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von Inka Grabowsky, 01.10.2018

Wenn Buchhelden lebendig werden

Wenn Buchhelden lebendig werden
Peter Höner und Michèle Minelli als Therapeut und Patient | © Inka Grabowsky

Bei der Vernissage ihres ersten Jugendbuchs schlüpfte die Autorin Michéle Minelli in die Rolle ihres Protagonisten. Nach einer szenischen Lesung konnte das Publikum in den direkten Dialog mit der Romanfigur treten.

Michèle Minelli und ihr Mann, der Schauspieler und Schriftsteller Peter Höner, wagen in der vollbesetzen Theaterwerkstatt Gleis 5 in Frauenfeld ein Experiment: Die 50-jährige Minelli bindet ihre langen Locken zusammen, setzt eine Kappe auf und verwandelt sich so in Wolfgang, den 16-Jährigen, der nach dem gewaltsamen Tod seines Vaters in die Psychiatrie eingewiesen wird. Peter Höner, der aus Minellis Roman „Passiert es heute? Passiert es jetzt?“ eine vierzig-minütige szenische Lesung zusammengestellt hat, ist ihr Gegenüber. Er übernimmt wechselweise die Rollen von Mitpatienten, vom Vater und vom Therapeuten. „Szenische Lesungen haben wir schon öfter gemacht“, erzählt Minelli vorab. „Bisher konnte ich jeweils einen weiblichen Part übernehmen. Das fällt mir leichter.“ Diesmal hat sie zuhause intensiv mit Hilfe ihres Partners geübt, damit die Körperhaltung und Gestik „ihres“ Wolfgangs glaubwürdig wirkt. Die wirkliche Herausforderung aber kommt nach der Lesung auf sie zu: Zum ersten Mal blieben die Beiden in ihren Rollen und ermöglichtem dem Publikum, Verständnisfragen direkt an die Romanfiguren zu stellen. Darauf konnten sie sich kaum vorbereiten. „Ich habe nur mein Buch nochmal durchgelesen, damit ich tatsächlich noch jede Nebenfigur präsent habe“, sagt Minelli.

Sie besteht den Praxistest mit Bravour. Nur einmal muss sie selbst grinsen, weil ihr ein pubertärer Trotzanfall von Wolfgang etwas intensiv über die Lippen kommt. Der geübte Schauspieler Peter Höner verkörpert den verständnisvolle Psychologe souverän und ist Minuten später mit anderem Sprachduktus der verstockte Vater. Dieses Wechselspiel ist trotz des ernsten Themas überaus unterhaltsam. 

Video: Einblick in die Lesung 

Das Publikum spielt mit

Die Idee für das ungewöhnliche Eintauchen in die Literatur verdankt die Autorin der Lehrerin Nadja Strada von der Kantonsschule Kreuzlingen. Minelli war auf sie zugegangen, weil sie Schulen für Lesungen gewinnen wollte. „Die Arbeit an diesem Jugendroman ist von der Kulturstiftung des Kantons Thurgau gefördert worden. Deshalb ist es mir ein Anliegen, auf diese Art auch etwas Spezielles zurückgeben zu können“, erklärt sie. Nadja Strada war die erste Lehrerin, die sich für das Projekt begeisterte. Sie las zur Vorbereitung mit ihrer zweiten Klasse ein Kapitel und mit ihrer vierten Klasse das ganze Buch. Bei der Lesung selbst sollten die 35 Schüler nun aber nicht einfach konsumieren. „Wir wollten in erster Linie, dass die Schülerinnen und Schüler involviert sind. Und je näher man einer Figur kommt, desto leichter fällt das.“ Deshalb hat sie die Jugendlichen gebeten, Fragen an die Romanfiguren zu formulieren.

Deren spontane Beantwortung im Theatersaal hat die Zuschauer beeindruckt. „Die Reaktionsschnelligkeit war unglaublich“, sagt Einer. „Die Beiden hatten ja von Frage zu Frage gar keine Zeit sich auf die jeweilige Rolle vorzubereiten. „Ich bewundere die Improvisation.“ Die ungewöhnliche Interpretationshilfe durch die Autorin und ihren Partner wird nicht in eine Prüfung einfliessen. Die Schullektüre sollte für einmal nur dazu dienen, die jungen Leute für das Lesen zu begeistern. Das hat gut funktioniert: „Ich leih mir jetzt das Buch von einer Freundin, um es zu Ende zu lesen“, sagt eine der 16-Jährigen.

Grosse Resonanz

In Minellis erstem Jugendbuch „Passiert es heute? Passiert es jetzt“ geht es um eine Familie, die unter der Macht eines brutalen Vaters leidet. Wolfgang rechnet jeden Tag mit einem der sogenannten Familiendramen, bei dem ein Elternteil Kinder und Partner mit in den Tod reisst. Die Romanfiguren haben Vorbilder in der realen Welt. Die Autorin hat als Nachbarin vor Jahren selbst die Ohnmacht der Aussenstehenden erlebt. „Aber man muss wenigstens hinschauen“, sagt sie. „Und dann mit der kleinstmöglichen Intervention anfangen, um zu sehen, ob man helfen kann.“ Gerade hat die deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur ihr Werk zum „Buch des Monats“ gekürt. Michèle Minelli will ihrer neuen Zielgruppe nun noch etwas treu bleiben. Ein zweiter Jugendroman ist fast fertig, ein dritter immerhin schon geplant.

Frei entscheiden - Peter Höner mimt einen Mitpatienten.
Frei entscheiden - Peter Höner mimt einen Mitpatienten. Bild: Inka Grabowsky



Die nächsten Termine für Lesungen von Michèle Minelli und Höner finden sich unter http://www.mminelli.ch/aktuell.html 




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