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von Judith Schuck, 29.10.2024

Was wirklich zählt

Was wirklich zählt
Markus Landert, Direktor des Kunstmuseums Thurgau: «Diems Malerei scheint mir irgendwie aus der Zeit gefallen. Der Maler kommt mir vor wie ein letzter Romantiker, der mit seiner Malarbeit seine ganz persönliche Verbindung mit der Natur und, durch sie vermittelt, mit Gott sucht.» (Ausschnitt aus «Blumenwiese», 1976, Johannes Diem) | © János Stefan Buchwardt

Johannes Diem, Erwin Schatzmann, Rudolf Baumgartner und Willi Hartung erzählen ihre eigene Schöpfungsgeschichte. Im Museum Kunst + Wissen entführen sie uns in fantastische Welten. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Als den „letzten Romantiker“ und „aus der Zeit gefallen“ bezeichnete der Kunsthistoriker Markus Landert den Thurgauer Künstler Johannes Diem einmal. Seine Aussage, Diems Kunst sei „aus der Zeit gefallen“, korrigiert Landert später selbst. Denn mit Blick auf die Umweltschutzbewegung in den späten 1970er Jahren erscheinen seine Bilder wie ein Weckruf. 

Aktuell wird sein Werk in einer neuen Ausstellung in Diessenhofen gezeigt. Anlass der Ausstellung „Kunst Natur Mystik“ im Museum Kunst + Wissen ist der 100. Geburtstag von Johannes Diem (1924-2010). Als Bürger von Eschenz in Genf geboren, lebte er nach Stationen in Herisau und Zürich seit 1968 in Ermatingen. Lucia Angela Cavegn, Leiterin des Museums Kunst + Wissen in Diessenhofen, kuratierte die Ausstellung gemeinsam mit Diem-Kenner János Stefan Burchwardt. Der Co-Kurator sprach auch bei der Vernissage am 14. September. 

Zunächst sollten die Bilder und Zeichnungen des Untersee-Malers zusammen mit Skulpturen und Objekten des Winterthurer Künstlers Erwin Schatzmann gezeigt werden. Doch ergänzte das Kurator:innenteam die Ausstellung schliesslich mit Bildern von Diems Wegbegleitern Rudolf Baumgartner aus Kreuzlingen (*1941) und Willi Hartung aus Zürich (1915-1987).

 

«Ich möchte sein wie eine Blume im Felde. Sie prunkt nicht, sie täuscht nicht, sie ist. Für das arbeite ich.» Was kann dieses Leitmotiv des Malers Johannes Diem heute noch bewirken? Taugt der wiederzuentdeckende Künstler als Ikone für aktiven Naturschutz, als Inspirator für eine ökologische und künstlerische Sensibilisierung? | Johannes Diem in seiner Küche in der Hardmühle, Ermatingen, 1996. Bild: Jakob Gentsch

Natur unter der Lupe  

Naive Kunst – dieser Überbegriff könnte die vier Künstler auf den ersten Blick zusammenfassen. Detailliebe ist auf jeden Fall eine Gemeinsamkeit aller. Nicht ohne Grund liegen im Museum Lupen mit Leuchten bereit, die den Ausstellungsbesucher:innen den Hinweis geben, doch bitte ein bisschen genauer hinzuschauen. Auch ohne Lupe ist die Feinheit und Genauigkeit von Johannes Diem sichtbar. 

Eines seiner Hauptwerke ist „Die Blumenwiese“ aus dem Jahr 1976. Selbst wenn Ende der 1970er noch mehr Arten auf der Welt existierten als heute, scheint diese Blumenvielfalt übertrieben, konstruiert. Aber sie ist wunderschön. Die bunte Wiese voller farbenfroher Blüten und Schmetterlinge läuft dreiecksförmig zu einem Fluchtpunkt zu, ungefähr auf der Bildhälfte, leicht nach links gerückt befindlich.

Die geometrische Begrenzung zum Wiesendreieck bildet der Wald. Die saftig-grünen und blättervollen Baumkronen werden von einem beinahe gleissenden Himmel bedeckt, schwefelgelb leuchtend. Hellgraue Wolkenfetzen passen sich an die halbrunde Form des oberen Abschlusses des goldenen Bilderrahmens an. Diese Idylle ist definitiv bedroht. Gleichzeitig spüren wir die Macht und Kraft der Natur. Wir betrachten „Die Blumenwiese“ aus einer andächtigen Froschperspektive, von unten, was die Blumen und Gräser im Vordergrund erhöht.

 

Blumenwiese durch die Lupe. Bild: Judith Schuck

Eindrücke, die überwältigen  

„Es kam vor, dass der einstige Verdingbub hinausgeschickt wurde und erst zu unbestimmter Zeit zurückkehrte. Irgendwo im Gras sitzend, in einer Blumenwiese versunken“, schreibt Burchwardt 2020 in einem Beitrag für thurgaukultur.ch zum zehnten Todesjahr von Johannes Diem. Dieser Satz erklärt die eigenartige Perspektive: Ein in der Wiese sitzendes Kind, umgeben von hohen Gräsern und Blumen und dem Krabbeln, Flattern und Summen der Insekten, das sich mittendrin in dieser vollkommenen, reichen Natur klein fühlt, als Besuchender eines fantastischen Wunderlands. In der Erinnerung, viele Jahre später, verstärkt der Maler diese Eindrücke noch mit seiner fast schon ikonenhaften Bildkomposition.

Von 1950 bis 1968 arbeitete Johannes Diem in Zürich als Damencoiffeur. In diesem Kontext wird bei einigen seiner Bilder die Vorstellung, wie er die Locken formt und frisiert, sehr lebhaft. Ebenso wie er wohl Haare zu kunstvollen Frisuren gestaltete, ästhetisiert er die Natur, bringt sie in eine schöne Form. 

Bei „Hochzeit der Libelle“ ist das anmutige, elfenhafte Insekt wieder gross im Vordergrund. Hinter einem spiegelglatten Weiher erhebt sich ein wohlgeformter, samtiger Grasbuckel, umrahmt von plüschigen Laub- und Nadelbäumen. Frisur oder Natur? Auf jeden Fall ist das Sujet sorgfältig komponiert.

 

Willi-Hartung-Porträt von Johannes Diem. Bild: Judith Schuck

Überzeugter Panidealist  

Johannes Diem war bis zu seinem Tod Vertreter des Panidealismus, eine umfassende Weltanschauung, die auf den Werken Rudolf Maria Holzapfels (1874-1930), österreichischer Psychologe und Philosoph, basiert. Der Panidealismus verfolgt das Ziel, mit „einer harmonischen Entfaltung aller schöpferischen Kräfte der Einzelnen und der Völker im Hinblick auf eine vielfältige kulturelle Entwicklung der Menschheit hinzuwirken“, so der Beschrieb der Gesellschaft einer Gesamtkultur, bei der Diem Zeit seines Lebens Mitglied war. 

Der Ansatz wirkt ein wenig sozialistisch angehaucht, wendet sich strikt gegen Kollektivismus und schrankenlosen Individualismus und verfolgt eine zur Wissenschaft nicht widersprüchliche Religiosität. Der Panidealismus passt zu Diems genauem Hinschauen, exakten Tier- und Pflanzendarstellungen, die dann aber in ihrer Komposition und Dimensionalität mystifiziert und glorifiziert werden.

Gemeinsam auf Ausflügen im Thurgau  

Rudolf Baumgartners und Willi Hartungs Werke fügen sich gut zu denen von Johannes Diem. Die Künstlerfreunde gingen auch gemeinsam hinaus in die Natur und scheinen ähnlich fasziniert zu sein von ihr. Baumgartner, der nach seiner Druckerausbildung bei der Druckerei Bodan in Kreuzlingen nach Paris ging, um Malerei zu studieren, nähert sich der Thurgauer Landschaft auf eine kubistische, geometrische Weise an. 

In seinen feinen Bleistiftzeichnungen und Aquarellen abstrahiert er die vorgefundenen Formen und setzt sie neu zusammen. Fantasievolle Welten entstehen, in denen auch mal ein Maiskolben die Schöpferkrone trägt und mit deutlich mehr Präsenz als der Marienschrein im rechten Bildervordergrund das Zentrum im „Paradiesgarten“ bildet.

 

Paradiesgarten von Rudolf Baumgartner.

Thurgau oder Toskana?

Willi Hartung studierte an der Kunstgewerbeschule in Zürich, reiste für Studienaufenthalte nach Paris, lehrte als Zeichenlehrer in Princeton und lebte unter anderem zwei Jahre in Mexiko. Nach seinen Reisen kam er nach Wigoltingen in den Thurgau. Diems Hartung-Porträt ist angelehnt an die italienische Renaissance-Malerei. Anstelle toskanischer Hügel bildet eine idealisierte Thurgauer Hügellandschaft den Hintergrund, mit beinahe barocken Kumuluswolken an blauem Himmel, unter denen sich ein für die Wetterszene eher unwirklicher Regenbogen durchzieht. 

Als Beiwerk hält der porträtierte Freund Wiesenblumen in der Hand. Ganz anders kann Hartung aber auch: „Kugelblitz“ ist ein Aquarell, das beinahe psychedelisch anmutet und an Organisches, bisweilen an Darmzotten oder Querschnitte von Körperzellen erinnert. Vielleicht auch hier eine Verbindung von Wissenschaft und Ästhetik, einem ganzheitlichen Erfassen der Welt?

Göttliche Dinge  

Mit zahlreichen Skulpturen, Objekten und Devotionalien vertreten ist der Winterthurer Bildhauer Erwin Schatzmann. So sehr Diem, Baumgartner und Hartung den Menschen aus ihrem Werk ausschliessen, kann Schatzmann kaum genug von ihm bekommen. Er anthropomorphisiert nach allen Regeln der Kunst. Folkloristische Kunst macht er nur in Ansätzen, denn er bedient sich lediglich an der Dingwelt und Mode vieler Kulturen, macht daraus aber etwas Eigenes. 

Seit 2009 baut Erwin Schatzmann an seinem Arbeits- und Wohnort, dem „Morgenland off Space“. Das Morgenland ist eine begehbare Skulptur, ein kleiner Kosmos am Stadtrand von Winterthur, durch und durch gestaltet von seinem Erbauer Erwin Schatzmann. Der Künstler erhebt die Dingwelt in seinem Werk auf eine höhere Stufe, auf der deren Wert besser wahrgenommen wird.

Was Diem mit der Natur macht, macht Schatzmann mit Schätzen aus der Brockenstube, Altkleidern, Gefundenem – er vergöttlicht Gegenstände, indem er sie recycelt und ästhetisch aufbereitet. Im Grunde die perfekte Ergänzung zu Johannes Diem: Es gilt in Anbetracht der ökologischen Krise nicht nur die Natur zu achten, sondern auch mit den menschgemachten Materialien und Dingen sorgsam umzugehen und ihren Wert zu erkennen.

 

Sitzbank oder bissiges Raubtier: Bei Erwin Schatzmann verschwimmen die Grenzen zwischen Kunstwerk, Zweckmöbel und magischen Tieren. Bild: Judith Schuck

 

Das Rahmenprogramm zur Ausstellung

Kunst Natur Mystik: Ausstellung im Museum Kunst + Wissen in Diessenhofen bis März 2025, Fr, Sa, So 14 bis 17 Uhr

 

- 10. November um 15 Uhr: Öffentliche Führung mit www.tim-tam.ch

- 8. Dezember, 18 bis 20 Uhr: „Verweile, Bäume kennen keine Eile!“, Musikalische Baumbegegnungen

- Winterpause vom 15. Dezember 2024 bis 11. Januar 2025

- 12. Januar um 15 Uhr: Neujahrsapéro und Präsentation mit www.tim-tam.ch

- 9. Februar um 15 Uhr: Künstlergespräch mit Rudolf Baumgartner und Kunsthistoriker Gerhard Piniel

- 16. März um 15 Uhr: Finissage

 

 

 

 

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