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von Barbara Megert-Lüthi, 23.10.2025

Thurgauer Zeichen in Berlin

Thurgauer Zeichen in Berlin
Aufführung am Rangsdorfer See | © zVg

Sechs Tipis als schwimmende Inseln: Unter der Leitung des auch im Thurgau bekannten Künstlers Hannes Brunner entstand bei Berlin ein kooperatives Projekt, das sich mit ökologischen Fragen auseinandersetzt. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)

Sechs Tipis, gebaut, um sie auf dem See zu bewegen, entstanden im letzten halben Jahr in der provisorischen Werkstatt im Fischereihaus am Rangsdorfer See. Als schwimmfähige Grundlage dienten je drei Plastikfässer, befestigt an Holzlatten und im Dreieck angeordnet. Auf diesem Unterbau erheben sich die eigentlichen Tipis, die gemeinsam eine Art schwimmendes Dorf auf dem See bilden.

Die Tipis wirken bewusst unvollendet und lassen den Zuschauenden Raum für eigene Betrachtungen. Sie bestehen aus ausgedienten Platten. Hannes Brunner erklärt: «Wir verwendeten grösstenteils Materialien, die im Alltag bereits ausgedient hatten und so einer neuen Bestimmung zugeführt werden konnten. Zum Beispiel dienten die biegsamen weissen Platten der Tipis früher als Bodenabdeckung bei der Renovation des Brandenburger Landtages.»

 

«Die Haltung der Kulturstiftung Thurgau, Projekte einheimischer Künstler zu unterstützen, auch wenn sie ausserhalb des Thurgaus stattfinden, empfinde ich als sehr wertvoll. Das Projekt ist so angelegt, dass es auch an anderen, am Wasser gelegenen Orten auf ökologische Themen hinweisen kann.»

Hannes Brunner, Künstler

Um die Kosten für das Projekt tief zu halten, engagierten sich auch interessierte Personen vor Ort und stellten benötigtes Material zur Verfügung.

Hannes Brunner erhielt unter anderem Unterstützung von der Kulturstiftung Thurgau. Er schätzt dies sehr: «Die Haltung der Kulturstiftung Thurgau, Projekte einheimischer Künstler zu unterstützen, auch wenn sie ausserhalb des Thurgaus stattfinden, empfinde ich als sehr wertvoll. Das Projekt ist so angelegt, dass es auch an anderen, am Wasser gelegenen Orten auf ökologische Themen hinweisen kann.»

Aufführungen auf dem Rangsdorfer See

Der Rangsdorfer See ist das Herzstück eines Naturschutzgebietes südlich von Berlin. Im Herbst lassen sich Vogelzüge von Wildgänsen und Kranichen beobachten. Hinter breiten, mit Bäumen gesäumten Strassen liegen zahlreiche von Gärten umgebene Einfamilienhäuser. Doch auch in dieser Idylle zeigen sich ökologische Herausforderungen: Der See ist relativ flach und droht zu verschlammen und zu versanden. Im Winter friert er rasch zu und zieht zahlreiche Eisläufer an. Wegen plötzlich einbrechender Kälte kam es bereits zu massivem Fischsterben.

Aus dieser Situation entstand ein Kunstprojekt, an dem auch der im Thurgau bekannte Künstler Hannes Brunner beteiligt war.

Im Juli fanden mit der öffentlichen Hauptprobe drei Aufführungen am Rangsdorfer See statt – jeweils mit beachtlichem Publikumsandrang. Die Aufführungen folgten einer Choreografie des Künstlers, der vom Ufer aus den Ablauf überwachte und begleitete.

 

Startbereite Tipis am Steg.

Aktuelle Umweltprobleme im Fokus

Die Präsentationen waren mit einem Hörspiel kombiniert. Ein engagiertes Mitglied der örtlichen Theatergruppe «Buntspechte» schrieb dazu einen Text mit sieben verschiedenen Figuren – von Neptun über eine Eisseglerin bis hin zu einem Piraten. Das Stück greift aktuelle Umweltprobleme auf, etwa die Gefahr der Austrocknung des Sees im Lied «Was machen wir ohne H2O?» oder den poetischen Begriff «Mülltitasking».

Das Waten im Schlamm wird durch das Herumschieben der Tipis in Formationen auf dem Wasser symbolisch vorweggenommen. Mitglieder der Projektgruppe nahmen das Hörspiel auf, ergänzt durch passende Geräusche und Musik. Am Ende soll der See wieder glitzern – nicht durch Zauberei, sondern durch Liebe: zur Natur, zur Umwelt und zu den Menschen.

Schwimmende Inseln und Hörspiel

Die Uraufführung lockte am 13. Juli zahlreiche Zuschauende bei idealem Wetter auf die Wiese direkt am See. Die Inseln glitten scheinbar frei – von innen durch Jugendliche gelenkt, vergleichbar umgedrehten Marionetten – nahe dem Ufer über das Wasser, in Formationen, die auf Musik und Hörspiel abgestimmt waren. So entstand eine stimmungsvolle Atmosphäre, die das Publikum zu einer ganz persönlichen Seereise einlud.

Anschliessend ergaben sich bei einem Apéro viele Gelegenheiten für Gespräche und fröhliches Zusammensein in den lauen Sommerabend hinein. Eine Zuschauerin fasste ihre Eindrücke zusammen: «Die Sicht über den See ist stets grossartig. Heute Abend, mit den schwimmenden Inseln und der Geschichte, entstand eine wunderbare Stimmung – Freude, aber auch Nachdenklichkeit darüber, wie wir das Gelände langfristig erhalten können.»

Auch die zweite Aufführung, eine Woche später – diesmal an einem heissen Sommerabend –, war ein grosser Erfolg. Besonders die Jugendlichen hatten an Sicherheit gewonnen und führten die Bewegungen auf dem See mit noch mehr Begeisterung aus.

 

Die schwimmenden Tipi-Inseln auf dem See.

Von der Idee zum Projekt

Wie kann man die Themen rund um den See ökologisch, kulturell, künstlerisch und sozial aufarbeiten?

Als erster Schritt wurde im Garten des Initiators ein Kegel des Projekts «Driver’s Comment» aufgebaut – ein Werk, das 2022 Teil der Berliner Ausstellung «ENTWURFSANLAGEN +/– circular economies» war und bereits 2011 in der Kunsthalle Arbon gezeigt wurde. Ziel war es, zu beobachten, wie sich das verwendete Flugzeugsperrholz im Freien verhält.

Hannes Brunner erklärt: «Ein grosser Vorteil dieser Kegel ist, dass sie, wenn die Aufbereitungsarbeit einmal geleistet ist, in kurzer Zeit ab- und wieder aufgebaut werden können.» Doch eignete sich dieses sehr leichte Konstrukt auch für den Einsatz auf dem Wasser? Schnell zeigte sich: Holz war ungeeignet.

Daraufhin entwickelte Hannes Brunner neue Modelle. Die Auswertung der Ideen brachte – in Zusammenarbeit mit einem Investor – eine engagierte Interessengruppe hervor, bestehend aus einem ehemaligen Direktor des Physikalisch-Technologischen Instituts in Berlin, einem früheren Kampfschwimmer, einem Marathonläufer und einer ehemaligen Stage-Managerin.

Materialien, Ökologie und Wettertauglichkeit

Da Holz als Baustoff nicht infrage kam, rückten ökologische Fragen in den Vordergrund. Der See sollte nicht mit Materialien belastet werden, die sich nur schwer oder gar nicht abbauen lassen. Es galt daher, unter den vorhandenen Möglichkeiten sorgfältig abzuwägen.

Auch meteorologische Bedingungen und die Kräfte im See spielten eine wesentliche Rolle. Der See weist nur eine geringe Strömung auf, die über einen Kanal abfliesst. Entscheidend sind die Windverhältnisse. Die Kenntnisse der Einheimischen, die sich aktiv am Projekt beteiligten, erwiesen sich hier als unschätzbar wertvoll.

Die Bevölkerung half mit, sammelte Wertstoffe aller Art in der Region und unterstützte den Bau der schwimmenden Inseln. Hannes Brunner leitete die Beteiligten an und fand mit ihnen gemeinsam kreative Lösungen im Umgang mit den vorhandenen Mitteln.

Beteiligung der Oberschule Rangsdorf

Ziel des Projekts war es, die lokale Verbundenheit zu fördern und die Menschen vor Ort einzubeziehen. Was lag näher, als die örtliche Schule zu beteiligen und auch junge Menschen ins sprichwörtliche Boot zu holen?

Hannes Brunner richtete im alten Fischereihaus am Rangsdorfer See eine temporäre Werkstatt ein. Mit einer Gruppe Jugendlicher, die sich freiwillig gemeldet hatten, begann er zu experimentieren. Es entstanden zunächst verschiedene Kleinmodelle, in denen zahlreiche Ideen Platz fanden. In einer Videopräsentation erklärten die Schülerinnen und Schüler ihre Gedanken und Absichten. Engagiert liessen sie ihrer Kreativität freien Lauf und betteten ihre Arbeiten in selbst erfundene Geschichten ein.

Diese Modelle können zusammen mit Kopien der Zeichnungen von Hannes Brunner im Minimuseum im Fischereihaus am Rangsdorfer See besichtigt werden.

 

Modelle des Workshop Oberschule Rangsdorf. 

 

Nach verschiedenen Versuchen mit Wasserkanistern, Flossen und sogar Luftmatratzen fiel die Wahl schliesslich auf Plastikfässer als Schwimmkörper. Sie sind leicht, stabil und ideal geeignet. Dreieckig angeordnet, trugen sie Holzgerüste, die einerseits als Haltegriffe beim Bewegen und anderseits als Basis für den Aufbau der Tipis dienten.

Über ein halbes Jahr arbeiteten Jugendliche und Erwachsene jeweils einen Tag pro Woche gemeinsam am Projekt. Hannes Brunner kommentiert: «Zahlreiche Gespräche und Sitzungen waren notwendig, um sich inhaltlich abzustimmen und auch den sozialen Gegebenheiten Rechnung zu tragen. Im Austausch zwischen den Generationen brauchte es oft Fingerspitzengefühl, um unterschiedliche Vorstellungen zusammenzuführen und Verbindungen zu schaffen.»

Was das Projekt gebracht hat

Ein innovatives Projekt, das künstlerische, ökologische und soziale Aspekte verbindet, hat im wahrsten Sinne des Wortes alle Klippen umschifft und vor Ort einen Prozess in Bewegung gesetzt. Diese Zusammenarbeit führte zu neuen Kontakten und stärkte den lokalen Zusammenhalt.

Menschen kamen miteinander ins Gespräch, die zwar voneinander wussten, aber bisher kaum Austausch pflegten. Hannes Brunner gelang es als eingeladener Künstler, mit seinen Ideen einen Prozess anzustossen, der in der Bevölkerung über Generationen hinweg Resonanz fand.

Er sagt dazu: «Kunst und künstlerisches Schaffen auf diese Art den Menschen nahezubringen, scheint mir zukunftsweisend. Dieses Projekt zeigt auf beinahe magische Weise, wie analoge Aktivitäten Menschen beglücken, praktisches Schaffen befriedigt und wie wir uns dabei als wirksam erleben dürfen.»

«Kunst und künstlerisches Schaffen auf diese Art den Menschen nahezubringen, scheint mir zukunftsweisend. Dieses Projekt zeigt auf beinahe magische Weise, wie analoge Aktivitäten Menschen beglücken, praktisches Schaffen befriedigt und wie wir uns dabei als wirksam erleben dürfen.»

Hannes Brunner, Künstler

Solche Erfahrungen werden in einer zunehmend digitalisierten Welt immer wichtiger. Hannes Brunner verstand es, Jugendliche und Erwachsene mit pädagogischem Feingefühl einzubinden und – dank seines grossen Erfahrungsschatzes – die Umsetzung aller Teilschritte zu koordinieren. So entstand ein generationenübergreifender Austausch.

Die eingangs gestellte Frage lässt sich nun umfassend beantworten: Die schwimmenden Inseln bilden den künstlerischen Teil, die Aufführungen vermitteln kulturelle und ökologische Anliegen, und der gemeinsame Arbeitsprozess stärkt die sozialen Bindungen.

Zum Abschluss ein Zitat von Hannes Brunner, das eine Art Anti-Dystopie für die Zukunft entwirft:
«Stellt euch vor, es wird ganz heiss sein in Zukunft; der See ist längst ausgetrocknet. Noch stehen ein paar Zelte herum mit ein paar verlassenen Bewohnerinnen des früheren Rangsdorf. Eine Fata Morgana lässt die Steppe spiegeln.»

Und jetzt?

Ende September fanden weitere Aufführungen statt – erneut bei besten Wetterverhältnissen. Nun werden die schwimmenden Inseln in ihre Bestandteile zerlegt und für den Winter in einer Garage des Fischereihauses in Rangsdorf eingelagert. In den vergangenen Monaten waren sie der Witterung dauerhaft ausgesetzt.

Dazu Hannes Brunner: «Die Objekte dienen nun als Experimentiergrund, um herauszufinden, inwieweit gebrauchte Plastikmaterialien künftig biologischen Zersetzungsprozessen unterliegen. Denn sie sollen weiterhin als Elemente für öffentliche Präsentationen verwendet werden. Wie gehen wir mit dem Plastik um, der zunehmend in biologische Kreisläufe eindringt? Das scheint mir eine entscheidende Frage zu sein.»

Es wird sich zeigen, in welcher Form dieses Projekt auf andere, vergleichbare Orte übertragbar ist.

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