von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 25.09.2025
«Ohne Kultur können wir unser Zusammenleben nicht gestalten.»

Biologe mit grossem Herz für Kultur: Bernhard Weber ist neuer Verwaltungsratspräsident bei thurgaukultur.ch Im Interview spricht er über seine Pläne für unser Kulturportal und darüber, warum Kürzungen im Kulturbereich den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)
Beni, du bist neuer Verwaltungsratspräsident bei thurgaukultur.ch. Hand aufs Herz: Wie lange musstest du überlegen, ob du dieses Ehrenamt annehmen möchtest?
Als die Anfrage kam, habe ich recht schnell und spontan zugesagt. Als Leser habe ich thurgaukultur.ch immer sehr positiv wahrgenommen und geschätzt. Im Nachhinein sind zwar noch ein paar Fragen aufgetaucht, aber grundsätzlich habe ich mich auf die Aufgabe gefreut und mit Überzeugung zugesagt.
Du warst vorher schon aktiv in der Thurgauer Kulturszene. Unter anderem als Stiftungsrat der Kulturstiftung des Kantons, als Präsident der Musikschule Kreuzlingen und Mitglied der Kulturkommission der Stadt Kreuzlingen. Was reizt dich jetzt an der neuen Aufgabe bei thurgaukultur.ch?
Es ist interessant und bereichernd, sich in einem solchen Gremium zu engagieren und Teil davon zu sein. In meinem Berufsleben habe ich es immer sehr geschätzt, in Projekten zusammen mit engagierten, kompetenten Menschen Probleme zu lösen und Entwicklungen voranzutreiben. Dabei war für mich „Kultur“ im weiteren Sinn und Kunst im Besonderen immer ein grosses Anliegen. Deshalb finde ich es schön, dass ich mich nun bei thurgaukultur.ch einbringen kann.
Bernhard Weber ist in Winterthur aufgewachsen und zur Schule gegangen. Der promovierte Biologe arbeitete von 2003 bis 2022 als Prorektor an der Pädagogischen Maturitätsschule Kreuzlingen. Dort war er unter anderem Zuständig für die Fachbereiche Musik und Gestalten sowie Mitglied der Kunstkommission der PMS- und PHTG.
Von 2014 bis 2024 war er Präsident des Vereins Musikschule Kreuzlingen, seit 2020 Mitglied des Stiftungsrates der der Kulturstiftung Thurgau und seit 2022 Mitglieder der Kulturkommission der Stadt Kreuzlingen. Bernhard Weber lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Kreuzlingen. Er interessiert sich für die Natur, Literatur, Musik und den Kulturkreis des östlichen Mittelmeerraums.
«Kultur ermöglicht das Zusammenleben von Menschen in Gruppen und verschafft uns dadurch einen unschätzbaren Vorteil.“
Bernhard Weber, neuer Verwaltungsratspräsident der Thurgau Kultur AG
Welche Bedeutung hat die Kultur für den Thurgau?
Als Biologe habe ich hier vielleicht eine etwas spezielle Perspektive auf das Phänomen Kultur. Ohne Kultur können wir unser Zusammenleben nicht gestalten – egal ob im Thurgau oder in anderen Gesellschaften.
Warum nicht?
Kultur ermöglicht das Zusammenleben von Menschen in Gruppen und verschafft uns dadurch einen unschätzbaren Vorteil. Nur in Gruppen konnte der Mensch verschiedene Regionen der Welt besiedeln. Kultur war und ist das „Bindemittel“, das uns zusammenbringt und zusammenhält, und ist damit essenziell. Das beginnt bei Sprache, Schrift und Erzählungen, reicht über Traditionen, Rituale, Musik, Tanz und Geschichtsbewusstsein bis hin zu Rechtsprechung und Rechtssicherheit. Ohne Kultur wären wir alleine oder in kleinen Familienverbänden unterwegs, hätten keine gemeinsamen Erinnerungen, keine Vereinbarungen, keine gemeinsamen Werte – und könnten unser Zusammenleben nicht organisieren.
Das ist jetzt ein sehr breiter Kulturbegriff.
Ja, das ist mir bewusst. Aber auch wenn wir den Kulturbegriff eingrenzen, wird rasch sichtbar, wie wesentlich etwa der Teilbereich „Kunst“ für unser Zusammenleben ist: wie wichtig gemeinsame Erlebnisse und Emotionen sind, wie sehr es darauf ankommt, dass unser gesellschaftliches Verhalten gespiegelt wird und dadurch Auseinandersetzungen und Entwicklungen möglich werden.
„Besonders schätze ich an der Thurgauer Kulturlandschaft: Wenn ich eine Ausstellung oder ein Konzert besuche, treffe ich fast immer Leute, mit denen man über das Erlebte ins Gespräch kommt.“
Bernhard Weber, Verwaltungsratspräsident der Thurgau Kultur AG
Lange galt der Thurgau als Holzboden für Kultur, in dem Sinne, dass hier nichts wächst und gedeiht. Wie erlebst du die Thurgauer Kulturlandschaft heute?
Als sehr reichhaltig, vielfältig und gut erlebbar. Als ich vor rund 30 Jahren aus der Region Winterthur und Zürich hierherkam, habe ich nicht erwartet, dass hier kulturell so viel geschieht. Damals war etwa das «Forum Andere Musik» sehr aktiv und hat unglaublich innovative Projekte von hoher Qualität realisiert. Auch heute lassen sich im Thurgau immer wieder solcher Aktivitäten entdecken. Besonders schätze ich: Wenn ich eine Ausstellung oder ein Konzert besuche, treffe ich fast immer Leute, mit denen man über das Erlebte ins Gespräch kommt. Dieser Dialog, der Menschen über den engeren Freundeskreis hinaus verbindet, ist in meiner Wahrnehmung intensiver als in grösseren städtischen Zentren – und das erlebe ich als grosse Qualität. Natürlich gibt es in der Agglomeration Zürich Spitzenevents, die es so im Thurgau nicht gibt, die aber auch im Erleben unpersönlicher sind. Im Thurgau hingegen gibt es regelmässig feine, spannende Veranstaltungen von hoher Qualität, daneben eine grosse Vielfalt und Breite. Und ausserdem: Man findet hier leichter Platz, weil Vieles in einem unaufgeregten, intimen Rahmen stattfindet.
Wobei die Thurgauer Kulturschaffenden sicher froh wären, wenn ihre Tickets ebenso schnell weggingen wie bei Anlässen in Zürich.
Ja, das ist richtig und zeigt vielleicht auch, dass es im Thurgau schwieriger ist, finanziell über die Runden zu kommen, ob für Kunstschaffende oder für Veranstaltende. Und gerade deshalb kommt thurgaukultur.ch eine so wichtige Rolle beim Vermitteln, Analysieren und Einordnen zu. Wir brauchen dieses „Schaufenster“ vielleicht dringender als grosse Zentren – auch um die Mittel wirksam einzusetzen. Darüber hinaus finde ich die öffentliche Finanzierung der Thurgauer Kultur gar nicht so schlecht. Durch das Kulturamt werden vielfältige und spannende Projekte unterstützt. Zusätzlich staune ich immer wieder, was die Kulturstiftung im innovativen Bereich ermöglicht. Persönlich bin ich manchmal fast etwas überfordert von der Vielfalt und der Breite des Angebots.
Du hast vorhin ganz schön die Bedeutung von Kultur für die Gemeinschaft beschrieben. Hast du den Eindruck, dass diese Bedeutung oder dieses Verständnis von Kultur in weiten Teilen von Politik und Bevölkerung verinnerlicht ist?
Da möchte ich unterscheiden zwischen der Breite des Angebots und dem eher experimentellen, innovativen Bereich.
Was würdest du unter dem Breitenangebot zusammenfassen?
Dazu gehören für mich neben den vielfältigen traditionellen musischen Anlässen im ganzen Kanton auch die Museen, die ich als sehr anerkannt in einer breiten Bevölkerungsschicht wahrnehme. Ich habe den Eindruck, dass auch die Politik die Museen in den letzten Jahrzehnten gut unterstützt hat. Dass es in letzter Zeit zu Einschränkungen gekommen ist, finde ich bedauerlich und hoffe, dass es ein vorübergehendes Phänomen ist. Schwieriger haben es daneben eher experimentelle Projekte, die nur eine kleinere Gruppe von Interessierten ansprechen. Finanzierung und Publikumserfolg sind in diesem Bereich sicher eine grössere Herausforderung.
„Anhaltende Kürzungen im Kulturbereich gefährden den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“
Bernhard Weber, neuer Verwaltungsratspräsident der Thurgau Kultur AG
Wie liesse sich das ändern? Oder muss man das gar nicht verändern?
Ich sehe hier eine wichtige Rolle der Kulturstiftung und von thurgaukultur.ch. Die Unterstützung – nicht nur die finanzielle – durch die Kulturstiftung ist in diesem Punkt von grosser Bedeutung. Darüber hinaus gelingt das Bekanntmachen sowie Erklären anspruchsvoller künstlerischer Projekte bei thurgaukultur.ch sehr gut. Wie der Publikumserfolg besser gewährleistet werden kann, ist eine andere Frage.
Hast du eine Antwort darauf?
Na ja, es ist vielleicht auch eine Frage, wie viele dieser Projekte möglich sind und ein Publikum finden. Ich erinnere mich an Veranstaltungen von grosser Qualität, bei denen am Ende nur eine Handvoll Personen im Publikum sass. Es ist also vermutlich auch eine Frage von Angebot und Nachfrage.
Würdest du also sagen, dass der Kanton Thurgau angemessen in seine Kulturlandschaft investiert?
Auch wenn mir klar ist, dass es mehr sein könnte, finde ich die öffentliche Finanzierung im Thurgau nicht schlecht. Die Formen der kantonalen Unterstützung über das Kulturamt und die Kulturstiftung sowie der Einbezug der Kulturkommission sind eine gute Basis. Daneben gibt es die Kulturpools der Regionen und die Aktivitäten grösserer Gemeinden. Damit ist schon einiges möglich, wie ich finde. Die private Unterstützung von Kultur könnte im Thurgau allerdings noch grosszügiger und wirksamer sein.
In finanziell angespannten Zeiten wird oft schnell bei der Kultur gekürzt. Wie kann man den Stellenwert von Kultur in der Gesellschaft erhöhen, damit dies nicht mehr so automatisch passiert?
Das scheint mir ein ganz wichtiger Punkt zu sein. Weil ich Kunst im engeren und Kultur im weiteren Sinn als essenziell für unser Zusammenleben betrachte, ist es weit mehr als „nice to have“. Wenn aus politischen Gründen Einsparungen wirklich nötig werden, sind temporäre Massnahmen auch in der Kultur zu bewältigen. Andere Gesellschaftsbereiche wie etwa die Bildung stehen da vor ebenso grossen Herausforderungen. Ich hoffe aber, dass auf die Tendenz zur Priorisierung von Einsparungen auch wieder eine Gegenbewegung folgen wird.

„Die Formen der kantonalen Unterstützung in der Thurgauer Kulturförderung über das Kulturamt und die Kulturstiftung sowie der Einbezug der Kulturkommission sind eine gute Basis.»
Bernhard Weber, neuer Verwaltungsratspräsident der Thurgau Kultur AG
Die kantonalen Museen müssen sparen, Bauprojekte werden verschoben, alles, was über den Staatshaushalt finanziert wird, kommt auf den Prüfstand. Andererseits gibt es einen mit rund 55 Millionen Franken prall gefüllten Lotteriefonds, der Jahr um Jahr wächst.
Für die Unterstützung im künstlerischen Bereich gibt es zum Glück den Lotteriefonds, den du erwähnst. Er ist gut gefüllt, und es müssen derzeit keine Einsparungen befürchtet werden. Allerdings gibt es eine Diskussion über die Verteilung dieser Gelder, und die politische Unterstützung der Kunst ist dabei nicht besonders wirksam. Bei der budgetierten Unterstützung von Kultur im Kanton sieht es leider etwas anders aus. Generell liegen Pro-Kopf-Ausgaben für Kultur im Kantonsvergleich im hinteren Mittelfeld. Wir müssen uns dabei nicht gerade an Basel-Stadt orientieren, aber für mich ist klar: Anhaltende Kürzungen im Kulturbereich gefährden den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Müssen wir also mehr für und über Kultur streiten?
Ja, das finde ich schon. Wenn ich sage, die Tendenz zu Einsparungen für die Kultur darf nicht anhaltend sein, dann folgt daraus, dass wir darüber reden müssen, wie und wie viele Mittel eingesetzt werden. Bei der Ermöglichung und Förderung eines konstruktiven Diskurses hat thurgaukultur.ch eine bedeutende Rolle. Am Schluss ist die politische Dimension aber zentral. Wie ich bereits erwähnt habe, sollte die Kultur aus meiner Sicht in der kantonalen Politik besser abgestützt sein. Wir können da von anderen Bereichen lernen.
Wir sind ein digitales Medium. Trotzdem haben wir zuletzt aber auch immer mal wieder analoge Veranstaltungen gemacht, um Menschen ins Gespräch zu bringen. Warum ist das aus deiner Sicht wichtig für thurgaukultur.ch?
Aus all den Gründen, die ich vorher genannt habe. thurgaukultur.ch kann hier eine Vermittlerrolle übernehmen, Dialoge fördern und Menschen miteinander ins Gespräch bringen, die sonst nicht miteinander reden würden. Das ist für unsere Gesellschaft und das Lösen von Problemen essenziell. Ob thurgaukultur.ch hier die alleinige Federführung hat oder dies in Kooperationen mit anderen Partnern geschieht und ob wir dafür die nötigen Ressourcen haben, wird sich zeigen.
„Bei der Ermöglichung und Förderung eines konstruktiven Diskurses hat thurgaukultur.ch eine bedeutende Rolle.“
Bernhard Weber, Verwaltungsratspräsident der Thurgau Kultur AG
Welche Ideen hast du für die Fortentwicklung von thurgaukultur.ch? Wo können und müssen wir besser werden?
Ich finde es schwierig, schon nach wenigen Wochen im Amt mit grossen Visionen aufzutreten. Ich bin noch in einer Phase des Wahrnehmens und Zuhörens. Was mir jedoch auffällt: Bestimmte Personengruppen erreichen wir noch zu wenig – sehr junge Menschen zum Beispiel oder Gruppen mit anderem kulturellen Hintergrund. Hier wäre es wichtig, etwas zu verändern. Die Kulturstiftung hat mit ihrer letzten Kulturkonferenz einen spannenden Schritt in die Clubszene gemacht. Das fand ich sehr aufschlussreich und zeigt, wo wir noch Potenzial haben. Darüber hinaus frage ich mich, ob thurgaukultur.ch nicht auch eine Art Archivfunktion übernehmen könnte: Wo finden wir in einigen Jahren die Informationen und Hintergründe zu all den spannenden Projekten, die im Thurgau stattfinden?
Zum Abschluss: Du bist auch leidenschaftlicher Windsurfer. Gibt es etwas, dass die Kultur von diesem Sport lernen kann?
Hm, interessante Frage. Surfen an sich ist ja nicht nur positiv konnotiert, weil man zwangsläufig immer an der Oberfläche schwebt. Für mich ist Windsurfen eher ein wichtiger Ausgleich zum Alltag. Beim Surfen ist man sehr fokussiert auf den Moment, konzentriert auf Wind, Welle, Körper und Material, so dass im Moment alles andere an Bedeutung verliert.
Meine Theorie wäre, dass sowohl beim Surfen als auch in der Kultur gilt: Richtig Spass macht es erst, wenn es ein paar Turbulenzen gibt und frischer Wind aufkommt.
Interessanter Gedanke, da ist etwas dran. Windsurfen ist eine Sportart, die sehr viel Frustrationstoleranz erfordert, bis man ein bestimmtes Können erreicht. Es gibt immer wieder Momente, in denen man zweifelt und sich fragt: „Was mache ich hier eigentlich?“ Es ist kein Sport für Menschen, die schnell aufgeben – man muss einiges wegstecken können. Und das ist im Kulturbereich vielleicht ganz ähnlich: Hier wie dort muss man mit Frustrationen und Rückschlägen umgehen können, damit Entwicklungen möglich werden. Wenn man dazu bereit ist, können hier wie dort sehr besondere Momente entstehen.
Was macht ein Verwaltungsrat bei thurgaukultur.ch?
Der Verwaltungsrat arbeitet bei thurgaukultur.ch ehrenamtlich. Er hat vor allem strategische Aufgaben im Unternehmen. Weiteres Mitglied im Verwaltungsrat neben Bernhard Weber ist Philipp Kuhn (Leiter Kulturamt Kanton Thurgau). thurgaukultur.ch wird von der gemeinnützigen Aktiengesellschaft thurgau kultur ag getragen. Aktionäre sind der Kanton Thurgau und die Kulturstiftung des Kanton Thurgau. Die Redaktion ist journalistisch unabhängig.

Weitere Beiträge von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter
- «KI kann nicht, was wir können!» (27.10.2025)
- Nicht meckern, reden! (27.10.2025)
- Der Millionen-Transfer (20.10.2025)
- Der Zauderberg (15.10.2025)
- Der Thurgau bekommt eine Kulturbotschaft (06.10.2025)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Kulturpolitik
Kommt vor in diesen Interessen
- In eigener Sache
- Kulturvermittlung
Ist Teil dieser Dossiers
Ähnliche Beiträge
Der Thurgau bekommt eine Kulturbotschaft
Das Publikum hat entschieden: Bei der dritten Ausgabe des Kulturstiftungs-Wettbewerbs «Ratartouille» gewinnt ein Frauenfelder Vernetzungsprojekt 100’000 Franken. Es setzt auf Dialog und Austausch. mehr
Museen in Gefahr?
Das Kulturleben im Thurgau hängt stark vom Ehrenamt ab. Gleichzeitig nimmt überall die Bereitschaft ab, sich freiwillig zu engagieren. Das betrifft besonders Museen: Droht nun ein Museumssterben? mehr
Schatzsuche im Sand
Radikal bodenständig: Stephan Militz’ Projekt «Wanderdüne» will Kunst und Kultur niederschwellig erlebbar machen. Mit der Idee steht er im Finale des Wettbewerbs «Ratartouille». mehr

