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von Anabel Roque Rodríguez, 01.06.2023

Soziale Herkunft als künstlerisches Forschungsfeld

Soziale Herkunft als künstlerisches Forschungsfeld
Age on Stage | © Knut Klassen

Für ihr Schaffen «in der Mitte von» Schauspiel und Kunst erhält Ariane Andereggen den Föderpreis des Kantons Thurgau in der Sparte Schauspiel und Performance. Ihr Interesse gilt dem Körper als Archiv. (Lesezeit: ca. 4 Minuten)

Das künstlerische Schaffen von Ariane Andereggen wird häufig als «Dazwischen» beschrieben: zwischen politischer Aktion und Kunst, zwischen künstlerischen Genres, dabei geht es gar nicht um das «Dazwischen», sondern viel eher um das Mittendrinnen.

Ihre Geschichten sind keine Aussenperspektiven «wie sie im Theaterbetrieb mit seinem klassischen Kanon» oft präsentiert werden, sondern kommen direkt aus ihrem Leben und den Beobachtungen, die andere mit ihr teilen. «Leute wie ich, deren soziale Herkunft nicht mit dem bildungsbürgerlichen Habitus übereinstimmt, werden im besten Fall als oszillierend oder eben als schräger Vogel bezeichnet.»

Die Trias aus Herkunft, Klasse und Geschlecht

Ihre Themen kreisen um strukturelle Fragen, die von Herkunft, Klasse und Geschlecht beeinflusst sind. Kunst ist bei ihr keine Sozialstudie, sondern geschieht aus einer Haltung heraus, die sich Hierarchien gegenüberstellt. Wissen und Können ist nicht nur etwas für das akademische Bürgertum.

«Die Frage nach dem Ziel meines Kunstschaffens kann ich nicht direkt beantworten. Nützlichkeit bezieht sich ja auf eine bestimmte Produktionslogik und die ist in der Kunst nicht unbedingt voraussehbar.»

Ariane Andereggen

So ergeben sich zentrale Fragen: Wer nimmt wie am Leben Teil? Wer hat welchen Zugang? Wie sind die Arbeitsbedingungen von Kunstschaffenden?

«Die Frage nach dem Ziel meines Kunstschaffens kann ich nicht direkt beantworten. Nützlichkeit bezieht sich ja auf eine bestimmte Produktionslogik und die ist in der Kunst nicht unbedingt voraussehbar. Die Förderstrukturen im Kunst- und Kulturbetrieb verlangen aber einerseits ergebnisorientiert und gleichzeitig offen für künstlerische Prozesse zu sein. Wie mache ich diesen Widerspruch konstruktiv? Mich interessiert daher auch der Gebrauch von Kunst. Wie wird Kunst tatsächlich benutzt und von wem, auch ausserhalb der eigenen Bubble?»

Schauspiel und Performance

Andereggen wuchs am Bodensee auf und studierte Schauspiel in Bern und Medienkunst in Karlsruhe. Inzwischen lebt sie in Basel und Hamburg. Im klassischen Theater mit den hierarchischen Strukturen fühlte sie sich nicht wohl und kam zur Kunstwelt inspiriert durch die feministische Videokunst der 80er und 90er Jahre.

Videostill aus der Performance Stockstehen.
Videoessay/ Film «Klassenverhältnisse am Bodensee». z.V.g.

 

«Irgendwie empfand ich immer so etwas wie Spartendruck – furchtbar! Ich wurde nicht als ‹Vollblutschauspielerin› gesehen und in der Performancekunst ging es viel um den Einsatz des Körpers, dem ich aber die Sprache gegenübergestellt habe. Ich habe also in den Performances viel gesprochen, um die soziale Rolle einer Künstlerin jenseits eines Genie-Kultes verhandelbar zu machen.»

So entstanden Performances wie «Myself as an outsider artist» (2008/2009), in der sie über den Begriff des «Outsider-Ismus» oder «Art Brut» nachgedacht hat. Begriffe, die bis heute in der Kunstgeschichte problematisch sind, weil Künstlertum stark an Ausbildung gebunden ist und Kunsttherapie eher am Rande auftaucht.

Die Performances aus der Serie greifen das auf und gliedern ihre Videos nach psychischen Strategien gegliedert: Depression, Neurosen, Schizophrenie und Narzissmus. Dabei entsteht eine Art ärztliche Definition für Kunst und ein wunderbar absurder Beurteilungskatalog für Kreativität. Es liegt die Frage zugrunde, «wie authentisch muss oder darf man sein, um als Künstlerin anerkannt zu werden?»

Videostill aus Buchhalter
Videoessay/ Film «Klassenverhältnisse am Bodensee». Bild: z.V.g.

 

Autorenschaft und Freiräume

In vielen ihrer Solostücke zeigt sich ein spannendes Verhältnis von Performance und Schauspielerei. Betrachtet man beide Ausdrucksformen gelangt man zu Fragestellungen zu Autorenschaft und Freiräumen, an der Grenzen von Verkörperung einer vermeintlichen Persönlichkeit und der eigenen Interpretation eines Themas. Das führt zu einer zentralen Frage: Wer ist man eigentlich auf der Bühne?

«Als Schauspieler:in ist man ja kein hohles Gefäss, das vom Regie-Gott gefüllt werden muss. Ich reflektiere immer den Unterschied, zwischen mir und der Rolle und versuche damit zu spielen.»

Ariane Andereggen

«Als Schauspieler:in ist man ja kein hohles Gefäss, das vom Regie-Gott gefüllt werden muss. Ich reflektiere immer den Unterschied, zwischen mir und der Rolle und versuche damit zu spielen. So hatte ich Glück, dass mein souveräner Umgang mit diesen Differenzen von den meisten Regisseur:innen geschätzt wurde. Wir alle spielen Rollen im Kontext unseres sozialen Austausches. Es ist nichts Neues, ich gehe vom Privaten zum Öffentlichen über momentane Aneignungen. Man könnte es als zustandsbezogenes Bildschaffen bezeichnen. Ich bin nicht schizophren, aber mein Ziel ist es auch nicht, widerspruchsfrei zu sein.»

Wenn Frauen altern …

Gerade als Frau verändert sich die Zuschreibung der eigenen Rolle, je nachdem in welcher Phase ihres Lebens sie sich befindet. Es ist ein strukturelles Phänomen, dass Frauen kaum Führungspositionen erhalten. Da ist der Kulturbetrieb genauso wenig progressiv, wie die freie Wirtschaft. Es gibt wenige Intendantinnen und noch weniger Rollen für Frauen ab 45 Jahren. Wie würde sich das Geschichtenerzählen und die Rollen ändern, wenn mehr Frauen sie selbst erzählen dürften?

Age on Stage
Age on Stage: Das Altern auf der Bühne. Bild: Knut Klassen

 

In der Performance «Age on Stage/Am Rande des Rollenfeldes» spürt sie ihrer eigenen Lebensphase als Frau über 50 nach. «Das Fehlen von älteren, weiblich gelesenen Personen auf der Theaterbühne und vieler anderen Positionen ist ein kulturpolitisches Forschungsloch. Frauen* werden in ihrem Leben in Relation zu ihrer Care-Leistung eingeordnet, erst als Mutter, und wenn sie dann ihr Reproduktionsalter endlich überschritten haben, sollen sie Enkel hüten», sagt Ariane Andereggen.

Im weiblichen Alterungsprozess fingen dann irgendwann die Selbstzensur und der Rückzug an und einige Frauen* beschäftigten sich, sofern sie die Ressourcen hätten, mit der Selbstoptimierung ihres eignen Körpers und die anderen machten sich selbst verantwortlich, statt die Strukturen zu kritisieren, die sie diesem Blick-Regime unterwirft, das junge Körper als Norm für jedes Lebensalter setzt.

Über Selbstvermarktung, Kunst und Aktivismus

Das Problem, das die freie Szene damit hat, strukturelle Probleme bei den Arbeitsbedingungen anzusprechen, liegt natürlich an eben dem Modell dieser Strukturen – die Kurator:innen, Politiker:innen, Föder:innen – die natürlich unter Umständen über das nächste Engagement entscheiden.  

«Mit Selbstvermarktung sind alle Künstler:innenexistenzen konfrontiert. Kunst verändert nicht die Welt, aber sie schafft wirksame Diskurse. Das Schwierige am neoliberalen Kapitalismus ist ja, wenn Kritik an den Arbeits- und Lebensverhältnisse dafür genutzt wird, um daraus neue Businessideen zu entwickeln. Jede:r wird selbst zu einem/einer Kritiker:in auf der Grundlage der Selbstoptimierung. Die Prämisse um aktivistisch zu sein, ist die Solidarität und es wäre schön, wenn uns Kunst wieder näher zu diesem Gedanken führt – weg von der Selbstoptimierung, hin zu struktureller Veränderung und dem sozialen Aspekt.»

Klassenverhältnisse am Bodensee

In ihrem neuen Videoessay «Klassenverhältnisse am Bodensee» kehrt Ariane Andereggen zurück an den Bodensee und erzählt eine Geschichte über Auslassungen und Schweigen in biografischen Erzählungen. Wie erzählen wir über unser Leben und über was wird geschwiegen und warum?

Im Film geht sie zurück zu Jugendfreund:innen, Familienmitgliedern und Wegbegleiter:innen, um über die Erinnerung an die ehemals industrialisierte Bodenseeregion zu sprechen, die auch massgeblich durch Migrant:innen aufgebaut und geprägt wurde – und in den letzten Jahren vor allem Leute anzieht, die nicht gerne Steuern zahlen.

Ariane Andereggen setzt sich mit sozialen Fragen auseinander
Ariane Andereggen setzt sich mit sozialen Fragen auseinander. Bild: z.V.g.

 

Die Erzählung zeigt Einblicke in einen greifbaren Klassismus und eine Art von Konsenskultur – zwischen den Zeilen finden sich so Antworten, wie Gesellschaften von unsichtbaren Trennlinien durchzogen sind.

Neue Recherche durch den Förderbeitrag

Den Förderbeitrag verwendet die Künstlerin für eine neue Recherche rund um das nächtliche Träumen. Sie macht sich auf den Weg, um Traumerzählungen von KünstlerInnen zusammen zu tragen, die oft in prekären Lebensumständen leben. Dabei geht es auch um einen Interpretationsfreiraum, der sich nicht nur an bildungsbürglicher Literatur oder Psychoanalyse orientiert.

«Mich interessiert der Körper als Archiv und die Idee des Social Dreaming. Eine Art von Surrealismus von unten, wenn es so etwas gibt.» Der Prozess ist offen, aber sie wird sicher wieder mittendrin im Persönlichen starten, weil das Private ihr Antrieb ist, um der Welt näher zu kommen, um vom Ich ausgehend das Soziale zu begreifen.

Die Serie zu den Förderbeiträgen


Die Serie: Alle ausgezeichneten Künstler:innen stellen wir in persönlichen Porträts vor. Sie erscheinen nach und nach in den nächsten Wochen bis zur Preisvergabe im Greuterhof Islikon am 7. Juni 2023. Alle Beiträge werden im Themendossier «Förderbeiträge» gebündelt. Dort finden sich auch Texte zu früheren Preisträger:innen.

 

Die Förderbeiträge: Die sechs jeweils mit 25'000 Franken dotierten Förderbeiträge vergibt der Kanton Thurgau einmal im Jahr. Mit der Auszeichnung soll eine künstlerische Entwicklung ermöglicht werden. Die Förderbeiträge wurden von einer Jury vergeben, die sich aus den Fachreferentinnen und -referenten des Kulturamts und externen Fachpersonen zusammensetzt. „Die Anzahl und Qualität der eingegangenen Bewerbungen war in diesem Jahr ausserordentlich hoch“, schreibt das kantonale Kulturamt in einer Medienmitteilung zur Preisvergabe.

 

Die Jury: Der diesjährigen Jury gehörten an: Annette Amberg, Kuratorin; Marcel Grissmer, Theaterschaffender; Lea Gabriela Heinzer, Musikerin; Pat Kasper, Musiker; Florian Keller, Journalist und Veranstalter; Patrizia Keller, Kuratorin; Markus Landert, Direktor Kunst- und Ittinger Museum Thurgau; Carina Neumer, Tanzschaffende; Simone Reutlinger, Musikwissenschaftlerin; Karin Schwarzbek, Künstlerin; Anja Tobler, Schauspielerin; Laura Vogt, Autorin; Regula Walser, Lektorin; Julia Zutavern, Filmschaffende; sowie Michelle Geser, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Kulturamts (Vorsitz).

 

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