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von Maria Schorpp, 12.11.2025

Tatortbegehung der besonderen Art

Tatortbegehung der besonderen Art
Zirka zehnmal wird Viktor (Noce Noseda, am Boden) von Thomas (Federico Dimitri, vorn) niedergestreckt. | © Regina Jäger

In Frauenfeld sind mit „Wie das Ende von Casablanca“ eine sehr ausgetüftelte Inszenierung und famose Schauspielerei der Theaterwerkstatt Gleis 5 und der Compagnia Dimitri/Canessa zu sehen. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

„So kann es nicht gewesen sein“. Der Satz fällt so oder sinngemäss mehrfach an diesem Theaterabend. Man kennt das. Man meint sich an etwas zu erinnern, und weiss gleichzeitig, dass es allen Regeln der Wahrscheinlichkeit widerspricht. Thomas ist überzeugt, dass er Viktor erschossen hat.

Eigentlich kann man bei Thomas aber nicht davon ausgehen, dass er in seinem Zustand die Kraft hat, von etwas wirklich überzeugt zu sein. Viktor lebt, da besteht kein Zweifel. Keinen Kratzer hat er, wie er versichert.  Was Thomas aber nur dazu bringt, immer wieder seine simulierten Schüsse abzugeben. Victor tut ihm den Gefallen und sinkt jedes Mal nieder.

Man muss aufpassen

Man braucht ein bisschen, bis man die Konstruktion des Stücks „Wie das Ende von Casablanca“ durchschaut. Federico Dimitri als Thomas und Noce Noseda als Viktor sind als Schauspieler gleich sehr präsent und werden im Verlauf des Abends dabei auch nicht nachlassen. Grosse Klasse, wie sie diese beiden Figuren in ihrer ganzen Vielschichtigkeit auf die Bühne bringen. Weshalb man Gefahr läuft, nicht richtig aufzupassen, was den rationalen Ablauf betrifft. Die erste Szene ist der Prolog für alles, was dann passiert.

Mit einem Mal befindet man sich in einem Provinzbahnhof. Ein Schneesturm hat alle Zugverbindungen gekappt. Viktor sitzt fest. Dann kommt Thomas herein. Der Bühnenraum dieser erneuten gemeinsamen Produktion der Frauenfelder Theaterwerkstatt Gleis 5 und der Compagnia Dimitri/Canessa ist tiefschwarz, einzig bestückt mit orangefarbenen Hartplastikstühlen. Lichtdesigner Marco Oliani macht mit seinem meisterlichen Licht- und Schattenspiel daraus eine Seelenlandschaft.

Video: Trailer zu Inszenierung

Viktor wird zirka zehnmal erschossen

„Wie das Ende von Casablanca“ ist ein Spiel, ein Rekonstruktionsversuch dessen, was in diesem Abend im Bahnhof passiert ist. Ein Detektivspiel, das tief in die Seelen der Protagonisten vordringt. Dabei wird Viktor ungefähr zehnmal zu Boden gehen und sofort wieder aufstehen. Bei jedem neuen Ansatz gehen die beiden ein Stück weiter. Dabei kommen sie sich fast ungewollt immer näher. Wie Noseda und Dimitri bei all dem geradezu existenziellen Ernst auch komische Momente schaffen, ist famos.

Was haben diese beiden Männer miteinander zu tun? Viktor ist Filialleiter eines Supermarkts, Thomas ist nun Spielzeugvertreter. Vieles wird erst im Nachhinein klar, manchmal allerdings nur einigermassen. Warum Viktor gleich am Anfang die Arie „Ach, ich habe sie verloren“ aus Glucks Oper „Orpheus und Eurydike“ parodiert (Musik und Sounddesign von Morten Qvenild), warum er bei dieser besonderen Art der Tatortbegehung darauf besteht, dass die beiden, die sich scheinbar zufällig begegnen, Freunde sind. Und was es mit diesen unseligen Karotten auf sich hat.

„Casablanca“ als Schlüssel für die Inszenierung

Und warum das Stück „Wie das Ende von Casablanca“ heisst. Dass Viktor auf die Frage von Thomas, was sie so unternehmen als Freunde, von ihrem zuletzt gemeinsam gesehenen Film „Casablanca“ mit Humphrey Bogart erzählt, ist mehr als ein spontaner Einfall. Der Film wird noch weitere Indizien liefern, nicht nur für den „Tathergang“, sondern auch für die Entschlüsselung dieser beiden Menschen mit ihren Ängsten, Träumen und ihrer Trauer.

Eine Fülle an Ideen hat sich offensichtlich angesammelt in der mehrjährigen Inkubationsphase für das Stück, das unter der Regie von Elisa Canessa zu einem 75-minütigen Powerritt durch die Seele seiner Protagonisten in all ihrem Ausgeliefertsein an das Leben wird. Einmal driftet eine der Versuchsanordnungen in ein TV-Quiz ab, ein skurriler Spass, der durch Viktors Grenzüberschreitungen und Thomas‘ grenzenlose Verunsicherung etwas Beängstigendes bekommt.

 

Das Lichtdesign von Marco Oliani schafft eine Seelenlandschaft, in der Thomas (Federico Dimitri, stehend) und Viktor (Noce Noseda, am Boden) auf die Suche nach sich selbst gehen. Bild: Regina Jäger

Die Millionen-Frage: Fühlen Sie sich gut?

Ein atemberaubendes Paar, dieser aufgedrehte Viktor von Noce Noseda in weissem Hemd und Weste und dieser ungläubige Thomas von Federico Dimitri in braunem Hoodie und abgelatschten Boots (Kostüme von Joachim Steiner). Die Millionen-Frage an Thomas lautet: Fühlen Sie sich gut? Das Fragespiel bekommt inquisitorische Züge. Eine Szene, so absonderlich wie anrührend.

Und dann ist da noch einer, hinten an der Bühnenrückwand sieht man ihn an einem Laptop sitzen. Simon Engeli scheint so etwas wie den Tonmeister zu geben, der das Spiel auf der Bühne abmischt und mehr zu wissen scheint. Seine vernuschelten Bahndurchsagen sorgen für erheiternde emotionale Verschnaufpausen. Die Inszenierung zieht viele Register, um sowohl ihren Figuren als auch dem Publikum gerecht zu werden.

Doch der Beginn einer wunderbaren Freundschaft?

Auf der Suche nach der Wahrheit jenes Abends am Bahnhof offenbaren beide neue Seiten von sich selbst. Thomas, der Viktor töten wollte, weil er überzeugt ist, dass er am Tod seiner Frau schuld ist. Wobei er sich doch eigentlich für einen guten Menschen hält. Viktors grosser Traum von einem Haus im Wald, einem ruhigen Leben, von Kindern, die ihm versagt bleiben. Sie merken, dass sie nicht so verschieden sind, wie es sich angefühlt hat. Vielleicht doch der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Eine ausgeklügelte Inszenierung ist dieses dritte gemeinsame Projekt von Gleis 5 und der Compagnia Dimitri/Canessa, die strotzt vor Ideen, die allerdings nicht alle ganz nachvollziehbar sind. Ein aufregendes Kunstwerk nichtsdestotrotz, und dem grossen Applaus bei der Premiere tat es auch keinen Abbruch.

Weitere Vorstellungen am 14./15./21./22./28. und 29. November und Tickets gibt es hier.

 

Schlussapplausfreudengesichter: Noce Noseda, Simon Engeli und Federico Dimitri (v. l.). Bild: Regina Jäger

 

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