von Inka Grabowsky, 06.05.2021
Therapie auf offener Bühne
Mutter-Tochter-Beziehungen sind meistens kompliziert. Das Stück «Herzzeitlose» der Ermatinger Schriftstellerin Margit Koemeda spürt dem nach. Die Inszenierung gastiert jetzt im Thurgau. Auf den fünf Wiederaufnahme-Bühnen steht die Schauspielerin und angehende Dramatherapeutin Boglárka Horváth unter der Leitung von Matthias Peter. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
In der Kellerbühne in St. Gallen machen sich Boglárka Horváth und Matthias Peter an die Auffrischungsarbeit. Im November hatte das Mutter-Tochter-Stück „Herzzeitlose“ hier Premiere, dann kam nach sieben Aufführungen die Corona-Pause. Jetzt soll es (nach der Wiederaufnahme am 4. Mai in St. Gallen) im Thurgau auf Tournee gehen.
„Der Stoff hat sich gesetzt, aber es ist alles noch da“, erklärt Horváth. „Ich entdecke nun Facetten, die mir heute wichtiger erscheinen als damals bei der Uraufführung. Weil wir heute andere Entscheidungen treffen, ist nicht alles gleich.“ Das halbe Jahr Reifezeit habe dem Stück gutgetan, meint auch Regisseur Peter. „Und für uns fällt der Stress der Premiere weg.“
Wie man aus Monologen ein Drama baut
Dem Leiter der Kellerbühne hatte die Ermatinger Autorin Margit Koemeda im Dezember 2019 drei ihrer Theatertexte zugesandt. An der „Herzzeitlosen“ sei er hängengeblieben. „Im Buch halten zwei Personen quasi Monologe. Das ist für das Theater nicht so ideal. Aber dann merkte ich: Wenn man einige Passagen umstellt und das Zwei-Personen-Stück mit nur einer Frau inszeniert, dann befindet man sich in einer Therapiestunde.“
In diesem Augenblick kam Boglárka Horváth ins Spiel, mit der Peter bereits beim Drama „Smith & Wesson“ zusammengearbeitet hatte. Sie macht berufsbegleitend eine Ausbildung zur Dramatherapeutin, und auch wenn sie noch gut zwei Jahre bis zum Abschluss hat, konnte sie doch Vieles einbringen. „Wir haben uns wunderbar ergänzt. Es ging Hand-in-Hand“, sagen Peter und Horváth übereinstimmend.
Video: Einblicke in das Stück
Autorin einverstanden mit der Umsetzung
Margit Koemeda hatte sich von Erfahrungen aus ihrer beruflichen Arbeit als Psychotherapeutin inspirieren lassen. Sie höre oft Leidensgeschichten von Müttern und Töchtern, die ihre Sprachlosigkeit jeweils sehr belaste. „Diese Zeiterscheinung mag in unserem Wohlstand begründet sein. Kinder können es sich heute leisten, nach ihrer Ausbildung völlig unabhängig zu leben.“
Die Zusammenarbeit mit dem Regisseur und der Schauspielerin sei völlig problemlos gewesen. „Ich lasse im Text bewusst Leerstellen für die Inszenierung und habe die Verantwortung nach einigen Gesprächen mit Matthias Peter ganz abgegeben.“
Psychodrama auf engstem Raum
Horváth spielt die erwachsene Jenny, die sich von ihrer Mutter Sabine losgesagt hat und deshalb mit Schuldgefühlen kämpft. Was genau die Mutter falsch gemacht hat, lässt sich nicht schnell beantworten.
Das Publikum beobachtet eine siebzigminütige Therapiesitzung, in der Jenny nachempfindet, wie die Eltern-Kind-Beziehung aus dem Ruder läuft. SMS-Dialoge und das Tagebuch der Mutter eröffnen die zweite Perspektive. Dabei gibt es kein Gut und Böse. Der Zuschauer kann tatsächlich beide Seiten verstehen.
Raus aus der Mutter-Tochter-Symbiose
„Die Mutter hat viel Text, deshalb neigt man dazu, sich mit ihr zu identifizieren“, meint die Schauspielerin. „Sabine hat auf der Mutter-Tochter-Symbiose ihr Leben aufgebaut“, sagt der Regisseur. „Sie ist grunddepressiv.“
Erschwert wird die Situation noch durch den dominanten Onkel, bei dem Mutter und Tochter nach der Trennung von Jennys Vater leben. Er ist zwar wohlhabend und grosszügig, will aber unbegrenzte Autorität über das Leben der beiden Frauen ausüben.
Während der schwache, leibliche Vater durch ein aus Zeitungspapier gebasteltes Gesicht auf die Bühne geholt wird (und gleich wieder in einer Kiste verschwindet), wird der Onkel durch einen grossen Garderobenständer dargestellt, der zwar kein Gesicht, dafür aber lange Arme aus Zeitungspapier verpasst bekommt.
Sparsame Requisite lässt Schauspielerin glänzen
„Ich habe mal bei einer Familienaufstellung mitgemacht“, erzählt Matthias Peter, der das Bühnenbild entworfen hat. „Man braucht Stellvertreter, wenn man darstellen will, welche Beziehungen bestehen.“ Lebensgrosse Puppenköpfe repräsentieren die kindliche Jenny und die Mutter. „Die Köpfe sind ideal, um die Figuren präsent zu machen“, sagt Horváth. „Eine kleine Drehung des Puppengesichts sagt viel aus“, ergänzt Peter, „und wenn man im End-Monolog Jennys Körper mit Sabines Kopf sieht, werden die beiden Figuren vereint. Das ist ein schönes Schlussbild.“
Neben den Puppenköpfen und dem Kleiderständer braucht es auf der Bühne nur noch einen Hocker, einen Stehtisch, ein Tuch und zwei Kisten, eine gefüllt mit Kinderspielzeug. Die bemerkenswert larmoyante Mutterstimme aus dem Off steuert Sylvia Luise Denk bei. Die sparsame Ausstattung ist ideal für die kommende Tournee an fünf unterschiedlichen Orten.
Grosse Herausforderung für Schauspielerin
So einfach die Bühne, so anspruchsvoll ist die schauspielerische Aufgabe. „Ich bin Jenny in der Therapiesitzung und als Kind, dann tauche ich in die Mutter ein“, so die Schauspielerin. „Matthias muss mir Rückmeldung geben, ob klar wird, wen ich gerade darstelle.“
Zusätzlich gibt es ja auch noch die real existierende Boglárka Horváth, die eigene Erfahrungen als Tochter und als Mutter von zwei Kindern mitbringt. „Das Verhältnis zwischen Müttern und Töchtern war schon immer ein Thema für mich, auch wenn meine Mutter und ich friedlich miteinander umgehen. Wenn man selbst Kinder hat, wächst das Verständnis für die Mütter.“
Alle Aufführungsdaten und -orte im Überblick
Phönix-Theater Steckborn
Sa, 8. Mai, 20.15 Uhr
Theater Eisenwerk Frauenfeld
So, 9. Mai, 17 Uhr
Theaterhaus Thurgau Weinfelden
Fr, 11. Juni, 20.15 Uhr
Sa, 12. Juni, 20.15 Uhr – anschliessend Publikumsgespräch mit der Autorin in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule Mittelthurgau
Kellertheater Breitenstein in Ermatingen
So, 13. Juni, 18 Uhr – anschliessend Publikumsgespräch mit der Autorin
Von Inka Grabowsky
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