Seite vorlesen

von Inka Grabowsky, 20.11.2024

Gruselige Geschäfte

Gruselige Geschäfte
„St." Adrian bekam als siegreicher Glaubenskämpfer einen Lorbeerkranz und wurde liebevoll eingekleidet. | © Wolf Dieter Burkhard

Die katholische Kirche hat lange vom Handel mit Katakombenheiligen profitiert. Das zeigt auch die Geschichte von St. Adrian und St. Vinzenz in der Klosterkirche in Münsterlingen. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

Rund um Allerheiligen – oder Halloween – sind ausnahmsweise menschliche Skelette Teil des modernen Alltags. Man sieht sie im Schaufenster und weiss: Die sind nicht echt. Bestenfalls ist man amüsiert, schlimmstenfalls genervt. Vor vierhundert Jahren war das Verhältnis der Christen zu menschlichen Knochen ein anderes: In den Kirchen wurden Katakombenheilige in gläsernen Schreinen ausgestellt. Man sah sie und wusste: Die sind echt. 

«Für die Menschen im 17. Jahrhundert legten sie Zeugnis ab von den frühen Tagen des Christentums, als Anhänger der neuen Religion in Rom noch verfolgt wurden und zu Märtyrern des Glaubens wurden.» Das erklärt Wolf-Dieter Burkhard, der als Lokalhistoriker zu den «heiligen» St. Adrian und St. Vinzenz, die in der Klosterkirche in Münsterlingen liegen, geforscht hat. 

 

Lokalhistoriker Wolf Dieter Burkhard vor dem verschlossenen St. Vinzenz Altar in der Klosterkirche Münsterlingen. Bild: Inka Grabowsky

Nicht wirklich heilig

Die Anführungsstriche sind deshalb wichtig, weil Adrian und Vinzenz keine offiziellen Heiligen sind. «Wahrscheinlich sind es aber immerhin Christen», erklärt der pensionierte Lehrer mit einem Lächeln. «Sie liessen sich zwischen dem zweiten und sechsten Jahrhundert nicht kremieren, sondern ausserhalb Roms in grossen Höhlen begraben. ‹Cata cumbae› heisst ‹steile Felsen›.» 

Schon im 8. Jahrhundert, als das Christentum längst Staatsreligion war, waren menschliche Überreste aus den Katakomben in Kirchen gebracht worden, wo sie verehrt wurden. Dann aber gerieten die unterirdischen Friedhöfe in Vergessenheit.

Erst 1578 wurden sie zufällig wiederentdeckt. «Es traf sich, weil im Zuge der Reformation durch die Bilderstürme zahllose Reliquien vernichtet worden waren. Die katholische Kirche brauchte Nachschub. Der Historiker Ernst Alfred Stückelberg schreibt 1907 von ‹antiprotestantischer Propaganda›».

 

„St." Adrian bekam als siegreicher Glaubenskämpfer einen Lorbeerkranz  und wurde liebevoll eingekleidet. Bild: Wolf Dieter Burkhard

Importiert mit offiziellem Siegel

Und so beschaffte sich auch das Kloster in Münsterlingen 1667 ein Skelett aus Rom, versehen mit einem offiziellen kirchlichen Zertifikat. Einen Namen hatte der Verstorbene zunächst nicht. Auch wann er gelebt hat, ist unbekannt. Zunächst wurde »Adrian» in die alte Kirche am See gebracht, 1716 zog er in die neu gebaute Klosterkirche um, wo er hinter Glas im eigenen Adriansaltar noch heute ruht. 

Anlässlich ihrer Überführung wurden die menschlichen Überreste neu gefasst, die Knochen wurden also zusammengefügt und mit Prunkgewändern überzogen. Edelsteine – ob echt oder falsch weiss man nicht – schmücken das Gesicht und die Hände. «Der barocke Prunk hat natürlich einen Zweck», erläutert der Forscher. «Man wollte den Reformierten zeigen, wozu man fähig war. Und die katholischen Gläubigen sollte ihre Heiligen leibhaftig vor sich haben, wenn sie von ihnen Hilfe erbaten.» 

Das letzte Mal neu eingekleidet wurden bei beiden Münsterlinger «Heiligen» bei der Restauration der Klosterkirche Mitte der 1960er Jahre. «Die Nonnen von Tübach, die das damals überaus liebevoll gemacht haben, waren gerührt. Das jedenfalls schrieben sie in Briefen, die sich erhalten haben.» 

 

„Vinzenz“ wurde geschmückt und bekam als Kämpfer für den Glauben ein Schwert in die Hand. Bild: Wolf Dieter Burkhard

Investition für die Kirchen

Der «heilige» Vinzenz ist erst seit 1821 in Münsterlingen. Er war zuvor im Konstanzer Kloster Petershausen zu sehen, doch das Kloster wurde 1802 säkularisiert. 1819 wurde die Kirche geschlossen. Weil er eine neue Ruhestätte brauchte, war Vinzenz also relativ leicht zu beschaffen. 

In früheren Zeiten war es erheblich aufwändiger, an einen Katakombenheiligen zu kommen. «Rom hat ein Geschäft daraus gemacht. Die Kurie hat gut verdient.» Doch es konnte eine lohnende Investition sein. Man bot den Gläubigen etwas. Eine Kirche mit Reliquien wurde aufgewertet. Das kurbelte den Pilgertourismus an. «Leider sind für unsere Münsterlinger Heiligen keine Wunder dokumentiert», sagt Wolf-Dieter Burkhard. «Ob es Wallfahrten zu ihnen gab, bezweifele ich.»

Aus der Zeit gefallen – oder doch nicht?

St. Adrian und St. Vinzenz sind heute nur noch im Rahmen von Führungen zu sehen. Nur selten wird der Adrians-Altar rechts vor dem Chorgitter während eines Gottesdienstes geöffnet. «Selbst wenn sie ganz gewöhnliche Sterbliche waren, gebührt ihnen Respekt», sagt Wolf-Dieter Burkhard. «Heute sind sie Teil unserer Geschichte. Sie dokumentieren die frühere Frömmigkeit. Anhand ihrer Schreine begreifen wir, was die Menschen damals bewegt hat. Und seien wir ehrlich: Wer heute Souvenirs von Popstars oder Sportlern sammelt, der hat sich nicht weit von der Reliquien-Verehrung entfernt.»

 

Der Schrein ist nur selten geöffnet zu sehen. Bild: Wolf Dieter Burkhard

 

Kommentare werden geladen...

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Wissen

Kommt vor in diesen Interessen

  • Gesellschaft
  • Religion
  • Spiritualität

Werbung

„Der Thurgau ist ein hartes Pflaster!“

Wie ist es im Kanton für junge Musiker:innen? Wir haben mit einigen von ihnen gesprochen!

Fünf Dinge, die den Kulturjournalismus besser machen!

Unser Plädoyer für einen neuen Kulturjournalismus.

Was bedeutet es heute Künstler:in zu sein?

In unserer Serie «Mein Leben als Künstler:in» geben dir acht Thurgauer Kulturschaffende vielfältige Einblicke!

Unsere neue Serie: «Wie wir arbeiten»

Unsere Autor:innen erklären nach welchen Grundsätzen und Kriterien sie arbeiten!

Eine verschleierte Königin

Einblicke ins Leben der Künstlerin Eva Wipf: Hier geht's zu unserer Besprechung der aktuellen Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau.

#Kultursplitter im November/Dezember

Kuratierte Agenda-Tipps aus dem Kulturpool Schweiz.

15 Jahre Kulturkompass

Jubiläumsstimmen und Informationen rund um unseren Geburtstag.

Kultur für Klein & Gross #22

Unser Newsletter mit den kulturellen Angeboten für Kinder und Familien im Thurgau und den angrenzenden Regionen bis Ende Januar 2025.

«Kultur trifft Politik» N°I

Weg, von der klassischen Podiumsdiskussion, hin zum Austausch und zur Begegnung. Bei der ersten Ausgabe am Mittwoch, 27. November geht es um das Thema "Räume".

"Movie Day": jetzt für 2025 bewerben!

Filme für das 12. Jugendfilm Festival können ab sofort angemeldet werden. Einsendeschluss der Kurzfilme für beide Kategorien ist der 31.01.2025

Ähnliche Beiträge

Wissen

Annäherung an den Tod

Wie will ich mein Lebensende gestalten? Ein Forschungsprojekt der OST Fachhochschule Ostschweiz widmet sich dieser Fragestellung. Und nutzt dabei auch Instrumente der Theaterpädagogik. mehr

Wissen

Gab es die Päpstin wirklich?

Facetten des Mittelalters (4): Nicht alles, was in alten Chroniken steht, stimmt. Aber manchmal macht man dort ganz erstaunliche Entdeckungen. mehr

Wissen

Die Tricks der Mönche

«Facetten des Mittelalters» (2); Nicht immer wurde mit Waffen um Privilegien gekämpft. Oft lagen erst gefälschte Urkunden auf dem Tisch. Ein Blick in die Fälscherwerkstätten des Klosters Reichenau. mehr