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Geschichte wird gemacht

Geschichte wird gemacht
Frauen waren eine wesentliche Stütze der Bandweberindustrie im Bergischen Land. In der Geschichtsschreibung wurde das lange nicht so berücksichtigt. | © Freilichtmuseum Lindlar

Museen prägen unser Geschichtsbild wesentlich. Aber zeigen sie uns auch alle Aspekte dieser Geschichte? Eine Tagung in Frauenfeld zeigt: Vieles wird noch zu wenig beleuchtet.

In einem Museum wird gezeigt, wie es war. Werden Ereignisse geschildert, wie sie sich wirklich zugetragen haben. Dafür sorgt schon die fundierte wissenschaftliche Bearbeitung, die jeder Ausstellung zu Grunde liegt. Denkt man. Und es ist sehr wahrscheinlich für die Dinge, die gezeigt werden auch so. Aber was ist mit den Dingen, die nicht gezeigt werden? Oder den Geschichten, die nicht erzählt werden? Jede Ausstellung ist eine Auswahl des Zeigbaren. Kuratoren wählen das aus. Und das gleich auf doppelter Ebene: Sie entscheiden zunächst, was in die Sammlung eines Museums kommt, was als repräsentativ gilt und was nicht. Und auf Basis dieser Selektion selektieren sie für eine einzelne Ausstellung erneut. 

Diese Entscheidungen treffen sie nicht nur als Fach-Kuratoren, sondern auch als Menschen, die ganz individuell geprägt sind. Vor allem in der Industrie- und Wirtschaftsgeschichte ist das ein Problem, weil an den entscheidenden Positionen in den vergangenen Jahrzehnten Menschen sassen, die vor allem männlich, weiss und eher älter waren. Ihre Perspektive ist die Perspektive, mit der wir uns auch noch in Jahrzehnten an die Geschehnisse vor Jahrhunderten erinnern. Aber ist das eine Perspektive, die für die gesamte Gesellschaft stehen kann?

„Gerecht“ ausstellen - wie geht das?

Das ist der Ausgangspunkt einer bemerkenswerten Tagung, die Mitte September auf Einladung des Historischen Museums in Frauenfeld stattgefunden hat. Matthias Ruoss und Sarah Probst von der Universität Bern haben das Programm unter dem Titel „Arbeit, Geschlecht und Migration. Wirtschaftsgeschichte „gerecht“ ausstellen - wie geht das?“ konzipiert. „Wir wollen den Museen ihre Rolle als Geschichtsmacher bewusst machen. Museen zählen schliesslich zu den Einrichtungen, die ein Geschichtsbild prägen“, umreisst Ruoss im Gespräch mit thurgaukultur.ch das Ziel der Tagung. Nimmt man Museen als Orte des gesellschaftlichen Diskurses ernst, dann sind das ja tatsächlich höchst relevante Fragen heute: Wie kann ein Museum ausstellen, ohne auszuschliessen? Und wie können bislang an den Rand gedrängte Gruppen berücksichtigt werden, ohne sie als Fremde und Andere zu charakterisieren?

Wie so eine Nicht-Berücksichtigung in der Geschichtsschreibung aussehen kann, haben Petra Dittmar (Freilichtmuseum Lindlar) und Carmen Scheide (Universität Bern) bei der Tagung veranschaulicht. Anhand von Beispielen aus der Bandweberindustrie und dem Unternehmen Maggi, zeigten sie, dass Frauen in diesen Geschichten bislang kaum eine Rolle spielten. Dabei hätten sie doch eine relevanten Beitrag in beiden Bereichen geleistet. Beispiel Maggi: Obwohl immer 30 bis 50 Prozent der Beschäftigten dort Frauen gewesen seien, gebe es bislang „keine umfangreiche Forschung zur Frauenarbeit“ in dem Unternehmen, erklärte die Historikerin. Mangel an Themen könne nicht der Grund dafür sein, so Scheide weiter: „Frauen in der Mitbestimmung/Gewerkschaft, der Wandel der Frauenarbeit, biografische Erfahrungen von Arbeiterinnen, Konflikte am Arbeitsplatz zwischen Männern und Frauen sind nur ein paar Ansätze, wie man die Geschichte im Sinne einer Gendergerechtigkeit weiter erforschen könnte.“

Partizipation als Schlüssel zu mehr Vielfalt

Wie nun damit umgehen? Stefano Mengarelli hat seinen eigenen Weg gefunden. Er lässt die Besucher einfach mitbestimmen, was gezeigt wird. Partizipation ist das grosse Schlüsselwort in Mengarellis Arbeit. Seit 2017 ist er Leiter des neu aufgestellten museum schaffen in Winterthur. In seiner jüngst zu Ende gegangenen Ausstellung „Zeit. Zeugen. Arbeit.“ hat er mit einem sehr interdisziplinären Ansatz (Szenografie, Theaterregie, Soziologie) und unter Beteiligung von 35 ganz normalen Menschen den Wandel der Arbeitswelten aus dem Blickwinkel der Menschen betrachtet. Statt Vitrinen und Schautafeln haben in einem alten Lokschuppen die Menschen selbst von diesem Wandel erzählt. Für die Besucher war die Ausstellung aufgebaut wie eine Art Betriebsbesichtigung. 

«Wir sollten uns als Ausstellungsmacher nicht immer als allwissend betrachten.»

Stefano Mengarelli, museum schaffen

  

Dieser dialogische und theatrale Ansatz hat wohl auch damit zu tun, dass Stefano Mengarelli ursprünglich vom Theater kommt. Er sagt: „Wir sollten uns als Ausstellungsmacher nicht immer als allwissend betrachten, wir dürfen die Perspektive der Menschen nicht vergessen.“ In letzter Konsequenz ist das ein radikaler Ansatz, weil er die Art und Weise des Museumsmachens von Grund auf ändert. Mengarelli plädiert zum Beispiel auch dafür, die Relevanz einer museumseigenen Sammlung auch aus dem Blickwinkel der Lebensumstände der potenziellen Besucher zu betrachten. Sich also immer die Frage zu stellen, was könnte die Menschen heute an den Archivalien von damals interessieren? Gibt es eine Brücke aus der Vergangenheit in die Gegenwart? 

Die konkrete Ausstellungsgestaltung von „Zeit.Zeugen.Arbeit“ begann mit einer Ausschreibung, in der das Museum nach Freiwilligen suchte, die Teil des Projektes werden wollten. 70 Leute hatten sich daraufhin gemeldet, 35 haben am Ende mitgewirkt in verschiedenen Funktionen. Von der 24-jährigen Studentin bis zum 84-jährigen Pensionär sei alles dabei gewesen, erklärt Mengarelli. In jeweils einstündigen Einzelgesprächen mit jedem Freiwilligen haben die Kuratoren versucht herauszufinden, wie man die Geschichten der einzelnen Menschen in das grosse Ganze integrieren kann. 

Video: arttv.ch über das museum schaffen

Das Problem: Am Ende kommen nur die, die ohnehin gerne reden

Ziel war es, möglichst viele Blickwinkel auf das Thema Arbeitswandel zu bekommen und in diesem Sinne ein „gerechteres“ Abbild zu zeigen, als das bei sonstigen Ausstellungen üblich ist. Dass man allerdings selbst so nicht alle erreichen kann, mussten die Winterthurer Ausstellungsmacher auch lernen. „Uns fehlte zum Beispiel die Sicht von Migranten auf das Thema“, sagt Mengarelli. Aus der Gruppe hatte sich schlicht niemand auf den Aufruf des Museums gemeldet. Das zeigt ein bisschen auch die Grenzen dieses Modells: Auf einen öffentlichen Aufruf hin werden sich immer nur Menschen melden, die ohnehin gerne von sich erzählen. Bestimmte Perspektiven bleiben auch so zwangsläufig ausgeblendet. Da braucht es dann zusätzliche Anstrengungen von Kuratoren, um diese Blickwinkel doch noch einzubinden. In Winterthur hat man sich schliesslich damit beholfen, diese Aspekte über einzelne Ausstellungsobjekte zu erzählen. 

Klar wurde bei der Tagung auch: Partizipation allein ist kein Allheilmittel im Museumsbetrieb. Es reicht nicht aus, einfach Bürger ins Boot zu holen und dann darauf zu hoffen, dass das schon genug Repräsentation ist. Die Arbeit von Wissenschaftlern und Kuratoren bleibt nach wie vor die Basis jeder Ausstellungsarbeit. Ohne sie gibt es keine Einordnung, keinen Überblick, sondern nur ein Durcheinander verschiedener Perspektiven. Gleichsam müssen Kuratoren und Wissenschaftler bereit sein, ihren Blick zu weiten über die üblichen Themen und eigenen Interessen hinaus. Eine Angst vor dem möglichen Verlust von Deutungsmacht ist da ein schlechter Ratgeber und führt nicht zu der nötigen Offenheit, sondern zum Verharren in alten Mustern. Diese Debatten über Partizipationsmodelle werden natürlich trotzdem kommen. Und es ist richtig und wichtig sie in jedem Einzelfall zu führen. Vielleicht können die Museen hier auch ein bisschen vom Theater lernen: Die Auseinandersetzungen über die so genannten Bürger-Bühnen verliefen strukturell sehr ähnlich.

Wie das Museum der Zukunft aussehen könnte

Wie stellt man nun gerechter aus? Die Tagung hat den Teilnehmern keine To-Do-Liste an die Hand gegeben, wie das gehen könnte. Aber darum ging es ja auch gar nicht. Es ging darum, das Bewusstsein zu schärfen, sich nochmal klar zu machen, wo die eigene Herkunft den Blick auf das Thema stärker prägt als sie es sollte. Das grösste Verdienst der Tagung war vielleicht dies: Dass sie eine Ahnung vom Museum der Zukunft verschafft hat. Und das ein Schlüssel zu einer gerechteren Ausstellungspraxis in einer grösseren Diversität liegt. Diversität in den Geschichten, die erzählt werden in einer Ausstellung. Diversität aber auch in den Entscheidungsgremien, die zu einer Ausstellung führen. Mit anderen Worten: Es braucht mehr Randgruppen auf dieser Ebene, damit deren Perspektiven auch eine Stimme bekommt.

Gabriele Keck, Direktorin des Historischen Museums 

«Wir brauchen eine andere Sammlungspolitik, um die pluralistische Gesellschaft des 21. Jahrhunderts zu dokumentieren.»

Gabriele Keck, Direktorin Historisches Museum Thurgau

  

Für Gabriele Keck, Direktorin des Historischen Museums Thurgau und damit Gastgeberin der Tagung, ist das eine der grössten Herausforderungen in der Zukunft: „Wie schaffen wir es, die verschiedenen Perspektiven der modernen pluralistischen Gesellschaft abzubilden? Ich bin überzeugt, dafür brauchen wir eine andere Sammlungspolitik als bislang, um die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts angemessen zu dokumentieren“, so Keck im Gespräch mit thurgaukultur.ch Mit dem Digital-Projekt meineindustriegeschichte.ch hat das Historische Museum bereits gezeigt, wie ein zukünftiges Museum auch arbeiten kann. Auf der Internetseite erzählen ganz normale Menschen in Videos von ihrem Arbeitsalltag, von italienischen Gastarbeitern oder von persönlichen Schicksalen. Das Projekt wurde von der Schweizerischen Nationalbibliothek in das bundesweite «Webarchiv Schweiz» aufgenommen. Die Nationalbibliothek sammelt unter diesem Verzeichnis bedeutungsvolle Internetseiten und dokumentiert deren Wandel für die Nachwelt. 

Auch deshalb geht Gabriele Keck bestärkt aus der Tagung heraus: „Sie hat gezeigt, dass wir mit unserem Kurs, einen stärkeren Fokus auf pluralistische Ansätze zu legen, richtig liegen“, so die Museumsdirektorin.

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