von Bettina Schnerr, 14.11.2022
Plötzlich Hauptfigur
Lesung oder Literaturverfilmung? Die Virtual-Reality-Version der Erzählung «Los» ist beides und noch viel mehr. Sie versetzt das Publikum mitten in die Geschichte. Was für ein Erlebnis! (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Statt im Dachstock des Literaturhauses sitze ich mitten in einem gemütlich dunklen Café. Vor mir steht ein leeres gelbes Sofa, links eine Bar, an der zwei Frauen miteinander schwatzen. Auf der anderen Seite und hinter mir kleine Grüppchen, die entspannt in den Abend starten. Und plötzlich bin ich alleine im Raum mit Klaus Merz, „nur noch Sie und ich“.
Das Café hat sich schlagartig geleert, Merz hat auf dem Sofa Platz genommen. „Schauen Sie sich ruhig um,“ sagt er noch. Kurz darauf schlägt er das Buch auf und beginnt mit dem Erzählen von „Los“. Das Bild um mich herum verändert sich.
Mitten aus einem Nebel heraus erzählt Merz weiter, während ich mich auf einer Wiese oberhalb einer kleinen Schweizer Stadt wiederfinde, dem Zuhause der Hauptperson Thaler.
Hier haben alle den besten Platz
Es gab einmal einen Werbeslogan, der hiess „Mitten drin statt nur dabei“. Wäre der nun nicht schon besetzt, müsste man ihn für dieses Projekt umgehend erfinden. Filmemacher Sandro Zollinger hat die Geschichte nicht einfach verfilmt, sondern ein Virtual-Reality-Erlebnis daraus gemacht.
Im Gepäck von Klaus Merz steckt also ausnahmsweise kein Exemplar des Buchs, mit bunten Markierungen für jene Passagen, die gelesen werden sollen. Das Gepäck des Duos Zollinger-Merz besteht aus mehreren Kisten voller VR-Brillen und den zugehörigen Kopfhörern.
Doppelte Erzählebene eingezogen
Die Brillen sorgen dafür, dass mein Erlebnis ablenkungsfrei abläuft. Wobei Ablenkung sich auf das Umfeld bezieht, das sonst übliche Stühlescharren oder Raunen. Es fällt weg. Statt dessen drehe ich mich in alle Richtungen. Denn die Beschreibung als „360°-Film“ ist etwas untertrieben.
Die Erzählung fühlt sich doppelt erzählt an. Manchmal, als sei ich eine Beobachterin, die leicht von oben auf das Geschehen schaut. Manchmal, als sei ich selbst jener Thaler, der eines Tages in den Zug steigt und zu einer Wanderung aufbricht, von der er nie zurückkehren wird.
Ein Film (fast) ohne Schauspieler
Die Erzählung „Los“ stammt aus dem Jahr 2005 und Merz verarbeitet darin eine wahre Begebenheit. Mehrere Jahre zuvor verschwand ein Freund spurlos auf einer Wanderung; er ist bis heute verschollen. Bei Klaus Merz wird dieser Freund zu einem Mann, der Halt im Leben sucht und just auf seiner unwissentlich letzten Reise mit sich selbst ins Reine kommt.
Zollinger war von Beginn an klar, dass sich der Film nicht um die Geschichte selbst drehen sollte: „Der Text bleibt die Hauptlinie und trägt die Geschichte,“ erklärt er nach der Vorführung im Gespräch. „Die Bilder schaffen statt dessen die zugehörige Atmosphäre und dürfen den Text nur unterlegen.“
«Sein bisheriges Leben nichts als Aufschub, Stundung, Geplänkel. Nun gilt es ernst. – Endlich.»
Aus: „Los“, Klaus Merz
Denn Bilder wirken stärker als Worte. Sollen sie also einen anderen Zweck haben als üblich, muss man filmisch anders denken und umsetzen. „Zu viele Bilder würden gegen den Text arbeiten,“ weiss Zollinger. Daher lässt er sie gegen Ende immer weniger werden. Das tut nicht nur der Filmwahrnehmung gut.
Die Attraktion, die VR-Brille nach Kräften auszuprobieren und in alle denkbaren Richtungen zu schauen, ist vor allem am Anfang gross. Das belebte Café zu Beginn ist also nicht nur atmosphärisch eine wunderbare Wahl. Ich kann mich mit dem Medium „austoben“, bis ich selbst besser in der Welt von Thaler angekommen bin.
Verdichtung auf die Spitze getrieben
Klaus Merz‘ Erzählung hat schon im Taschenbuch kaum 90 Seiten. „Merz ist ein Meister der Verdichtung und es ist ein Wunder, dass sich die Geschichte noch weiter konzentrieren liess,“ stellt Gallus Frei fest, Programmleiter des Literaturhauses Thurgau.
Als so ein Meister stellte sich auch Sandro Zollinger heraus. Er kannte die Geschichte bereits länger und wollte mit der filmischen Umsetzung etwas weitergeben, was ihn selbst berührt hatte. Er kontaktierte Klaus Merz mit seiner Idee.
«Sandro Zollinger hat eine Entsprechung gefunden, wie bei einer Übersetzung in eine andere Sprache.»
Klaus Merz, Autor
Überzeugt hat den Schriftsteller der Textvorschlag, den Zollinger ausgearbeitet hatte: „Daran habe ich gemerkt, dass ich der Idee vertrauen kann,“ sagt Merz. „Darin steckte auf Anhieb der richtige rote Faden. Sandro Zollinger hat eine Entsprechung gefunden, wie bei einer Übersetzung in eine andere Sprache.“
Einen Schmerz über das all das nicht umgesetzte verspürt er nicht: „Wäre die Anfrage zwei Jahre nach Erscheinen gekommen, hätte ich vermutlich nein gesagt,“ erzählt Merz. „Aber inzwischen habe ich eine Distanz zum Geschehen und auch eine zum Buch. Da konnte ich gut loslassen und die Story jemand anderem überlassen.“
Eintauchen in die Realität eines anderen
Letztlich überlässt auch Zollinger die Story bis zu einem gewissen Grad jemand anderem, nämlich mir. Er weiss nicht, wohin ich schauen werde und was mich anspricht. Mir spielen keine Schauspieler eine Geschichte vor, ich erlebe sie selbst.
Ich stehe an Thalers Arbeitsplatz und kann aus seinem Fenster schauen. Auf dem Tisch liegen Apfelschnitze und viele Notizen. Die Stimme von Merz erzählt von einem Philosophiebuch – tatsächlich liegt es vor mir auf dem Tisch. Aber dass der Fernseher zu meiner Linken läuft, übersehe ich.
Als Thaler auf seine Reise geht, verändern sich die Bilder. Immer mehr erlebe ich seine Emotionen. Der Zug, in den er steigt, wird sich ins Meer bewegen, das er immer so geschätzt hat. Ich sitze am Grund eines kühlen Baches und als ausgerechnet in diesem Augenblick ein kühler Luftzug durch den Dachstock geht, fühlt sich die Szene noch viel intensiver an.
Ich bin für mich alleine, so, wie sich Thaler fühlt. Eine ideale Kombination und wie Gallus Frei später sagt, ist „Los“ für dieses Projekt geradezu massgeschneidert.
Die Technik dahinter
Sicher ebenso faszinierend wie die VR-Lesung ist die Technik, die das immersive Erleben möglich macht. Zollinger hat mit insgesamt sechs Kameras gearbeitet, die zeitgleich mit 180°-Grad-Linsen von einem speziellen Rack, einer Haltevorrichtung an der alle Kameras montiert waren, aus drehten.
Dabei entstanden sechs Filme, die am Computer nahtlos zusammengefügt werden mussten. Im Gegensatz zur üblichen Filmproduktion, wo gedrehte Szenen sofort geprüft werden können, sah der Filmemacher erst in der so genannten Postproduktion, wie gut die Szenen geworden sind.
Beim Dreh war der Regisseur im Schnee vergraben
Und auch das Filmen selbst erlebt er nicht: „Bei den Szenen im Schnee haben wir uns zum Beispiel einige Meter weiter eingegraben, damit niemand auf den Bildern zu sehen ist, der nicht drauf sein soll.“
„Anschliessend sass ich mit der VR-Brille auf dem Kopf vor dem Computer und habe meine Notizen eingetippt,“ erzählt der Filmemacher. Eine spezielle Erfahrung, denn die Tastatur konnte er dabei natürlich nicht sehen. Ich weiss, was er meint. Für meine üblichen Notizen, die ich während einer Veranstaltung aufs Papier schreibe, musste ich mir auch etwas einfallen lassen.
Trailer zum Projekt
Jedes Mal ein neues Erlebnis
Könnte ich die Geschichte noch einmal erleben, würde ich das sofort tun. Klaus Merz hatte dieses Glück bereits mehrfach: „Ich habe den Film gut ein Dutzend Mal gesehen und sehe jedes Mal etwas anderes. Es ist nicht immer dasselbe Erlebnis.“
Die Bilder, die Sandro Zollinger gefunden hat, faszinieren ihn nach wie vor. Dazu gehört zum Beispiel ein Bild aus dem Spätwerk von Henri de Toulouse-Lautrec, über dessen Motiv mit zwei Rittern zu Pferd Thaler im Buch sinniert. Im Film weitet sich das Gemälde zu einer Wüstenei, die die Szene komplett umschliesst.
Ganz besonders hat es ihm der Schluss angetan. Der Winter, in dem Thaler verschwunden ist, geht vorüber und die ersten Krokusse brechen durch die Schneedecke. Für ihn ein erschütternd schönes Bild: „Ein starkes Symbol dafür, dass wieder etwas zu leben beginnt und Fuss fasst,“ findet er. „Gleichzeitig drückt es auf zarte Weise aus, dass Thaler im Leben angekommen ist im Tod.“
Der SRF hat über Merz‘ Erzählung „Jakob schläft“ einmal geschrieben: „Das müssen Sie gelesen haben.“ Nach 25 Minuten Virtual Reality sage ich nun zu „Los“ mit grosser Überzeugung: „Das müssen Sie gesehen haben.“
Das Buch
Klaus Ernst. Los. Haymon Verlag, Innsbruch
88 Seiten
ISBN 978-3-85218-922-2
Mehr zum Virtual-Reality-Projekt gibt es auf der Website: https://losvr.ch/
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