von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 14.12.2020
Wie viel Rassismus steckt in dieser Puppe?
Eine Lehrerin aus dem Kanton Bern fühlt sich von einem Ausstellungsstück im Schulmuseum Amriswil diskriminiert. Wie geht man damit jetzt um? Das Amriswiler Museum hat seinen eigenen Weg gefunden. Und will lieber über das grosse Ganze diskutieren, statt etwas Kleines klammheimlich zu entfernen. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Manchmal klopfen grosse gesellschaftliche Debatten plötzlich an die eigene Haustür. So erging es auch Frauke Dammert im vergangenen November. Die Historikerin und Soziologin leitet das Schulmuseum Amriswil seit Anfang des Jahres. Sie führt das Haus umsichtig und professionell, den pädagogischen Auftrag, der für ein Schulmuseum ganz besonders gilt, nimmt sie ernst.
Und dann bekam sie im November eine E-Mail, die die weltweite Debatte über die Bewegung Black Lives Matter, über Rassismus im Allgemeinen und den Umgang in Museen mit Diskriminierungen aller Art mit einem Klick in ihr Haus spülte.
Eine Lehrerin aus dem Kanton Bern beklagte sich in dieser Mail über ein Exponat aus der aktuellen Sonderausstellung „Fleiss und Schweiss“, in der es um die Geschichte des Textil- und Handwerkunterrichtes in der Schweiz geht. Im Kern ihrer Beschwerde: Eine vielleicht 15 Zentimeter grosse Häkelpuppe. Dunkler Stoff, schwarze grosse Kulleraugen, breite Lippen, krauses Haar und um die Hüften ein gelb-rotes Baströckchen.
Darf ein Schulmuseum so etwas ausstellen?
Die Berner Lehrerin hatte die Puppe nicht in der Ausstellung entdeckt, sondern auf einem Foto in einer Zeitschrift des Lehrerverbands. „In ihrer Mail forderte sie uns dringlich auf, das Exponat sofort zu entfernen. Sie fühle sich dadurch verletzt, eigene Diskriminierungserfahrungen würden durch die Puppe wieder lebendig, ein Schulmuseum dürfe so etwas einfach nicht ausstellen“, beschreibt Frauke Dammert das Schreiben.
Ab dem Moment beginnt museumsintern eine grosse Debatte darüber, wie nun damit umzugehen sei. Seit zwei Jahren steht die betroffene Sonderausstellung, bislang habe es keinerlei Reaktionen dazu geben, sagt Dammert im Gespräch mit thurgaukultur.ch.
Dass die Puppe als rassistisch und diskriminierend wahrgenommen werden kann, ist für sie überhaupt keine Frage: „Die Puppe ist von aktueller politischer Relevanz und steht im Kontext des wissenschaftlichen und politischen Diskurses des (post-)kolonialen Erbes der Schweiz. Sie zeigt einen komplexen kulturhistorischen Hintergrund, der noch nicht einmal ansatzweise aufgearbeitet ist“, findet Dammert.
„Die symbolische Wirkung der Puppe erinnert an die Ära der Sklaverei und an ein veraltetes Weltbild, das von der «Rassenlehre» geprägt war.“
Giulia Reimann, stellvertretende Geschäftsleiterin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus
Gerne hätten wir auch mit der Beschwerdeführerin direkt gesprochen, aber die Museumsleiterin möchte lieber keinen Kontakt vermitteln. Sie fürchtet eine unnötige Emotionalisierung des ohnehin schon heiklen Themas.
Als Reaktion auf die Beschwerde forscht Frauke Dammert zunächst selbst weiter und lässt sich beraten. Spricht mit dem Schweizer Museumsverband und holt auch eine Einschätzung der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus ein. Beide bestärken die Museumschefin in ihren Bemühungen um Aufklärung und Transparenz.
Schliesslich schreibt Frauke Dammert auch an thurgaukultur.ch: „Das Schulmuseum Amriswil ist kürzlich Teil der Schweizer Rassismusdebatte und Blacklivesmatter-Thematik geworden. Im Schulmuseum möchten wir, nach Absprache mit VMS/ICOM-Schweiz, diese Debatte offen und transparent führen. Haben Sie Interesse an einen Artikel über dieses Thema und unser Sammlungsobjekt?“
Die Angst vor einem Shitstorm
Es kommt zu einem Treffen im Schulmuseum, dieser Text ist das Ergebnis daraus. Was danach passiert, weiss Frauke Dammert nicht. Sie hat ein bisschen Sorge vor einem möglichen Shitstorm. „Wir stellen uns jetzt offen und sorgfältig dem Diskurs und wissen um die soziale und politische Relevanz des Themas“, sagt die Museumschefin.
Was man zur Entstehung der Häkelpuppe weiss, ist nicht viel. Sie wurde wohl Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahren von einer Lehrerin Jahrgang 1925 erstellt. „Eine Frau, die ganz sicher nicht rassistisch war. Sie hat einfach den Lehrplan durchgearbeitet und war ein Kind ihrer Zeit“, so Dammert. Ihre Identität will sie nicht öffentlich machen. Das würde nur vom eigentlichen Thema ablenken, findet die Museumsleiterin.
„Wir stellen uns jetzt offen und sorgfältig dem Diskurs und wissen um die soziale und politische Relevanz des Themas.“
Frauke Dammert, Museumsleiterin Schulmuseum Amriswil (Bild: Claudia Koch)
In der Ausstellung selbst wird die Puppe im Kontext mit vielen anderen Textilarbeiten gezeigt, dazu ein Schriftzug aus dem Thurgauer Lehrplan 1958: „Im Handarbeitsunterricht werden neben den traditionellen Nutzarbeiten auch Puppen und Tiere angefertigt, jedoch ohne freien Entwurf, stets streng nach Vorgabe der Lehrerin.“
Das zeigt: Das Bild des schwarzen Bastrock-Mädchens entstammte nicht einem einzelnen Kopf, es war Teil des schulischen Lehrplans im Kanton. Und damit ein Problem, das über den Einzelfall hinausgeht.
Es macht deutlich, wie tief Stereotype und Klischees verankert sind in uns allen und wie sie dort immer und immer wieder manifestiert wurden. Selbst in Bildungseinrichtungen. Dies gründlich zu bearbeiten wäre wohl Stoff für eine eigene, umfangreiche Ausstellung.
Der Fall zeigt auf, wie viel Rassismus in uns allen steckt
Die eidgenössische Kommission gegen Rassismus hat eine klare Haltung in der Sache: „Die symbolische Wirkung der Puppe erinnert an die Ära der Sklaverei und an ein veraltetes Weltbild, das von der «Rassenlehre» geprägt war“, schreibt Giulia Reimann, stellvertretende Geschäftsleiterin der Kommission auf Nachfrage.
Obwohl das blosse Ausstellen der Häckelpuppe nicht strafrechtlich relevant sei, sei das Ausstellen nur dann legitim, wenn das Objekt differenziert dargestellt, in einen angemessenen pädagogischen Kontext eingebettet und auf dessen kolonial-rassistische Prägung hingewiesen werde. Und: „Es ist wichtig, dass die koloniale Vergangenheit der Schweiz aufgegriffen wird und eine kritische Auseinandersetzung damit stattfindet.“
„Es ist wichtig, dass die koloniale Vergangenheit der Schweiz aufgegriffen wird und eine kritische Auseinandersetzung damit stattfindet.“
Giulia Reimann, Eidgenössische Kommission gegen Rassismus
Genau das will das Schulmuseum nun ermöglichen. Einfach die Puppe aus der aktuellen Ausstellung heimlich, still und leise zu entfernen, hielte Frauke Dammert für die falsche Lösung. „Den existierenden Alltagsrassismus lösen wir damit nicht. Für mich hätte das eher etwas von unter dem Teppich kehren. Genau das wollen wir nicht. Wir wollen aufklären und uns der Diskussion stellen“, sagt die Museumsleiterin. Diese Haltung sei auch in Museum und Stiftung abgesprochen, man sei sich da sehr einig.
Das Museum hat sich in der Tat selbst kaum etwas zu Schulden kommen lassen. Die Reaktion darauf ist geradezu vorbildlich. Das bestätigt auch Katharina Korsunsky, Generalsekretärin des Verbands Schweizer Museen im Gespräch mit thurgaukultur.ch: „Es ist nicht per se falsch, in Museen etwas zu zeige, was wir aus heutiger Sicht falsch finden. Museen kommentieren, bilden Perspektiven und es ist ja gerade deren Aufgabe, gesellschaftliche Veränderungen zu zeigen und aufzuklären.“
Wie konnte das Exponat überhaupt in die Ausstellung gelangen?
Hinterfragen könnte man eher, wie das Exponat überhaupt unkommentiert in die Ausstellung gelangen konnte. Weder in der Vorbereitung der Ausstellung noch in den vergangenen zwei Jahren seitdem die Schau zu sehen ist, gab es nach Angaben des Museums vor dem Schreiben der Berner Lehrerin negative Rückmeldungen dazu. Wohl auch, weil die Puppe im Kontext anderer Arbeiten gezeigt wird - das schwarze Klischee-Püppchen fiel da kaum auf. Zumindest nicht jenen, die es sahen.
Aber auch das hat natürlich etwas mit Vielfalt und Prägungen in Entscheidungsebenen von Museen zu tun. Wenn vornehmlich weisse, ältere Menschen über Inhalte entscheiden, dann bildet das eben auch genau deren Bewusstsein ab. Andere Sichtweisen bleiben aussen vor. Hier stärker zu sensibilisieren für andere Lebenserfahrungen, auch das ist eine Lehre, die Frauke Dammert aus dem Fall gezogen hat.
Die inhaltliche Auseinandersetzung wird fortgesetzt
Weitere Konsequenzen sind: Die Puppe wird einen ergänzenden und erklärenden Text in der Ausstellung bekommen und in Führungen durch die Ausstellung wird der Fall thematisiert und zur Diskussion gestellt. „Wir haben mit unserer inhaltlichen Auseinandersetzung das Objekt in seinen kontextualisierten historischen Zusammenhang eingeordnet und damit den Verbleib in der Ausstellung begründet“, so Museumsleiterin Frauke Dammert.
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