verändert
Dass eine literarische Geschichte den Rahmen des Projektes fasst, hat sich für Regisseur Sandro Zollinger aus dem Medium Virtual Reality ergeben: „In Virtual Reality übernimmt der Zuschauer einen Teil der Regie. Denn er kann hinschauen, wo er will, er wählt seinen Bildausschnitt selbst. Beim Erzählen will ich, als Regisseur jedoch die Kontrolle. Ich will, dass das für die Geschichte Wichtige gesehen wird. Ich muss also auf die eine oder andere Weise immer wie ein Reiseführer auf einer Stadtrundfahrt winken: Hier gibt es was zu sehen, da ist die Geschichte. Um diesem Umstand radikal auszuweichen, ist die Idee entstanden, die Geschichte vorrangig mit Worten in Form einer literarischen Lesung zu erzählen und mithilfe von Virtual Reality Atmosphäre und Gefühle darzustellen.“
Wer es selbst ausprobieren will: Anmeldungen für die Lesung von Klaus Merz und Sandro Zollinger am 10. November sind ab sofort möglich beim Literaturhaus Thurgau. Eintritt: 10 Franken.
Da nur eine limitierte Anzahl Plätze pro Vorstellung zur Verfügung steht werden zwei Vorstellungen gegeben, die erste um 18.30 Uhr und die zweite um 19.15 Uhr. Im Anschluss an die zweite Vorstellung findet ab 19.50 Uhr das Gespräch mit Klaus Merz, Sandro Zollinger und Gallus Frei statt.
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