von Inka Grabowsky, 17.03.2021
Künstlerische Kollaboration am Untersee
Vor fünf Jahren eröffnete in Steckborn mit dem Haus zur Glocke ein aussergewöhnliches Begegnungszentrum für zeitgenössische Kunst. Die Gründerin Judit Villiger blickt zufrieden auf ihr Experiment. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Kommunikation bedeutet Judit Villiger viel. Dieses Jahr will die Künstlerin und Dozentin an der Zürcher Hochschule der Künste ihre Dissertation beenden, in der sie erforscht, wie Lehramtsstudierende als Hospitanten den Kunstunterricht wahrnehmen und was sie durch den bewussten Austausch untereinander daraus lernen.
Kommunikation und Kollaboration sind auch Kern des Konzepts ihres Hauses zur Glocke in Steckborn. Es ist eben weit mehr als nur ein Ausstellungsraum. 2018 hat Villiger unter anderem dafür den Thurgauer Kulturpreis erhalten.
„Ich bin meinem Mann zuliebe an den Untersee gezogen, aber ich hatte das Bedürfnis etwas zu machen, aus dem ich schöpfen konnte. Als das Haus zur Glocke gegenüber unserer Wohnung zu verkaufen war, habe ich zugegriffen.“ Zwei Jahre dauerte der Umbau. Rund 600.000 Franken und unzählige Stunden Arbeit steckte Villiger in ihr Projekt, bis sie es 2016 eröffnen konnte.
„Es gab viele positive Überraschungen, weil Künstler, die sich zuvor nicht kannten, hier zusammenarbeiteten und neue Wege beschritten.“
Judit Villiger, Kuratorin und Künstlerin (Bild: Christoph Ullmann)
Seitdem organisiert sie vier Ausstellungen im Jahr, für die Kunstschaffende eingeladen werden, um etwas zu einem gegebenen Thema beizusteuern. „Wir haben jeweils einen Arbeitstitel. Er ist im Laufe der Zusammenarbeit noch wandelbar.“
Die Künstler werden mit 1500 Franken vergleichsweise anständig honoriert, müssen sich aber bereiterklären, an den Öffnungssamstagen eine Suppe beizusteuern und dem Publikum und den Kollegen beim Essen für Gespräche zur Verfügung zu stehen.
Video: Kunst & Suppe: Das Haus zur Glocke Steckborn
Das war anfangs durchaus erklärungsbedürftig. „Wer herkommt und fragt, welchen Raum er ausfüllen darf, hat das Konzept nicht verstanden. Das Territoriale ist anstrengend.“ Im Haus zur Glocke geht es darum, gemeinsam etwas zu schaffen und aufeinander ebenso wie auf das spezielle Haus zu reagieren.
„Eine Kuratierung von Aussen, während ich für den roten Faden sorge. So ein Modell stelle ich mir für die Zukunft vor.“
Judit Villiger
Wenn es nach Judit Villliger geht, soll diese Philosophie erhalten bleiben, auch wenn sie selbst gern etwas mehr in den Hintergrund treten möchte. Das Preisgeld, das ihr vergangenes Jahr die Internationale Bodenseekonferenz zuerkannt hat, um ihre Arbeit als Kuratorin zu fördern, hat sie für die Anstellung einer Praktikantin eingesetzt.
„Ich habe das als Pilotversuch selbst finanziert. Nun hoffe ich, die Stelle aus Mitteln der Kulturstiftung des Kantons weiterführen zu können.“ Auch beim Kuratieren sollen andere mit in die Verantwortung treten. Es sei einmal eine andere Perspektive nötig, so die 54-Jährige.
Das Ziel: Eine Weiterentwicklung im Rahmen des bestehenden Konzeptes
Einen Anfang gibt es im September: Leo Bettina Roost kuratiert die Ausstellung „Schieflage – eine Haltung“, die Performance im Rahmen der Schau kuratiert Ursula Scherrer.
Die Ausstellung Ende November „Imitationen von dir wiederholen sich in mir“ organisiert Sarah Hugentobler. „So ein Modell stelle ich mir für die Zukunft vor“, erklärt Judit Villiger: „Eine Kuratierung von Aussen, während ich für den roten Faden sorge.“ Das Hause dürfe sich gerne weiterentwickeln, aber das Konzept solle bestehen bleiben.
Video: arttv.ch über den Thurgauer Kulturpreis 2018
Seit ein paar Monaten gibt es auch einen Förderverein
Die Frage ist nur, wie sich das Modell finanzieren lässt. Bisher funktioniert das Haus zur Glocke als „verlängerte Stube“ von Judit Villiger, in die sie ihre Kunstfamilie einlädt. Gelder aus den Kulturstiftung fliessen direkt an die beteiligten Künstler, nie an die Kuratorin, weil Villiger diese Aufgabe aus intrinsischer Motivation übernimmt - quersubventioniert durch ihr Teilzeitpensum an der Hochschule. „Das macht es spannend. Wenn ich von der künstlerischen Arbeit leben müsste, könnte ich weniger ausprobieren.“ Das halbprivate Prinzip mache das Haus zur Glocke flexibel, offen, lebendig und vor allem unabhängig.
Die Beiträge von Stiftungen, gelegentliche Kunst-Verkäufe und der Suppenausschank in der Besenbeiz „Wirtschaft zur Glocke“ decken ungefähr die Betriebskosten. Einen Teil der Unterhaltskosten übernimmt Villiger aus eigener Tasche. Ein extra bezahlter Kurator ist deshalb derzeit Luxus.
Um die Finanzierung auf eine breitere Basis zu stellen, haben sich im November ein Kulturverein für den Betrieb und ein Förderverein für dessen Unterstützung gegründet.
Ab 2022 sollen sich KünstlerInnen bewerben um eine Ausstellung
„Wir sind gut gestartet“, bilanziert Judit Villiger die vergangenen fünf Jahre. „Es gab viele positive Überraschungen, weil Künstler, die sich zuvor nicht kannten, hier zusammenarbeiteten und neue Wege beschritten. Aber ich möchte, dass sich mehr Menschen aktiv engagieren.“
Das bezieht sich auch auf die Künstler, die ins Haus zur Glocke kommen. Bisher wurde sie eingeladen. Für 2022 gibt es aber eine offizielle Ausschreibung, auf die sich Kulturschaffende mit ihren Ideen bewerben können.
Die BesucherInnen kommen teilweise auch von weiter her angereist
Eine interessante Beobachtung machte die Kuratorin, was das Publikumsinteresse anbelangt. „Anfangs gab es viele Besucher aus der Region, die neugierig auf das Haus waren. Heute kommen die Menschen eher für einen bestimmten Künstler – zum Teil auch von weiter her.“ Trotzdem sei die Akzeptanz in Steckborn sehr gross.
„Ich habe aber den Eindruck, dass ich über die Jahre immer mehr bieten musste, um das Interesse zu wecken.“ Kunst, Suppe und gute Gespräche bildeten aber immer das Kernangebot.
Am 17. April erscheint eine Retrospektive in Buchform
Zum fünfjährigen Bestehen erscheint im Saatgut Verlag ein Buch mit einer Retrospektive. Darin sind unter anderem alle Begleitbroschüren zusammengefasst, die zu den Ausstellungen entstanden waren.
Mit diesem Service hatte Villiger 2017 mit „Wer die Arbeit macht“ begonnen. „Damals hatte Zsuzsanna Gahse einen Text zur Enthüllung der Arbeit beigesteuert, den wir als Büchlein verteilt hatten. Das brachte mich auf die Idee, immer so etwas anzubieten.“
Aufsätze für die die ersten sechs Präsentationen sind nun für das Jubiläumsbuch nachträglich entstanden, zusätzlich zu einem Briefwechsel, den Gabriele Lutz und Judit Villiger zur Geschichte des Hauses geführt haben. Kommentare von Kunstschaffender ergänzen die Bilanz.
Termin: Am 17. April soll es im Haus zur Glocke auch eine Buchpräsentation der Jubiläumsschrift geben.
Auszüge aus „5 Jahre Haus zur Glocke“ herausgegeben von Gabriele Lutz und Judit Villiger
Gabriele Lutz in ihrem Artikel in der Jubiläumspublikation „Ein vielstimmiges Haus“:
„Das Engagement von Judit Villiger ist umfassend und nicht auf einen knappen Nenner zu bringen. Sie ist auch Förderin, gibt jungen Kunstschaffenden die Gelegenheit, sich erstmals einem Publikum vorzustellen. Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass sie als Kunstpädagogin an der Zürcher Hochschule der Künste zukünftige Lehrerinnen und Lehrer ausbildet. Ihre Erfahrung zeigt, dass viele von ihnen mit der eigenen Arbeit aufhören, sobald sie zu unterrichten beginnen. Dies hat Judit Villiger dazu bewogen, ehemalige Studentinnen und Studenten zu Ausstellungen ins Haus zur Glocke einzuladen, damit sie die Verschiebung von der Lehre zurück zum Kunstschaffen wagen.»
Ester Bättig, Künstlerin:
„Die Einladung zur Teilnahme an der Ausstellung Woher die Bilder kommen (2019) erfolgte ohne Vorgaben, und diese Offenheit ermöglichte es mir, genau hinzuhorchen. Die Leichtigkeit und Bestimmtheit meiner künstlerischen Interventionen war für mich eine eindrückliche Erfahrung. Frühere Rauminterventionen konnte ich im Haus zur Glocke weiterentwickeln, und sie bereichern und erweitern meine Arbeiten auf Papier. Die im Dialog mit dem alten Haus entstandenen raumgreifenden Werke haben mich darin bestärkt, weitere Gelegenheiten für das dreidimensionale Schaffen zu nutzen und meinem skulpturalen Gestalten zu vertrauen. Das Interesse der Kuratorin an meinem Werk, die begleitende Publikation und die Resonanz sind Motivation und Referenz — und unterstützen mich in meiner weiteren künstlerischen Arbeit.“
Dieter Langhart in der Thurgauer Zeitung , 14.06.2017:
„Aus Weltladen mach Weltbegegnung. Aus Riegelhaus mach einen Kunstort. Aus Nabelschau mach Diskussion über Kunst. Das wollte Judit Villiger, das hat sie gemacht im Haus des früheren Gloggelade, eines genossenschaftlich geführten Bioladens. Judit Villiger hat das Haus gekauft (sie wohnt gleich gegenüber) und hat es umgebaut. Dezent, so dass es weiter seine Geschichte atmet.“
Von Inka Grabowsky
Weitere Beiträge von Inka Grabowsky
- Gruselige Geschäfte (20.11.2024)
- Die Musikerklärer (19.11.2024)
- Wann ist ein Mensch ein Mensch? (12.11.2024)
- Wissen macht glücklich (11.11.2024)
- Wirklichkeit ist, was du daraus machst! (07.11.2024)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Kunst
Kommt vor in diesen Interessen
- Bildende Kunst
- Fotografie
Ähnliche Beiträge
Zwischen Zugehörigkeit und Fremdsein
Die im Thurgau aufgewachsene Künstlerin Thi My Lien Nguyen richtet ihr Augenmerk im Kunstmuseum St. Gallen auf die Ambivalenz postmigrantischer Realitäten. mehr
Warum Räume für Kultur so wichtig sind
Schwerpunkt Räume: «Kultur braucht Raum, um zu entstehen, aber vor allem auch um ein Ort des Austauschs zu sein», findet die Malerin Ute Klein. mehr
Alte Mauern, neue Gedanken
Beim grenzüberschreitenden Festival „Heimspiel“ wird ab 15. Dezember die Arboner Webmaschinenhalle erstmals als Kunstort bespielt. Wie gut kann das funktionieren? Ein Baustellenbesuch. mehr