von Bettina Schnerr, 04.07.2022
Jägerin des verborgenen Schatzes
Geschichten aus Glas: Ein mehrjähriges Forschungsprojekt und ein neues Buch dokumentieren und erklären die interessantesten Glasmalereien aus dem Thurgau. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Man kann reich an Schätzen sein und es nicht einmal ahnen. Unter den Kunstschätzen zählen historische Glasmalereien zu solchem Reichtum. Im Gegensatz zur Malerei sind ihr Charme und ihre Geschichte bislang eher Sache für Experten, weniger für die breite Bevölkerung. Das könnte sich in diesem Jahr ändern.
Pünktlich zum „Jahr des Glases“, das die UNO ausgerufen hat, konnte eine Forschungsgruppe des Vitrocentre Romont eine detaillierte Forschungsarbeit zur Glasmalerei im Thurgau abschliessen. „Solche Scheiben hatten Tradition als Schenkung, mit denen sich vor allem verschiedene Machtinhaber, Zünfte, aber auch wohlhabende Familien in Szene setzten,“ erzählt Sarah Keller, die das Romonter Forschungsprojekt leitete.
Internationales Jahr des Glases
Vor allem im 15. und 16. Jahrhundert waren solche Scheiben Mode und profitiert haben sowohl Kirchen und Klöster als auch Rathäuser und Zunfthäuser. „Vor allem bei älteren Schenkungen kam sicher die Überlegung hinzu, sich damit Seelenheit zu erkaufen.“
Dank dem Fokus auf kirchliche Einrichtungen mit gründlicher Buchführung und oft gut erhaltenen Archiven, hatte Keller viel Material für ihre Recherchen. Mehr als 50 Kirchenarchive besuchte das Team. Zu den gängigen Unterlagen gehören Briefwechsel mit Bitten um solche Glasspenden, Abrechnungen mit Handwerkern oder gar Aufzeichnungen über Trinkgelder, die die Transporteure solcher Scheiben erhielten — alles mit dem Ziel, Herkunft und Motive zu entschlüsseln.
Eine langwierige Arbeit: „Der Impuls zur Forschungsarbeit kam von der Denkmalpflege und bis 2015 wurde zunächst ein Vorinventar erstellt,“ erzählt Keller. „Es gab viele bislang weitgehend unbekannte Scheiben zu entdecken.“
Aufwändige Vorarbeiten
Neben der eigentlichen Erfassung von Scheiben legten Keller und das Team gleich noch den Grundstein für künftige Publikationen zur Glasmalerei. „Erstmals in einem Projekt des Corpus Vitrearum Schweiz sind Werke ab dem 19. Jahrhundert erfasst,“ sagt Keller.
„Dafür mussten zunächst neue Kriterien für die wissenschaftliche Datenbank Vitrosearch erstellt werden.“ Dies betraf zum Beispiel einfacher dekorierte Fenster aus dem Historismus, zusammengesetzt aus vielen, aber dafür immer gleichen Glaselementen. Erfasst man sie alle oder nur einzelne davon?
Recherche dauerte fünf Jahre
Die eigentliche Recherche zu den Thurgauer Glasmalereien zog sich über fünf Jahre. „Als wir anfingen, waren etwa 310 vor 1800 entstandene Scheiben bekannt,“ erzählt die Expertin. Allesamt wurden sie mit Fotos in die Datenbank aufgenommen und Stück für Stück mit detaillierten Daten ergänzt – soweit das Team ihnen auf die Spur kommen konnte.
Mitunter tauchen Wappen auf, die heute nicht mehr zugeordnet werden können. Aber meist findet die Expertin eine Lösung: „Es gibt schwierig lesbare Bildthemen,“ sagt sie. „Oft helfen mir aber Erfahrungen mit dem Grundrepertoire typischer Motive weiter. Manchmal gibt es sogar Bildlegenden.“
Und so, wie Keller die alten Handschriften in Klöstern nach Schlagwörtern wie „Wappen“ durchforstet, erledigt sie das auch online: „Selten, dass ich nicht fündig werde.“ Es gibt zum Beispiel Heiligenlexika oder Bilddatenbanken, in denen sich alte Drucke finden, aus denen Motive übernommen wurden. Eine früher gängige „Kopierpraxis“, die heute die Aufarbeitung erleichtert.
Unbeliebt und in Ungnade gefallen
Dass von den vielen Wappenscheiben heute nicht mehr allzu viele erhalten sind, hat unterschiedliche Gründe. Wurden Gebäude zerstört, gingen freilich auch die Scheiben zu Bruch. Von einigen Scheiben trennten sich die Besitzer wegen ihrer Herkunft auch ganz bewusst und nicht zuletzt veränderten sich die Moden. Dieses Phänomen zieht sich bin ins Heute.
Zwar erlebte die Glasmalerei im 19. Jahrhundert ein Revival, doch sehr nachhaltig war es nicht. „Bis in die 1950er Jahre wurden zahlreiche Fenster ausgebaut, weil man die ‚alten Sachen‘ nicht mehr in der Moderne haben wollte,“ weiss die Kunsthistorikern. „Die Scheiben wurden entsorgt oder landeten auf Dachböden und in Lagern.“
Zum Beispiel Frauenfeld
Ein bekanntes Beispiel sind die Fenster der Frauenfelder St. Nikolaus-Kirche. Sie wurden etwa 60 Jahre nach ihrem Einbau auf Drängen des damaligen Denkmalpflegers schon wieder ausgebaut, weil der in den Scheiben eine „katastrophale Unterqualität“ ausgemacht haben wollte. Die Scheiben landeten im Kirchenestrich und erhalten sind nur noch Fragmente.
Oft aber geht bei eingelagerten Funden das Wissen um den Ursprung verloren. Selbst bei eingebauten Fenstern kann das passieren, denn wer Scheiben für den Bau brauchte, bediente sich früher gerne aus Resten anderer Gebäude. „Dass wir für den Katalog 40 Wappenscheiben auftreiben konnten, die zuvor nicht bekannt waren, liegt an einer sehr gründlichen Recherche,“ sagt Keller. „Manchmal erhalten wir aber tatsächlich Anfragen von Leuten, die Zufallsfunde auf dem Dachboden gemacht habe und mehr dazu wissen möchten.“
Internationaler Scheibenhandel
Interessant ist, welche Wege jene Scheiben genommen haben, die den Ausbau überstanden haben. Mit ihnen entwickelte sich ein reger Handel, denn gefragt waren sie im Thurgau ja nicht mehr. Sammler aber gab es schon früh und oft waren sie nicht einmal spezialisiert. Gesammelt wurde, was dekorativ war.
Noch dazu waren die Thurgauer Wappenscheiben recht klein und damit gut zu transportieren. „Etwa 600 Schweizer Scheiben wissen wir etwa in einer Kirche Großbritannien,“ sagt Sarah Keller. „Manche davon sind eingebaut worden, aber ohne auf ihren Inhalt zu achten. Sie stehen zum Beispiel auf dem Kopf.“
Datenbank und Begleitband ergänzen einander
Während sich die Datenbank ausschliesslich auf Glasmalereien beschränkt, die sich noch im Thurgau befinden, ergänzt der Begleitband die Arbeit von Sarah Keller mit Hintergründen zum Stiftungswesen. Auch Scheiben, die nicht mehr im Thurgau sind, ziehen die Autorinnen Keller und Katrin Kaufmann heran, um Motive, Werkstätten oder religiöse Strömungen beleuchten zu können.
Da hier lange Kirchen für beide Konfessionen geöffnet waren, boten die Fenster bei jedem Bau oder Umbau Gelegenheit, sich neu zu profilieren. Sämtliche Glasscheiben sind bei Licht betrachtet nicht nur strahlend schön und farbig, sie sind auch Zeugnis eines facettenreichen Kunsthandwerks und seiner Hintergrundgeschichte im Thurgau.
Das Forschungsinstitut Vitrocentre Romont
Das Vitrocentre Romont forscht auf dem Gebiet der Glasmalerei, der Hinterglasmalerei und des Glases. Es ist dem internationalen Forschungsunternehmen Corpus Vitrearum angeschlossen, das sich die Inventarisierung und systematische Veröffentlichung von Werken und Quellen zur Aufgabe gemacht hat. Das zugehörige Vitromusée Romont sammelt und zeigt historische und zeitgenössische Objekte, die Geschichte der Glaskunst. Die Online-Datenbank Vitrosearch dokumentiert die Arbeiten des Instituts und macht sie Forschung und Publikum zugänglich.
Das Buch
Die Glasmalereien vom Mittelalter bis 1930 im Kanton Thurgau
Corpus Vitrearum Schweiz, Reihe Neuzeit, Band 8
De Gruyter 2022
Sarah Keller und Katrin Kaufmann
Herausgegeben von: Vitrocentre Romont
ISBN (gebunden): 978-3-110751031
Ebook: Open access
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