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Kopfkunst trifft Bauchkunst

Kopfkunst trifft Bauchkunst
2016 kamen viele Besucher zur Werkschau Thurgau. 2019 findet die dritte Auflage der Grossveranstaltung statt. Ab sofort können sich Künstlerinnen und Künstler dafür bewerben. | © Michael Lünstroth

Mehr als 70 Kunstpositionen, 79 Künstlerinnen und Künstler und sieben Standorte: Die Werkschau Thurgau 2016 ist ein Abbild der modernen Kunst aus dem Kanton. Manches spektakulär, manches banal: Die Ausstellung gibt einen guten Überblick über den Stand der zeitgenössischen Kunst. 

Von Michael Lünstroth

Es herrscht klassisches Couchwetter an diesem Samstag. Der Regen will nicht aufhören, der Wind ist frisch, die Pfützen auf den Wegen und Strassen werden jede Minute tiefer. Da will man eigentlich nicht raus. Sondern auf der Couch bleiben und sich am liebsten durch die neuesten Serienempfehlungen bei Netflix klicken. Andererseits gibt es dann an diesem Samstag doch einen Grund, sich nach draussen zu wagen: Die grosse Werkschau Thurgau wird an sieben verschiedenen Standorten eröffnet und wer wissen will, wie es um das Kunstschaffen im Kanton bestellt ist und was Künstler heute so beschäftigt, der ist dort genau richtig.

Gegen 14 Uhr an diesem Samstag haben sich das offenbar einige Menschen gedacht. Sie stehen vor dem Shed im Eisenwerk oder sind schon drin und werfen erste Blicke auf die neuen Arbeiten. Dabei war die Eröffnung eigentlich erst für den Abend geplant, aber die Neugier der Menschen war nicht zu stoppen. Und so schlendern die ersten Besucher durch die Schau während die Künstler noch an letzten Kleinigkeiten feilen. Vor der Tür steht Gioia Dal Molin, die Beauftragte der Kulturstiftung des Kantons, der Veranstalter dieser Werkschau, und wirkt ein bisschen angespannt. Die Arbeit der vergangenen Wochen war intensiv. Jetzt wird sie an das Publilum übergeben. "Ich bin auch froh", sagt Dal Molin, "jetzt gibt es nur noch logistische Probleme zu lösen. Die inhaltliche Arbeit ist abgeschlossen." 

Die wichtigste Logistik des Tages: Die Besucher auf die verschiedenen Busse verteilen, die auf einer Süd- oder Nordroute, einige der Ausstellungsorte abfahren. Stafettenvernissage nennt man so etwas. Wann immer der Bus irgendwo ankommt, wird die Ausstellung dort eröffnet. Ein irgendwie unbefriedigendes Konzept. Aber dazu später mehr. 


Audio-Bilder-Schau mit Szenen von der Eröffnung der Werkschau

Bei der Werkschau Thurgau soll die "Vielfältigkeit der Thurgauer Künstlerinnen und Künstler" gezeigt werden, wie Gioia Dal Molin in ihrem Editorial zum Ausstellungs-Begleitheft schreibt. Das klar formulierte Ziel dahinter: "In ihren differenten Arbeitsweisen sehen wir plötzlich Dinge, die uns vorher entgangen sind. Wir entdecken neue Bezüge und eignen uns einen frischen Blick auf die gezeigte Kunst an", erklärt die Beauftragte der Stiftung.

Erster Stopp der Busreise Nord ist die Kartause Ittingen. Das dortige Kunstmuseum Thurgau versammelt alleine Werke von elf Kunstschaffenden auf drei Ebenen. Mit dabei ist zum Beispiel Andy Guhl. Im Gewölbekeller der Kartause zeigt er eine rätselhafte Videoinstallation. Die grosse Leinwand zeigt kräftige Farb-Livebilder, die an Aufnahmen einer Wärmebildkamera erinnern. Gemäss des Titels der Arbeit "Obsidian: The Silizium of the stone age" wird hier ein sich drehender Obsidian - ein vulkanisches Gesteinglas - gefilmt. Mit dieser Installation will Guhl Steinzeit und Gegenwart verbinden: "Unsere Vorfahren stellten aus dem scharfkantigen Obsidian Werkzeuge wie Messer oder Faustkeile her. Der Lavastein war in diesem Sinn für die Entwicklung der Menschheit gleichbedeutend wie das chemische Element Silizium, das heute als wesentlicher elektronischer Baustoff von Mikrochips in alltäglichen Geräten verwendet wird", erklärt das Begleitpapier zur Ausstellung. Ein spannender Vergleich. Und er zeigt zugleich auch ein bisschen das Dilemma der Schau - in der Regel braucht der Besucher dieses Begleitpapier um die Werke wirklich begreifen zu können. Die wenigsten erklären sich von selbst.

Eine Etage höher zeigt unter anderem Simone Kappeler neue fotografische Arbeiten. Die Schwarz-Weiss-Arbeiten sind bei ihrem Atelieraufenthalt in New York City entstanden. Bei nächtlichen Streifzügen durch die Metropole hat sie einzelne Momente festgehalten. Das ist manchmal sehr poetisch, manchmal plakativ und im Vergleich zu den weiteren Aufnahmen in diesem Raum - den Fotografien von Roland Iselin und Jon Etter - durchaus emotional geraten. Und das ist hier positiv gemeint. Einiges, das in diesem Raum gezeigt wird, ist vor allem kopfgetriebene Kunst. Man merkt den Arbeiten den grossen Willen zur Kunst an, was bisweilen auch etwas anstrengend sein kann. Alles sehr intellektuell, um viele Ecken gedacht und geheimnisvoll. Aber wirklich berührt wird man hier kaum. Ein gutes Beispiel dafür sind die Arbeiten von Aurelio Kopainig. Er befasst sich in seinen Arbeiten intensiv mit den ökologischen und sozialen Folgen landwirtschaftlicher Monokulturen. Ein eigentlich wichtiges Thema. In seinen fein ziselierten Zeichnungen namens "crop culture" bleibt es aber abstrakt, die Brisanz erklärt sich nicht direkt. Fast scheint es so, als habe sich im Kunstmuseum vor allem die aktuelle Kopfkunst versammelt.

Richard Tisserand (rechts im Bild), Chef des Kunstraum Kreuzlingen, erklärt den Besuchern einige Arbeiten. Bild: Michael Lünstroth

 

Nächster Stopp ist Kreuzlingen. Richard Tisserand kuratiert im dortigen Kunstraum seit Jahren sehr erfolgreich und mit einem guten Gespür für frische Kunst. Hier wird es denn auch gleich etwas gefühliger. Das liegt vor allem an den satt aufgemalten Bildern von Rachel Lumsden und den farbfrohen Arbeiten von Johannes Gees. Die gebürtige Britin Lumsden trägt in ihren Werken die Farbe dick auf, manchmaal giesst sie die Farbe aber auch einfach auf die Leinwand. Auch hier ist manches rätselhaft wie in "The elder flower", man weiss nicht so recht, ob einer alten Frau Blumen aus dem Rücken wachsen oder sie sich beugt und der Zaun lange Schatten auf sie wirft. Und trotzdem wird der Bauch hier mehr bedient als in Ittingen, weil man so viel in der Arbeit direkt erkennen oder erspüren kann.

Johannes Gees, Gründer der Crowdfunding-Plattform "wemakeit" passt gut dazu. Acrylbilder aus den frühen 1980er Jahren stellt er neue Arbeiten gegenüber, die in Los Angeles erst in diesem Sommer entstanden sind. Es ist eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart seines künstlerischen Schaffens. Ebenfalls im Kunstraum vertreten: Der aus Kreidolf stammende künstlerische Autodidakt Willi Oertig mit seinen deailreichen Ölgemälden über das Unterwegs-Sein und eine interaktive Animation auf einem Tablet von Michael Frei: In "plug & play" können Spieler in ein Spiel aus Emotionen und Sexualität einschreiten. 

 

Einblicke in Michael Freis Videoarbeit "plug & play"

 

Der ohne Frage spektakulärste Ausstellungsort der diesjährigen Werkschau ist die Kehricht-Verbrennungs-Anlage (KVA) in Weinfelden. Dank des kunstsinnigen Leiters, Peter Steiner, wird die KVA erneut zur Heimat moderner, verstörender, irritierender Kunst. Das Spannende hier ist vor allem das Spiel mit den Erwartungen und Zuschreibungen: Was ist schon Kunst und was gehört noch zum Alltag der KVA? Dieses Spiel mit der Grenze hat seinen Reiz und unterscheidet alleine deshalb diesen Ort von allen anderen der Werkschau.

Spiel mit den Erwartungen: Ist das schon Kunst oder noch Alltag der KVA Weinfelden...

...und hier? Ist das Kunst oder kann das weg? Bilder: Michael Lünstroth

Wenn man so will, treffen sich hier Kopf- und Bauchkunst. Es gibt Arbeiten mit schwerem geistigen Überbau wie die Klanginstallation "on/off" des Kollektivs Blablabor. Gestapelte Kofferradionss aus denen über einen versteckten MP3-Player eine Aufnahme aus dem Maschinenraum der KVA ertönt untebrochen von unterschiedlich langen Pausen. Die Pausenlänge wird bestimmt durch Zahlen, die Blablabor den Statistiken der KVA über die verbrannte Abfallmenge und den Restmüll entnommen haben. Und dazu gesellen sich unter anderem die riesenhaften Arbeiten "sign up now" und "duck dive" von Bildstein/Glatz: In ihren überdimensionierten Werken verbinden sich abstrakter Expressionismus und Popkultur.

Tatsächlich ist die KVA kein leicht zu bespielender Ort. Schnell kann die Architektur die Kunstwerke schlucken. Sie müssen sich hier ziemlich behaupten. Ernst Thomas Arbeit "Time Layer - Shyama Prasad Murherji Marg" gelingt das. Auf drei grossen Leinwänden hoch oben zwischen den Rohren und Leitungen der Verbrennungsanlage wird eine Strassenszene aus Delhi projiziert. Thomas Arbeit interessiert sich für die unterschiedlichen Geschwindigkeiten verschiedener Fortbewegungsmittel: Autos, Pferdekarren, Fahrräder, Mofas oder Rikschas. In seinem Werk nähert der Videokünstler au Stein am Rhein diese Geschwindigkeiten durch eigenen Eingriff an - die Bilder werden asynchron und verlangsamt abgespielt.

Ist das etwa ein Kunstort? Aktuell schon: Die Kehricht-Verbrennungs-Anlage in Weinfelden. Bild: Michael Lünstroth

 

Kuratiert hat die Ausstellung in der KVA die Remise Weinfelden und man kann sagen, dass ihnen das ziemlich gut gelungen ist in diesem anspruchsvollen Umfeld. Wie man überhaupt feststellen kann: Diese Werkschau ist gelungen. Sie macht das, was sie will glänzend: Das aktuelle Kulturschaffen mit Thurgaubezug abbilden, den Künstlern aus der Region eine Plattform bieten und den Besuchern einen spannenden Einblick in zeitgenössische Kunst geben. Dass es derart viele progressive Künstler im Thurgau gibt, hätte man nicht für möglich gehalten. Hier erweist sich allerdings auch ein Kniff der Kulturstiftung als richtig: Der Thurgaubezug wurde längst auch um die zu- und wegezogenen Künstler erweitert. Das gibt dieser Werkschau noch einmal eine ganz andere Tiefe, weil eben auch Einflüsse von aussen spürbar sind. 

Was noch zu sagen bleibt? Bei der Fülle des Angebots war es zunächst nicht möglich sämtliche Standorte der Werkschau zu besichtigen. Der Vollständigkeit halber sei aber erwähnt, dass es in der Galerie Adrian Bleisch, der Galerie widmertheodiridis, der Kunsthalle Arbon und dem Shed im Eisenwerk Frauenfeld weitere spannende Arbeiten zu sehen gibt. Hochaktuell zum Beispiel das Werk "fingerprints" von Herbert Weber. In einer Serie von fotografierten iPad-Touchscreens setzt er sich mit den Chancen und Risiken der digitalen Welt auseinander. 

Während die inhaltliche Arbeit also gelungen ist, sollten die Macher aber mal über das Konzept der Stafettenvernissage nachdenken. Wer mit dem Bus an diesem Tag unterwegs war, hatte maximal eine Stunde an jedem Ort. Das ist viel zu wenig Zeit, um der Komplexität der Arbeiten gerecht werden zu können oder sie auch nur annähernd zu begreifen. Kunst so zu erleben ist nur noch inszenierter Event-Tourismus. Besucher wie Künstler haben da mehr verdient. 

 

Wer stellt wo aus? Eine Übersicht

Galerie Adrian Bleisch Kurator: Adrian Bleisch Schlossgasse 4 9320 Arbon +41 (0)71 446 38 90 galeriebleisch.ch info@galeriebleisch.ch Mi–Fr 14–18h Sa/So 11–16h Eintritt frei

Hier stellen aus: Joëlle Allet, Matthias Bosshart, Dieter Hall, Ray Hegelbach, Daniel V. Keller, Herbert Kopainig, Joëlle Menzi, Alex Meszmer/ Reto Müller, Heike Müller, Christoph Rütimann, Sebastian Stadler

 

Galerie widmertheodoridis Kuratoren: Werner Widmer & Jordanis Theodoridis Fallackerstrasse 6 8360 Eschlikon +41 (0)71 971 3811 0010.ch mail@0010.ch Mi–Fr 14–18h Sa/So 11–16h Eintritt frei Die Werkschau Thurgau 16 wird in der Galerie widmertheodoridis bis zum 24. Dezember 2016 geö net bleiben.

Hier stellen aus: Hannes Brunner, Daniel Hausig, Sarah Hugentobler, Valentin Magaro, Rahel Müller, Raoul Müller, Karin Schwarzbek, Peter Somm, Andri Stadler, Judit Villiger

 

Kunsthalle Arbon Kuratorin: Inge Abegglen Grabenstrasse 6 9320 Arbon +41 (0)71 446 94 44 kunsthallearbon.ch info@kunsthallearbon.ch Sa/So 11–16h Eintritt frei

Die Künstler: CKÖ, Gabi Deutsch, Jan Kaeser, Natascha Mitfessel, Lukas Schneeberger, Monika Schmid, stöckerselig

 

Kunstmuseum Thurgau Kuratorin: Stefanie Hoch Kartause Ittingen 8532 Warth +41 (0)58 345 10 60 kunstmuseum.ch sekretariat.kunstmuseum@ tg.ch Mo–Fr: 14–17h Sa/So: 11–17h Eintrittspreis: CHF 10 Ermässigt: CHF 7 Kinder bis 16 Jahre gratis Die Werkschau Thurgau 16 wird im Kunstmuseum Thurgau bis zum 29. Januar 2017 geöffnet bleiben.

Die Künstlerinnen: Esther van der Bie, Martina Böttiger, Jon Etter, Andy Guhl, Roland Iselin, Karen Kägi, Peter Kamm, Simone Kappeler, Aurelio Kopainig, Elisabeth Nembrini, Lucie Schenke

 

Kunstraum Kreuzlingen Kurator: Richard Tisserand Bodanstrasse 7a 8280 Kreuzlingen +41 (0)79 376 13 35 kunstraum-kreuzlingen.ch tisserand@ kunstraum-kreuzlingen.ch Fr: 15–20h Sa/So: 11–16h Eintritt frei

Die Künstlerinnen: Robert Alder, Renate Flury, Michael Frei, Johannes Gees, Gabriel Kuhn, Anita Kuratle, Rachel Lumsden, Philippe Mahler, Willi Oertig

 

Remise Weinfelden zu Gast in der KVA KuratorInnen: Brigitt Näp in & Ivo Dahinden Rüteliholzstrasse 5 8570 Weinfelden +41 (0)44 422 50 56 kultur.tourismus@ weinfelden.ch ivo.dahinden@bluewin.ch sommeratelier.ch Mi/Fr: 18–20h Sa/So: 11–16h Eintritt frei

Die Künstlerinnen: Bildstein I Glatz, Fredi Bissegger, Blablabor, Urs Graf, Markus Huber, Ute Klein, Sonja Lippuner, Reto Müller, Bettina Mürner, Lisa Schiess, Kerstin Schiesser, steffenschöni, Guido R. von Stürler, Ernst Thoma, Heinz Völki

 

Shed im Eisenwerk Kuratorin: Katja Baumho Industriestrasse 23 8500 Frauenfeld +41 (0)52 728 89 99 eisenwerk.ch shed@eisenwerk.ch Do/Fr: 18–21h Sa/So: 11–16h Eintritt frei

Die Künstlerinnen: Lorenza Diaz, Othmar Eder, Co Gründler, Susanne Hefti, huber.huber, Lika Nüssli, Olga Titus, Herbert Weber

 

Die Werkschau Thurgau läuft noch bis zum 11. Dezember 2016. Das komplette Begleitprogramm, alle Künstler und alle Ausstellungsorte der Werkschau finden Sie auch hier

 

KOMMENTAR *

 

von Jürg Schoop・vor 4 Monaten

 

Ein Abbild der modernen Kunst im Thurgau ist diese Werkschau nun gerade nicht, wie immer wieder kolportiert wird. (Da fehlen doch einige Namen.) Die Werkschau ist die Alibiübung der Kulturstidtung, die zum freien Wettbewerb aufruft für alle, die mal einen Zug Thurgauer Luft in ihre Nüstern gezogen haben. Das ist doch ein verhältnismässig geringer Pflegeaufwand für das Einheimische. Dass Diskussion über Kultur die Kultur zerstöre, wie die neue Stiftungsrats-Präsidenten gesagt haben soll lässt nur Schlimmes befürchten.

 

* Seit März 2017 haben wir eine neue Kommentarfunktion. Die alten Kommentare aus DISQUS wurden manuell eingefügt. Bei Fragen dazu melden Sie sich bitte bei sarah.luehty@thurgaukultur.ch

 

 

 

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