von Inka Grabowsky, 19.03.2018
Weit mehr als Apfelbäume
Seit 300 Jahren ist der Thurgau ein Industriekanton – mit allen Vor- und Nachteilen, wie eine Ausstellung des Historischen Museums im alten Zeughaus in Frauenfeld zeigt.
Von Inka Grabowsky
„Das Klischee vom Thurgau mit Streuobstwiesen auf sanften Hügeln ist dem Standortmarketing geschuldet“, sagt Dominik Schnetzer, der Kurator der Jahresausstellung. „In Wirklichkeit arbeitete schon vor hundert Jahren etwa die Hälfte der Bevölkerung in der Industrie – Frauen ebenso wie Männer.“ Das Thema Industriegeschichte werde derzeit überall in Museen diskutiert, sagt die Direktorin des historischen Museums Thurgau, Gabriele Keck. Alle hielten es für wichtig. Die Umsetzung erweise sich allerdings oft als schwierig. „Wir haben schlicht nicht den Platz für grosse Exponate. Deshalb haben wir uns neue Wege überlegt, um die Geschichte im Gedächtnis zu verankern, zum Beispiel auch mit der Website ‚Meine Industriegeschichte’, auf der wir Zeitzeugenberichte sammeln.“
Die aktuelle Ausstellung versucht, dem Thema über Schlaglichter gerecht zu werden, die auf zehn so genannte Cluster gesetzt werden. „Es ist es fast unmöglich, 300 Jahre Industriegeschichte mit ihrer Auswirkungen auf alle Lebensbereiche umfassend darzustellen“, so der Kurator. Unter Stichworten wie Spitzenprodukte, Angst, Gift, Kinderarbeit, Ausländer, Pferdestärken, Tesla oder Bücherwurm werden Aspekte aufgegriffen, die Auswirkungen bis zum heutigen Tag haben. Unter „Indien“ verbirgt sich der Aufstieg der Textilindustrie, die auf den Kopien indischer Stoffmuster beruhte. Die „Indienne“ genannten Baumwolldrucke entwickelten sich zum Exportschlager. „Silicon Valley“ verweist auf die erste Manufaktur-Siedlung der Schweiz in Hauptwil Mitte des 17. Jahrhunderts. Ähnlich wie später in Kalifornien vervierfachte sich die Bevölkerungszahl innerhalb von 30 Jahren, Bauernbetriebe wurden verdrängt, die Arbeitszeiten weiteten sich aus, die Kluft zwischen arm und reich wuchs.
Hier beginnt der Besuch der neuen Ausstellung: Die Stechuhr für das Publikum. Bild: Inka Grabowsky
Interaktiv und digital
Die Ausstellungsmacher bespielen das Alte Zeughaus nicht nur mit Texttafeln und urtümlichen Gebrauchsgegenständen. Besucher müssen aktiv werden: An einem Generator kann man höchstpersönlich Strom erzeugen. Der Nachbau der Spinn-Maschine Spinning Jenny wird bei Führungen in Aktion gezeigt. Peter Spuhler, der Verwaltungsratspräsident von Stadler Rail, erklärt am Telefon seine Auffassung von Unternehmertum. Und mittels eines geliehenen Tablet-Computers oder einer App auf dem eigenen Smartphone kann man einen der Pioniere des Schweizer Industrie in der ‚augmented reality’ zum Erzählen bringen.
Augmented Reality bringt ein Ölgemälde zum Reden. Bild: Inka Grabowsky
Kinderarbeit war in der Hochzeit der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts im Thurgau gang und gäbe. „Die Schweiz war unter anderem deshalb so erfolgreich, weil nur wenig reglementiert war“, erläutert der Historiker Schnetzer. „Erst 1877 wurde verboten, Arbeiter anzustellen, die unter 14 Jahre alt waren.“ Die Aussteller ermöglichen den Besuchern nicht, sich mit einem wohligen Schauer abzuwenden, weil es solche Schicksale auf der Welt immer noch gibt. Eine Schale voller Schokolade verweist darauf, dass der Kakaoanbau heutzutage immer noch nicht ohne Kinderarbeit auskommt. Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Thema Gift. Vor 200 Jahren hat die Textilindustrie im Thurgau ihre Abwässer selbstverständlich in Flüsse und Bäche abgelassen. „1917 gab es die erste Kläranlage der Schweiz in St. Gallen“. Dieses Thema ist ebenfalls nicht abgeschlossen. Anhand einer Jeans im „used look“ zeigen die Frauenfelder, welche Umwelt- und Gesundheitsschäden die Konsumgesellschaft mittlerweile im Ausland verursacht. Und während wir lernen, dass schon im 18. Jahrhundert englische Arbeiter die „Spinning Jenny“ verfluchten, weil die Maschine acht von ihnen ersetzte, sehen wir im Hintergrund einen Roboter, der heute Arbeitsplätze überflüssig macht.
Fluch oder Segen
Die Industrialisierung hat sich in alle Bereiche des Lebens hineingeschraubt und über die Jahrhunderte hinweg immer wieder für unterschiedlichste Ängste gesorgt – deshalb der Titel „Schreck & Schraube“. Das Leben eines Arbeiters richtet sich nicht länger nach der Natur, sondern nach der Stechuhr. Die Umwelt wird verschmutzt, Menschen werden ausgebeutet und Gesellschaften ändern sich, weil Einwanderer dort leben, wo es Arbeit gibt. Gleichzeitig führte die Industrialisierung bei Teilen der Gesellschaft zu Fortschritt und Wohlstand. „Um die Ausstellungsbesucher anzuregen, sich darüber Gedenken zumachen, bitten wir sie, sich mit ihrer Eintrittskarte bei uns einzustempeln und diese Stempelkarte dann nach ihrem Besuch in eine Abstimmungsurne zu werfen“, erklärt der Kurator. Am 21. Oktober, wenn die Ausstellung endet, wird man anhand der eingeworfenen Karten ermessen können, ob Menschen die Industrialisierung nun als Fluch oder Segen betrachten.
Gabriele Keck, Direktorin des Historischen Museum Thurgau. Bild: Inka Grabowsky
Öffnungszeiten und Rahmenprogramm zur AusstellungDer Besuch im Alten Zeughaus ist kostenfrei. Dauer: 23. März – 21. Oktober 2018, Di – So 13 -17 Uhr. Näheres auch zum umfangreichen Rahmenprogramm gibt es unter https://www.schreckundschraube.ch/vorschau/index.html
Die Ausstellung „Schreck & Schraube“ ist nur ein Teil der aktuellen Aufarbeitung der Thurgauer Industriegeschichte. Zu den Partnerorganisationen, die sich ebenfalls mit dem Thema befassen und entsprechende Führungen anbieten, zählen das Klostergut Paradies www.klostergutparadies.ch, das Typorama Bischofszell, der Industrielehrpfad Hauptwil-Bischofszell, die mechanische Werkstatt Wiesental, das Saurer Museum und die Kraftzentrale der Seidenweberei Schönenberg
In Romanshorn läuft parallel die Ausstellung „Romanshorner Gewerbe und Industrie“ In Arbon zeigt das historische Museum vom 2. Mai bis 20. Dezember „Leben in der Industriestadt Arbon“. |
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