von Inka Grabowsky, 07.11.2024
Wirklichkeit ist, was du daraus machst!
Michèle Minelli hat ein neues Buch vorgelegt, das schwer aus der Hand zu legen ist. Man will einfach wissen, wie es endet. Wer das jetzt noch nicht wissen will, der lese diesen Text nicht bis zum Schluss. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
«Wie es endet» widmet sich einem ernsten Thema, denn für den Protagonisten geht eine Lebensphase überaus schmerzhaft zu Ende. Doch ohne Humor kommt der Roman nicht aus. Schon die Beobachtungen des Ich-Erzählers Thierry Schoenaerts, der in ein Hotel eincheckt, machen Spass. Sein innerer Monolog gibt den Lesenden Zugang dazu.
Ein Student der Journalisten-Schule versucht offenkundig am Telefon der Rezeptionistin die Gästeliste zu entlocken. Sie hat eine erprobte Gegenstrategie: «Dann lese ich denen die bürgerlichen Namen von verstorbenen Stars runter. Irgendwann merken sie’s. (…) Spätestens wenn ich bei Charles Spencer Chaplin ankomme oder bei Norma Jean Baker.» Der Protagonist wird immerhin als B-Promi eingeschätzt: «Das war doch der Mann von der Tanner», raunt eine Kollegin der anderen zu.
«Die Tanner», das ist die Schauspielerin Vanessa Tanner, die vor sechs Jahren hier im Luxusresort einen Film gedreht hat. Thierry möchte mit ihr und der gemeinsamen fünfjährigen Tochter Evie ein verlängertes Wochenende in einem der Chalets des Resorts verbringen. Es scheint ein ganz normales Paar zu sein – mit normalen Paarproblemen. Sie hat eine übervolle Agenda. Eine Tagesmutter kümmert sich normalerweise um das Kind. Auch er hat viel Arbeit. Trotz der Familien-Auszeit hat er sich vorgenommen, Rohmaterial zum Dokumentarfilm «Die Theorie von allem» zu schneiden.
Weltformel im Kopf des Erzählers
«Die Theorie von Allem» bringt zwei Anspielungen mit sich. Zum einen gibt es den Film wirklich. 2023 hatte der Sci-Fi-Thriller Premiere. Er spielt passenderweise ebenfalls in Schweizer Alpen. Im Mittelpunkt steht ein Physiker, der eine Doktorarbeit mit diesem Titel schreibt und im Laufe der Story verschiedene Realitäten in Parallel-Universen zu erleben scheint. «Das war mir beim Schreiben überhaupt nicht bewusst», sagt Minelli.
Sie bezieht sich auf «Die Theorie von allem» in Physik und Mathematik. Wissenschaftler suchen seit der Antike die sogenannte «Weltformel», die alle Theorien zu Wechselwirkungen in der Natur zusammenführt. «Mich reizt dieses Rätsel. Wir Menschen wollen alles begreifen, und verstehen doch manchmal das Nächstliegende nicht», sagt Michèle Minelli. «Wir verlieren den Bezug dazu, was unsere Mitmenschen umtreibt, welche Realität sie gerade beschäftigt.»
Trailer zum Film «Die Theorie von Allem»
Schon früh im Buch merkt man, dass etwas nicht stimmt. Mitten in den Eincheckprozess – getriggert durch die Standardfrage: «Was können wir Gutes für Sie tun?» – poppt eine Frage aus dem Off im Bewusstsein des Erzählers auf, extra kursiv gesetzt: «Wie geht es Ihnen? Können wir reden?».
Das kommt den Lesenden schon mal seltsam vor. Und wer gewohnheitsmässig in Luxushotels absteigt, der wundert sich auch, was Thierry später explizit äussert: Bei aller Diskretion hätte die Rezeptionistin Vanessa Tanner dennoch begrüssen können. Und warum wird Thierry unruhig, als er über das Badewasser seiner kleinen Tochter nachdenkt?
Erst beim zweiten Lesen erkennt man, wie kunstvoll Michèle Minelli Hinweise auf die geistige Störung ihres Protagonisten in den Roman eingebaut hat. «Beim Legen der Spuren für die Leser habe ich mir den prüfenden Blick meiner Lektorin geholt», räumt sie ein. «An einigen Stellen wären meine Hinweise zu subtil gewesen, an anderen Stellen zu offensichtlich.»
Selbstgewählte Isolation in der inneren Realität
Thierry fühlt sich wohl in seiner inneren Welt. Jeden Versuch von aussen, mit ihm in Kontakt zu treten, blockt er ab. Sein Freund, Chef (und Nebenbuhler) Chris ruft an, Thierry lässt ihn aber nicht zu Wort kommen. Ihm reicht die Anwesenheit von Frau und Tochter.
«(…) Vanessas Blick zu mir, voll Liebe und Vertrauen, immer noch. Wir schaffen das. Immer noch.» Er riecht sie: «Ihr Duft in meiner Nase, Moleküle von ihr in mir». Er spricht mit ihr: «‹Danke, dass du mitgekommen bist. Du und Evie, dass ihr bei mir seid, jetzt.› ‹Wie›, kommt ihre Antwort leicht verzögert, ›könnte ich nicht.›»
Achtung! Ab hier Spoiler-Alarm!
Nach und nach bemerken die Lesenden, dass Thierry unter einem psychotischen Schub leidet. Er nimmt Personen wahr, die für andere nicht existieren. «Ich bin während der Corona-Pandemie darauf gekommen», erklärt die Autorin. «Damals merkte ich im Freundeskreis, dass wir alle die Realität unterschiedlich wahrnehmen. Und jeder ist davon überzeugt, dass nur seine Einschätzung der Wirklichkeit die richtige ist.»
Über Corona wollte Michèle Minelli nun aber nicht schreiben. Sie nutzt eine psychotische Phase einer Figur, um sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was wirklich real ist. «Es hat Freude gemacht, dem in den verschiedenen Schichten nachzugehen», sagt sie.
Die Welt des schönen Scheins
Die Hauptfiguren kommen aus dem Film-Business. Das Setting könnte aus pragmatischen Erwägungen gewählt worden sein: Michèle Minelli hat selbst in der Branche gearbeitet. In den neunziger Jahren war sie Produktions- und Aufnahmeleiterin, hat im Jahr 2000 sogar einen Preis für den Dokumentarfilm «Zurück in die Wildnis» bekommen, bei dem sie für Regie und Drehbuch verantwortlich war.
Im Januar kommt «Friedas Fall» in die Kinos, das auf ihrem Buch «Die Verlorene» beruht und zu dem sie das Drehbuch geschrieben hat. Das Wissen um Fachbegriffe beim Schnitt von Filmen musste sie sich also nicht extra anlesen.
«Filmer schaffen ihre eigenen Realitäten. Sie leben in einer Parallelwelt, in der sie die Schöpfer und Stars sind.»
Michèle Minelli, Autorin (Bild: Anne Bürgisser)
Doch natürlich war es nicht Bequemlichkeit, die im Hintergrund für die Entscheidung stand: «Filmer schaffen ihre eigenen Realitäten», sagt Michèle Minelli. «Sie leben in einer Parallelwelt, in der sie die Schöpfer und Stars sind.» Die ausgedachte Schauspielerin im Roman ist allerdings kein Star mehr. Seit der Geburt ihrer Tochter wird sie weniger gebucht, was ihr Selbstwertgefühl beeinträchtigt: «Du machst nichts falsch, sie sind die Idioten, wenn sie dich immer nur für C-Filme casten», sagt ihr Mann und grösster Fan.
Auch als Mutter ist sie keine Bestbesetzung: Sie hat die Tochter als Baby einmal fallenlassen, mehrfach vergessen sie bei der Tagesmutter abzuholen. «Als Mutter erlebte sie eine Krise, deren Ausmasse mir damals nicht bewusst waren», konstatiert ihr Mann. Offenkundig hat sie auch schon früher mal «etwas eingeworfen» und ist über Drogen in eine alternative Realität abgetaucht.
Spannungsabbau durch Humor
Ein weisser Kater mit dem Namen «Pizza», den der Erzähler heimlich mit in sein Luxus-Hotel schmuggelt, sorgt für komische Effekte im Dramatischen. «Ich liebe es, Katzen zu beschreiben», so Minelli. «Dieser Blick in die Ferne, wenn sie urinieren, hat es mir diesmal angetan. Vor allem aber wollte ich etwas schaffen, das sowohl für Thierry als auch für seine Umwelt real ist.» Eine tägliche Portion Tatar – serviert jeden Abend um 18 Uhr - ist das Katzenfutter. Die Hotelangestellten halten die Bestellung beim Zimmerservice für einen exzentrischen Spleen des Gastes und bleiben professionell ungerührt.
Das Tier bietet nicht nur befreiende Komik, sondern auch Momente der Identifikation: Man kann nachvollziehen, wie schwierig es ist einen weissen Kater im Schneegestöber zu suchen. Dann ist es nur ein weiterer Schritt – Achtung: Spoiler 2 - sich vorstellen, wie auch das eigene Gehirn «dicht machen» würde, wenn etwas so unfassbar Schreckliches passiert wie ein erweiterter Suizid von Angehörigen.
Das Buch und die Taufe
Michèle Minelli. Wie es endet. Erschienen bei Lectorbooks
ISBN 978-3-906913-46-9; 118 Seiten; 30 Franken
Auch als E-Book erhältlich.
Buchtaufe am 18. November um 20 Uhr im Sphères, Hardturmstrasse 66, in Zürich
Von Inka Grabowsky
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