von Anabel Roque Rodríguez, 05.11.2019
Raus aus der Theorie, rein ins Leben
Superhelden, Zauberlehrlinge und ganz viel Wasser: Die Werkschau Thurgau 2019 zeigt sich im Shed im Eisenwerk von seiner sprudelnden Seite.
Was haben Superheldinnen, Brot, Duchamps Pissoir, Goethes Zauberlehrling und malende Chronisten gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel und doch teilen sich sieben Künstler mit diesen Themen den grossen Raum im Shed im Eisenwerk in Frauenfeld und zeigen ihre Werke unter bei der Werkschau Thurgau 2019. Überwindet man die erste Verwirrung, findet man Gefallen an den frischen Zitaten aus der Kunstgeschichte und Literatur, die Verarbeitung der Poesie des Alltäglichen. Die Künstler eignen sich selbstbewusst ihre eigenen künstlerische Ausdrucksformen an und zeigen, dass Kunst aus der Theorie befreit ins Leben möchte.
Betritt man den Ausstellungsraum, geht man unweigerlich auf die grosse Installation fast in der Mitte des Raumes zu. Das grosse aufblasbare Gummiplanschbecken ist von grauen Kunststoffboxen gefüllt und bildet mit Hilfe von Schmutzwasserpumpen einen industriellen Springbrunnen. Die Arbeit stammt von dem Kollektiv CKÖ, bestehend aus Sara Widmer und Daniel Lütolf. Der Titel «Pschschsch Fountain» kann als augenzwinkernde Referenz auf Marcel Duchamps Urinal Fountain verstanden werden.
Existenzängste und brotlose Kunst
Mit der Einführung des Pisssoir hat Duchamp damals die Idee des Readymade einführt, also dass ein Künstler nicht mehr unbedingt eine Arbeit selbst anfertigen muss, sondern bereits die Auswahl von fertigen Objekten und ihre bewusste Kontextverschiebung ausreichen, um als Kunstwerk zu gelten. Ganz aktuell hat übrigens die US-Autorin Siri Hustvedt durch ihren neuen Roman erneut eine bereits immer wieder diskutierte Theorie geäussert, bei der nicht Duchamp der Urheber des weltberühmten Pissoirs ist, sondern dieDada-Künstlerin Baroness Elsa von Freytag-Lohringhoven.
Begleitet von dem Plätschern des Springbrunnens begegnet uns auch in der Arbeit von Lisa Schiess das Wasserthema durch ihr Zitat aus Goethes «Zauberlehrling». Der Text handelt von einem Zauberlehrling, der einen Zauberspruch seines Meisters anwendet, um einen Besen in einen Wasser schleppenden Knecht zu verwandeln. Die Sache geht ziemlich schief, wie wir alle aus Schulzeiten noch wissen.
Beim Betrachten von Schiess’ Arbeit fragt man sich unweigerlich, ob dieser Text nicht auch als kritischer Kommentar auf unsere Gesellschaft gelesen werden kann. Eine Gesellschaft, in der uns unsere technischen Spielereien zwar weniger Arbeit versprechen, die Tendenz zu Technologisierung vom Alltäglichen bis hin zu Smart Homes, aber durchaus auch zu Alptraumszenen führen kann, wenn ein Haus plötzlich eigenständig handelt und den Nutzer an den Rand der Verzweiflung treibt.
Nachdenken über Werteproduktion im Kunstsystem
Neben dem in Spiegelschrift geschriebenen Text stehen drei Kisten, mit ebenfalls in Spiegelschrift beschriebenen Texten von Franz Kafka: «Die Sorge des Hausvaters», «Der Bau» und «Der Hungerkünstler», alle drei Texte behandeln im weitesten Sinne Sorgen und Nöte um die Stabilität im Leben. Existenzängste, die nicht nur Kunstschaffende kennen.
Bei der Aktion von Max Bottini muss man an den Ausspruch «Brotlose Kunst» denken. Es passt also, dass der Künstler Roggenbrote umfunktioniert und in jeden Laib Kunstwerke von den beteiligen KünsterInnen der Werkschau in Alumium-Röhrchen einbacken lässt. Am Donnerstag, 7. November, ab 19 Uhr können interessierte diese Brote im Shed im Eisenwerk Frauenfeld ab einem Minimalbetrag von 20 Franken kaufen, der Betrag ist je nach der persönlichen «Wert-Schätzung» dabei frei wählbar. Es ist ein freches Einfordern der «Brotlosen Kunst» über Werteproduktion im Kunstsystem nachzudenken. Wie entsteht «Wert» im Kunstmarkt? Und welche Systeme bestimmen, welche Preise bezahlt werden.
Die Poesie des Alltäglichen
Lorenz Boskovic und Vincent Scarth arbeiten seit 2017 zusammen und bezeichnen sich selbst als «malende Chronisten». Ihre Bilder erzählen Geschichten aus dem Alltag; Szenen, die sie unmittelbar in ihrer Umgebung rund um ihr Atelier in Zürich finden. Die Bilder wollen aber nicht dokumentieren, sondern zeigen die Möglichkeiten von Malerei: Hier wird übertrieben, an einer anderen Stelle etwas hinzugefügt und dort eine unmögliche Perspektive gewählt. Als kunsthistorische Referenz dient den Künstlern der Magische Realismus, in dem Anfang des 20. Jahrhunderts Künstler die greifbare und sichtbare Wirklichkeit mit magischer Realität – Halluzinationen und Träume – in ihren Arbeiten verschmolzen. Die Kunst vermag es dabei ihre eigenen Regeln aufzustellen und ihre Wirklichkeit selbst zu gestalten.
Auch Rachel Lumsdens Malereien zeigen ihre Perspektive auf die Welt. Dazu äussert die Künstlerin «ich will, dass ein Bild auf der Leinwand entsteht, nicht in meinem Kopf. Es ist ein Abenteuer, weil man nie genau weiss, wo man landen wird.» Ihre Malweise ist prozessgetrieben, sie malt, übermalt, korrigiert und arbeitet von Schicht zu Schicht bis das Werk eine eigenständige Persönlichkeit erhält. Ihre Malereien loten immer wieder die Grenzen zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion aus und nehmen den Betrachter auf eine Entdeckungsreise mit.
Populär- meets Hochkultur
Rachel Lumsdens Arbeiten werden von der geometrischen Strenge von Almira Medaric’ Arbeiten eingerahmt. Zum 100-jährigen Jubiläum des Bauhaus’ ist man es als Ausstellungsbesucher gewohnt immer wieder konkrete Malerei und geometrische Auseinandersetzungen zu finden. Medaric interessiert sich aber nicht nur für die Traditionen in Architektur- oder Designgeschichte, sondern transportiert diese aus der Hochkultur in eine Art Geometrie des Alltags: Mal inspiriert durch das Muster einer Tapete oder den Linien eines Kleides.
Sie schafft es dabei, die vermeintliche Strenge von Geometrie aufzubrechen und einen eigenen Raum zwischen Design und Kunst einzunehmen. Neben einer grossen eigens für das Shed entwickelten Wandarbeit, zeigt die Künstlerin auch Arbeiten die in ihrer Auseinandersetzung mit SuperheldInnen entstanden sind. Man muss die Referenzen zu Batman und Wonder Woman nur entdecken – eine Spurensuche der anderen Art.
Die Präsentation im grossen Raum im Eisenwerk ist für eine Gruppenausstellung eine Herausforderung. Man läuft Gefahr, dass künstlerische Positionen untergehen oder zu dominant wirken. Nach der ersten Orientierung gelingt jedoch der Spagat zwischen den Arbeiten und man erkennt auf den zweiten Blick mehr und mehr Spuren von Themen, die in den Werken anderer Künstler aufgegriffen werden. Die Spurensuche hier ist frech und befreit die Kunst aus einem zu theoretischen Korsett.
Termine: Die Ausstellung ist im Shed im Eisenwerk bis zum 17. November zu sehen. Der Shed im Eisenwerk ist geöffnet: Do/Fr: 18 bis 21 Uhr sowie Sa/So 11 bis 16 Uhr. Der Eintritt ist frei. Am Donnerstag, 7. November, ab 19 Uhr: Shed-Bar mit einer Aktion von Max Bottini im Shed im Eisenwerk. Die Ausstellung im Internet: https://www.werkschautg.ch
Weitere Texte zur Werkschau Thurgau
Auf Sisyphos’ Spuren: Bericht zur Vernissage vom 26. Oktober 2019.
9 Dinge, die Sie über die Werkschau Thurgau 2019 wissen sollten: Vorschau mit 9 Fragen und Antworten rund um die Werkschau
Verzauberte Alltäglichkeit: Besprechung der Ausstellung in der Kunsthalle Arbon
Spuren, die Geschichten erzählen: Besprechung der Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau
Keine Angst vor grossen Themen: Besprechung der Ausstellung im Kunstraum Kreuzlingen
Themendossier: Alle Texte, die zu dieser und den vorangegangenen Werkschauen erschienen sind, gibt es gebündelt in unserem Dossier „Werkschau Thurgau".
Weitere Beiträge von Anabel Roque Rodríguez
- Kleider schreiben Geschichten (02.09.2024)
- Das Sammeln als Philosophie (26.08.2024)
- Das Ego ist tot – lang lebe das Kollektiv? (23.11.2023)
- Der Streunende Hund geht schnüffeln (30.08.2023)
- Wann ist ein Mensch ein Mensch? (21.06.2023)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Kunst
Kommt vor in diesen Interessen
- Kritik
- Bildende Kunst
Ist Teil dieser Dossiers
Kulturplatz-Einträge
Ähnliche Beiträge
Zwischen Zugehörigkeit und Fremdsein
Die im Thurgau aufgewachsene Künstlerin Thi My Lien Nguyen richtet ihr Augenmerk im Kunstmuseum St. Gallen auf die Ambivalenz postmigrantischer Realitäten. mehr
Warum Räume für Kultur so wichtig sind
Schwerpunkt Räume: «Kultur braucht Raum, um zu entstehen, aber vor allem auch um ein Ort des Austauschs zu sein», findet die Malerin Ute Klein. mehr
Wann ist ein Mensch ein Mensch?
Szenen des Alleinseins: Die Performerin Micha Stuhlmann und der Videokünstler Raphael Zürcher haben gemeinsam mit dem Open Place in Kreuzlingen eine vieldeutige Installation geschaffen. mehr