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von Andrin Uetz, 30.10.2019

Verzauberte Alltäglichkeit

Verzauberte Alltäglichkeit
Die subtilsten und unaufdringlichsten künstlerischen Fingerabdrücke der Ausstellung: Lucie Schenkers «Arabesken" (2013) | © Michael Lünstroth

Die Werkschau Thurgau zeigt in der Kunsthalle Arbon sechs künstlerische Positionen. Aus einer insgesamt recht exzentrischen Show ragen die stillen Arbeiten heraus.

Nein, das sind keine Plakate für ein neu eröffnetes Kriminalmuseum, und es geht auch nicht um die Fichenaffäre oder um Smartphone-Technologien, welche die Eingabe von PIN-codes überflüssig machen. Die graphisch ansprechenden Plakate, Flyer und Programmhefte mit den Fingerabdrücken gehören zur Werkschau Thurgau, und die Fingerabdrücke stammen von den ausstellenden Künstlern und Künstlerinnen.

Wer im Besitz eines Programmheftes ist und den aus dem Englischen übersetzten Text „Erdbeschreibung im Anthropozän” des Politgeographen und Kulturkritikers Rory Rowan liest, muss unweigerlich auch an den ökologischen Fussabdruck denken, beinhaltet die These des Anthropozäns ja in etwa, dass die Menschheit die Umwelt so stark in Mitleidenschaft zieht, bis sie die geologische Struktur der Erde verändert, die Menschheit also selbst zu einem geologischen Akteur wird. 

Sollte das Anthropozän nicht besser Kapitalozän heissen?

Und wie der Text auch schön darlegt, kann der Begriff des Anthropozäns wiederum dafür kritisiert werden, dass er globale Machtstrukturen, Kolonialgeschichte, Imperialismus, Industrialisierung und Rüstungsindustrie unter dem Schleier eines “universellen menschlichen Subjekts” zusammenfasst, wo es doch passender wäre, von einem Kapitalozän oder einem Industrialozän oder Easyjeterzän oder Alte-weisse-Männerzän oder Wer-auch-immer-daran-schuld-ist-zän zu sprechen. 

Wie dem auch sei, es ist für Kunstschaffende sicherlich nicht einfach in dieser Konstellation einer “Bio-geo-graphie” des Anthropozäns seine eigene Position zu definieren, denn hier geht es nicht um das sharen der google-maps-location, also die Angabe der Koordinaten des eigenen Standorts, sondern darum, wie die Biographie des Einzelnen sich in die Geographie seiner Umwelt einschreibt. 

Grosses Publikum: Die Eröffnung der Werkschau Thurgau 2019 lockte viele Besucherinnen und Besucher in die Kunsthalle Arbon. Bild: Michael Lünstroth

Wie das Thema die Kunst inspiriert

Jetzt aber keine Panik, in der Kunsthalle wurde weder ein tiefes Loch gegraben noch irgendwelche Chemikalien verschüttet. Die Beziehung von Anthropozän und Kunst erschöpft sich, zum Glück, in der reinen Inspiration durch dieses Konzept, zumindest bei den Positionen, welche in Arbon gezeigt werden. 

Inge Abegglen war in der Jury zur Auswahl der Kunstschaffenden dabei und hat die Ausstellung in der Kunsthalle Arbon kuratiert. Auf die Frage nach dem verbindenden Element zwischen den Positionen gibt sie zu bedenken: „Erstes Kriterium war die Grösse, weil wir in der Kunsthalle mehr Raum haben als in den anderen Ausstellungsorten der Werkschau. Im Nachhinein sehe ich aber bei allen Positionen das Motiv des Fliessens, des Wassers, und des Werdens.” 

Ein Fliessen und Werden 

Ist das bereits eine Antwort auf die Kritik am Anthropozentrismus des Anthropozäns? Das Wasser als Element aus welchem der Mensch zwar besteht, welches aber den Mensch auch überlebt, übersteigt? Aber bleiben wir mal auf festem Boden, oder eben, in der Kunsthalle. 

Die Kunsthalle ist bekanntlich recht gross, aber zugegebenermassen wirkt sie für die sechs gezeigten Positionen fast zu klein. Nahe beim Eingang läuft auf einem Flachbildschirm FOE (Fountain of Existence) von Olga Titus. In einem kleinen Raum oberhalb der Küche wird zudem die Arbeit Crystallisation an die weisse Backsteinwand projiziert. 

Olga Titus «Crystallisation» (2017). Bild: Andrin Uetz

Olga Titus spielt mit kulturellen Klischees

Die farbenfrohen Filmcollagen aus Ethno-Kitsch, Masken, Kakteen, Kristallen, Bonsais, Gesteinsformationen, Händen und vielem mehr scheinen zwar mit kulturellen Klischees und der Kommodifizierung von Kultur und Religion zu spielen, gleichzeitig aber auch diese globalisierte Vielfalt in spielerischer Weise zu affirmieren. 

Anstelle von kulturpessimistischen Lamentationen des Verlustes der Aura durch die technische Reproduktion (Walter Benjamin lässt grüssen) zelebriert Titus einen Ethnofuturismus von scheinbar grenzenloser Kreativität im Rahmen der digitalen Möglichkeiten. “Home is a fluid idea”, steht in einem ihrer Filmstils, und in einem anderen: “Identity itself is in question.” Titus beschert den Schauenden und Hörenden einen immersiven Trip, bei dem man sich sehr gerne auflöst in warmen Farbtönen und sanften Klängen. 

Sisyphos und die Batikgespenster 

Unweit vom Eingang hängen riesige Tücher, mit Batiktechnik gefärbt oder mit Pinsel bemalt von Lika Nüssli. Es handelt sich, zumindest in Teilen, um die Arbeit Drawinghell 7, welche teils auf den Pariser Strassen zwischen Obdachlosen und Geflüchteten entstanden sind und im Kunstraum Dornbirn zur Ausstellung kam. 

Die darin aufgesogenen Kontraste zwischen Haute Couture und zerrissenen Lumpen, zwischen Dekadenz und Existenzängsten, zwischen Staatsgewalt und Verletzlichkeit, verdichten sich zu einer gespenstisch wirkenden Installation, welcher man gerne die gesamte Kunsthalle anvertraut hätte. Nüssli gelingt es die Fragilität der Tücher, wie auch die bescheidene Menschlichkeit der Zeichnungen aufs grosse Format zu bringen, ohne dabei etwas vom Engagement und von der Empathie einzubüssen, welche diese Arbeit auszeichnen. 

Lika Nüssli «New Ghosts» (2019). Bild: Andrin Uetz

Dialog zwischen den Arbeiten in der Ausstellung

Vergleichsweise prollig und hochmütig wurde der Performancekünstler Christoph Rütimann von fünf Helfern in einer gezimmerten Holzkugel in die Halle gerollt. Krachend bahnte sich das Spektakel seinen Weg ans hintere Ende der Kunsthalle, wo der Künstler dann unversehrt seinem Apparat entschlüpfte, und von nun an ein Video vom Innern der Kugel das nun stehende Objekt ergänzt und von der witzigen Aktion Zeugnis hält. 

Leider wurden Teile von Lika Nüsslis Tüchern dabei in Mitleidenschaft gezogen. Wobei sich diese zwei Arbeiten kurioserweise auch ganz gut ergänzen. Es entsteht ein Dialog zwischen der Bretterkugel und den Batiktüchern, bei dem man auch ein bisschen an die Hausbesetzerromantik der 1980er Jahre denken könnte. Vielleicht geht es ja in beiden Werken um Stereotype, um den Handwerker als Macher und die Hausfrau als Schleierhafte, und natürlich dann auch die kritische Reflexion und das Aufbrechen dieser Stereotype. 

Der Moment, in dem Christoph Rütimanns «Eine Einigelung» an Lika Nüsslis «New Ghosts» vorbeischrammt. Bild: Michael Lünstroth

Ein Thema: Das Aufbrechen vertrauter Stereotype

Etwa wenn die Holzkugel ständig zu bersten droht unter dem Druck der Männerhände, des Gewichts von Rütimann, welcher sich selbst in der Kugel auch nicht unbeachtlichen Verletzungsgefahren aussetzt. Oder wenn Nüsslis Batikgespenster zwar fragil, aber ebenso gross und mächtig den Raum für sich einnehmen, gar regieren. 

Die bessere Arbeit von Rütimann findet sich jedoch im Keller unterhalb der Kunsthalle. Mit einer Kamera ist er im Dürresommer 2018 in Müllheim den zur Notbewässerung ausgelegten Feuerwehrschläuchen nachgelaufen. So nimmt er die Zuschauenden auf eine Achterbahnfahrt durch bekanntes Terrain, mit umso ungewohnterer Perspektive. 

Verzauberte Alltäglichkeit und weitere Wundersamkeiten

Es gelingt etwas, was sonst nur selten möglich ist im Film; nämlich, dass die eigene Fantasie beflügelt wird, anstatt zugeschüttet. Wie beim Spielen in der Kindheit werden die Feuerwehrschläuche zu einer Achterbahn, zu einer Schlange, zu einer Rutschbahn, und alles ist irgendwie anders als zuvor. 

Etwas ratlos hingegen lässt einen die Installation von Herbert Kopainig alias Elias Wundersam, zurück. Das wirkt auf den ersten Blick etwas wie ein Stand an einer Magic-Convention. (Was ja an sich nicht schlecht ist). Nur ist es für diejenigen, die nicht eingeweiht sind in das Geheimwissen des Elias Wundersam, die seine ganz eigenen Mythologien nicht kennen, schwierig, den trollartigen Figürchen und kosmonautischen Bildern in Leuchtfarben etwas abzugewinnen. 

Lässt einen etwas ratlos zurück: Detail aus «Matrix-Mensa» des Duos Wundersam & Schmalz in der Kunsthalle Arbon. Bild: Michael Lünstroth

Ist das jetzt ein Stand auf der Magic-Convention?

Das ist wie mit Harry-Potter-Merchandising für Leute, welche weder dessen Bücher noch Filme kennen, was ja auch nicht gegen das Merchandising spricht, aber eben zeigt, dass dieses ohne die Story dahinter nicht funktioniert. Vielleicht kann da aber die Performance “MATRIX MENSA” mit Wundersam & Schmalz am Sonntag, 3. November, etwas mehr Aufschluss geben. 

Am nächsten bei der Geologie sind wohl die Arbeiten des Steinbildhauers Peter Kamm. Beschäftigen sich seine früheren Arbeiten oft mit Versteinerungen, also einer Art Biomorphologie, so wirken die sechs ockerfarbenen Steinskulpturen auf einem himmelblauen Podest in der Kunsthalle eher klassisch. Geometrische, schwungvolle Linien, aber auch Brüche halten sich in einer ruhenden Balance. Beim näheren Betrachten entwickeln die Skulpturen eine lebendige Präsenz, obwohl es sich ganz und gar um Dinge, geometrische Formen und nicht Statuen handelt. 

Eine der Arbeiten des Steinbildhauers Peter Kamm, die in der Kunsthalle Arbon zu sehen sind. Bild: Michael Lünstroth

Die fliessende Poetik von Stein und Stahl 

Gleich dahinter finden sich drei Arbeiten von Lucie Schenker. Zum einen “Raster”, zwei fensterartige Rahmen aus Industriefilz, welche sich aufgehängt leicht verziehen. Zudem eine aus Eisenstäben geformte “Welle”. Und in der Kunsthalle besonders wirksam eine Installation aus Eisendrähten («Arabeseken», 2013, siehe Titelbild oben), welche sich von der Decke bis zum Boden schlängeln, und bei aller Statik des Materials irgendwie zu fliessen scheinen. Ein bisschen wirr, aber eben doch geordnet und regelmässig. 

Das sind beides Positionen, die sich jeder Beschreibung entziehen, aber eben darum umso wirksamer sind, wenn man sie vor Ort sieht, im Raum erfahren kann. Da stimmt einfach alles und man weiss gar nicht so recht warum. Vielleicht ist es das Zusammenspiel von Natur und Kunst, von Erosion und handwerklicher Formgebung. 

Lucie Schenker «Welle» (2013). Bild: Michael Lünstroth

Am Ende strahlt die Unaufdringlichkeit am hellsten

Und genauso wie die Werke von Lika Nüssli und Christoph Rütimann in Dialog treten, scheinen sich auch diese zwei Arbeiten zu ergänzen. Es sind wohl die subtilsten, unaufdringlichsten künstlerischen Fingerabdrücke in einer sonst doch recht exzentrischen Show. Und das zeigt Wirkung. 

Termine: Die Werkschau Thurgau 2019 ist bis 17. November in der Kunsthalle Arbon zu sehen. Die Öffnungszeiten:  Sa/So jeweils von 11 bis 16 Uhr. Der Eintritt ist frei. Im Rahmenprogramm: Am Sonntag, 3. November, 15 Uhr: Matrix-Mensa, Performance von Wundersam & Schmalz. Samstag, 17. November, 15 Uhr: Gentle Revolution: Performance mit Lika Nüssli. Im Internet: www.werkschautg.ch 

Bilderstrecke: Eindrücke von der Vernissage der Werkschau Thurgau 2019

 

Weitere Texte zur Werkschau Thurgau

Auf Sisyphos’ Spuren: Bericht zur Vernissage vom 26. Oktober 2019.

9 Dinge, die Sie über die Werkschau Thurgau 2019 wissen sollten: Vorschau mit 9 Fragen und Antworten rund um die Werkschau

Spuren, die Geschichten erzählen: Besprechung der Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau

Raus aus der Theorie, rein ins Leben: Besprechung der Ausstellung im Shed Eisenwerk Frauenfeld 

Keine Angst vor grossen Themen: Besprechung der Ausstellung im Kunstraum Kreuzlingen

 

Themendossier: Alle Texte, die zu dieser und den vorangegangenen Werkschauen erschienen sind, gibt es gebündelt in unserem Dossier „Werkschau Thurgau".

 

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