von Rolf Breiner, 15.11.2024
Morgens im Kino
Wir wir arbeiten (3): Rolf Breiner arbeitet schweizweit als Filmkritiker. Eine Aufgabe, die immer im Spannungsfeld von Nähe und Distanz liegt. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Ein halbes Dutzend Einladungen zu Pressevisionierungen und mehr flattern wöchentlich via Internet ins Haus. Herbstzeit ist Kinozeit. Und die finden meistens am Morgen oder Mittag in den noch schlummernden Kinos statt. Das heisst: Journalisten und andere Medienleute sehen Filme einige Tage oft Wochen vor dem Kinostart.
Persönliche Begegnungen
Mittags im Kino RiffRaff, Zürich. Just haben eine Handvoll («professionelle») Zuschauer den Dokumentarfilm «Die Tabubrecherin» auf der Leinwand erlebt. Die Filmheldin heisst Michéle Bowley – und lebt nicht mehr. Das muss man zuerst verdauen. Die Zugerin bricht ein Tabu, setzt sich mit dem Sterben, ihren Sterben auseinander. Sie steht im Leben, lässt nicht los, ist gegenwörtig – bis zu den letzten Zügen. Und lädt das Zuger Filmerpaar Silvia Haselbeck und Erich Langjahr ein, sie auf diesem letzten Lebensabschnitt zu begleiten. Ein ungewöhnlicher Schritt, eine Herausforderung für Filmer und Zuschauer.
Video: Trailer zu «Die Tabubrecherin»
Ich kenne Silvia und Erich seit ihren Anfängen, seit der Dokumentation «Morgarten findet statt» (1978), «Ex Voto» (1986) oder «Männer im Ring» (1990) und habe ihre Filmarbeit seit über 25 Jahre journalistisch begleitet. Das Wiedersehen im RiffRaff ist herzlich. «Schön, dass du gekommen bist.» Sie sind auf Reaktionen gespannt, setzen sich mit kritischen Einwänden auseinander.
Sie wissen, dass ich nichts beschönige, auch wenn wir freundschaftlich verbunden sind. Ich kenne ihre Söhne seit Kindesbeinen an und war von Ricos Auftritt im Film fasziniert. Auf Wunsch der Protagonistin hatte ihr Sohn den weltbekannten Song «My Way» interpretiert und sich am Klavier begleitet. Ein Film, der trotz seines ernsten Themas Mut macht und das Leben feiert. Die Filmer freuen sich sichtlich, dass sie beste Filmarbeit geleistet haben.
Wenn Regisseure ihre Arbeit erklären
Szenenwechsel. Es ist ein Heimspiel für Sami, dem unermüdlichen Filmschaffenden von Dschoint Ventschr. Der Titel seines Films ist so lang wie der Themenstoff, den er in seinen 130-Minuten-Film packt: «Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer». Die Schweiz rief sie in der Nachkriegszeit, und sie kamen zu Abertausenden aus dem Süden: Fremd- oder Gastarbeiter aus Italien. Als Arbeitskräfte geduldet, als Mitmenschen eher zweitklassig behandelt, als «Sau-Tschinggen» wurden sie dazumal despektierlich bezeichnet.
In der Serie „inside thurgaukultur.ch – wie wir arbeiten“ schreiben unsere Autor:innen über ihren Arbeitsalltag. Sie erklären, wie sie sich für ihre Termine und Texte vorbereiten, auf welchen Wegen sie recherchieren und welchen Herausforderungen sie dabei begegnen. Wir öffnen damit bewusst die Tür zu unserer Werkstatt, damit du besser nachvollziehen kannst, wie wir arbeiten und welche Kriterien uns in unserem Tun leiten.
Damit sollen einerseits unsere Autorinnen und Autoren sichtbarer werden, zudem wollen wir die Bedeutung von Kulturjournalismus damit herausstellen. Denn es stimmt ja immer noch, was Dieter Langhart im Mai für uns geschrieben hat: „Ohne Kulturjournalismus keine Abbildung und Einordnung von Kultur.“
Alle Teile der Serie bündeln wir in einem Dossier.
Samir spannt den Bogen dieser Emigrantengeschichte von den Fünfzigerjahren bis in die Gegenwart, spart nicht mit Kritik an Gewerkschaften und Politik. Sein Herz schlägt eindeutig für die «Fremden», für Menschen wie er, selbst Einwanderer, Iraner und Schweizer zugleich. Es ist auch seine Geschichte, wie er bei der Vorpremiere betont, wo das Publikum beim sogenannten Q&A (Fragen und Antworten) den Filmer persönlich herausfordern oder auch loben kann. Eine hautnahe Gelegenheit für Filmschaffende, das interessierte Publikum (und Kritiker) bei einer Vorstellung einzubeziehen, Reaktionen live zu erfahren, einzustecken oder zu «ernten».
Promis will jeder, die Nische ist oft interessanter
Besondere Herausforderung und Anreiz für Filmkritiker ist es, mit Beteiligten ein Interview zu führen, seien es Schauspieler, Regisseure, Autoren. Stars und Publikumslieblingen sind begehrt, ihnen rennen die Medien nach – schon aus Konkurrenzgründen. Was macht der «Blick», was bringen Tages- und Sonntagszeitungen beispielsweise über Emil und den Dokumentarfilm «Typisch Emil».? Reizvoller ist es indes oft, eine Nische zu finden und eher unbekannte Filmschaffende über ihr Werk zu befragen.
Wir hatten im Berner Hauptbahnhof abgemacht. Patrick Thurston, Architekt und Filmer hatte auf meine Anfrage sofort zugesagt – und sich Zeit genommen. «Greina» heisst sein erster längerer Dokumentarfilm. Thema: Die Rettung der Greina, dieser einzigartigen Hochebene zwischen der Surselva und dem Tessin (Bleniotal), und über seinen Vater Bryan Cyril Thurston. Der britische Architekt, 1955 in die Schweiz eingewandert, hatte sich der Rettung der Greina verschrieben. Er kämpfte in den Siebzigerjahren mit künstlerischen Mitteln (Zeichnungen, Plakaten ec.) gegen den Bau eines Staudamms.
Video: Trailer zu «Greina»
Was Interviews bringen sollen
Es war nun interessant zu erfahren (über den Film hinaus), wie der junge Patrick das bewegte, unerschütterliche (und zuletzt erfolgreiche) Engagement des Vaters wahrgenommen, wie sich das Verhältnis zu seinem Vater entwickelt hat. Solche persönlichen Aspekte tönt der Film an, vertieft sie aber nicht. Welche Spuren haben die Greina bei Patrick Thurston hinterlassen? Was verspricht er sich vom Wirken der Kunst?
Ein Interview sollte über das jeweilige Filmwerk hinausgehen, die Anliegen der Filmschaffenden klären, vertiefen und erläutern. Ein entsprechendes Gespräch beeinflusst natürlich auch die eigene Filmkritik, doch sollte sie gleichwohl objektiv bleiben und nichts beschönigen. Die Grenze ist fliessend, wenn man den Filmenden sehr gut kennt, das Genre schätzt und Sympathien hegt, doch Objektivität ist oberstes Gebot.
Wie wird aus dem Gesehenen eine Filmkritik?
Die Frage ist natürlich: Wie setzte ich die Bilder (auf der Leinwand), die Informationen (vom Verleih, Pressebüro etc.) und eventuelle Gespräche in meinem Beitrag, meiner Kritik um? Es kommt auf den einzelnen Film, das Genre, Intention, Qualität oder Echo (an Festivals beispielsweise) an. Wenn es um historische Themen handelt, versuche ich ein entsprechendes Zeitbild zu skizzieren, etwa wenn es um die Nazizeit geht wie bei «The Zone of Interest» oder «Führer und Verführer».
Bei Biopics oder Porträts fehlen oft Hintergrundinformationen über Zeitumstände, über das historische oder gesellschaftliche Umfeld – beispielsweise bei «Boléro», «Alma & Oskar» (über Alma Mahler und Gustav Mahler) oder «Die Herrlichkeit des Lebens» (über Franz Kafka). Und stets sollte jemand (in diesem Fall meine Frau Irène) den Text gegenlesen, heisst kritisch erfassen, eventuell Verbesserungen (Korrekturen, Satzstellungen, Begriffe etc.) vorschlagen, Wiederholungen ansprechen, Verständlichkeit prüfen, gegebenenfalls auch den Aufbau des Beitrags hinterfragen.
Meine Fixpunkte beim Schreiben
Meine persönlichen Fixpunkte beim Schreiben einer Filmkritik lassen sich so zusammenfassen:
Inhalte – prägnante Einführung, konzentrierte Zusammenfassungen, ohne zu spoilern (heisst: das Finale/Happyend nicht verraten)
Gehalt – Einordnung des Films (Genre) – vom Western und Drama über Thriller bis Romanze, Tragikomödie, Satire, Lustspiel usw.
Besonderheiten – Produktion, Besetzung, Buch/Regie, Vorgeschichte und Entwicklung
Bewertung – Stil, Wirkung, dramaturgische Entfaltung, Musik, Kulisse, Aussagekraft, Vergleich zu anderen Filmen
Kritiken und Interviews zu den genannten Filmen finden sich auf meinem Blog breiner-textatur
Von Rolf Breiner
Weitere Beiträge von Rolf Breiner
- Von der Schulbank auf die Bühne (11.01.2024)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Film
Kommt vor in diesen Interessen
- Kulturvermittlung
- Spielfilm
- Dokumentarfilm
- Kurzfilme
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