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von Urs Oskar Keller, 05.09.2025

32 Jahre lang pflegte Berta Dietrich die kranke Mutter

32 Jahre lang pflegte Berta Dietrich die kranke Mutter
Berta Dietrich am 7. März 2002 vor ihrem Haus an der Weiherstrasse in Kreuzlingen. | © Urs Oskar Keller

Unser Fotokolumnist Urs Oskar Keller interviewte und fotografierte 2002 Berta Dietrich für sein Buch über den bedeutenden Thurgauer Maler Adolf Dietrich (1877–1957). Berta war die Grossnichte des Malers, kannte ihn aber nicht persönlich. 32 Jahre lang pflegte Berta Dietrich ihre kranke Mutter. Sie blieb ledig und konnte nie einen Beruf erlernen. (Lesezeit ca. 2 Minuten)

Berta Dietrich wohnte mit ihrer altersschwachen Hündin Sarina lange in ihrem Haus an der Weiherstrasse in Kreuzlingen. Sie interessierte sich für das Zeitgeschehen, las mit Vorliebe den Zürcher Tages-Anzeiger und fuhr gerne Velo. 

Anlässlich der Arbeit für mein Dietrich-Buch «Ein Künstlerleben am See» (2002) habe ich Berta Dietrich kennengelernt. Mit Erstaunen hatte ich damals bei den jahrelangen Recherchen für das Buch immer wieder festgestellt, dass innerhalb seiner Familie und Teilen seiner Verwandtschaft Adolf Dietrichs Arbeit nur am Rande und nie in ihrer Bedeutung wahrgenommen wurde. Das Kauzige an Dietrich stand für sie im Vordergrund, und man hielt es für unmöglich, in der Familie einen bedeutenden Künstler zu haben. Eine Ausnahme bildete neben Berta Dietrich unter anderen Walter Bosshart in Oberwangen TG, der sich eingehend und kompetent um den Familiennachlass der Dietrichbilder kümmert.

Berta Dietrich erzählte mir: „Ich war nie bei Adolf Dietrich gewesen, kannte ihn auch nicht persönlich. Zu ihm ging ich nicht, warum auch.“ Bertas Vater, Albert Dietrich, war ein Neffe des bekannten Schweizer Malers. Ihre Mutter, Leonie Dietrich-Auer stammte aus Gailingen gegenüber Diessenhofen TG. Sie war eine Deutsche, also eine, „von drüben“, hiess es in Berlingen verächtlich. „Adolf Dietrich mochte Mutter nicht. Man mochte generell die Deutschen nicht. Das war im Dorf so. Das war früher so. Sie kannte Adolf gut und erzählte mir einige Geschichten über ihn.“

„Adolf Dietrich mochte Mutter nicht. Man mochte generell die Deutschen nicht. Das war im Dorf so. Das war früher so. Sie kannte Adolf gut und erzählte mir einige Geschichten über ihn.“

Berta Dietrich, Grossnichte des Malers Adolf Dietrich

 

An eine normale Schulzeit oder eine ungezwungene Jugend war nicht zu denken

Berta Dietrich wurde 1928 in Berlingen geboren, wo sie auch die ersten vier Jahre ihres Lebens verbrachte. Nach dem frühen Tod ihres Vaters zog ihre Mutter mit ihr nach Zürich. Leonie Dietrich-Auer war gelernte Damenschneiderin und arbeitete als Heimarbeiterin in der Zürcher Kleiderfabrik Braunschweig. Später besuchte Berta den Kindergarten in Zürich-Wollishofen. 1935 zogen Leonie und Berta Dietrich nach Emmishofen (heute Stadtteil von Kreuzlingen). 1936 kaufte die Mutter einen Teil eines Doppelfamilienhauses vom geflüchteten deutschen Bankier Richard Endres an der Weiherstrasse 11. 

Wenig später erkrankte die Mutter an einer Angina und an schwerer Polyarthritis. Am 1. September 1939 brach der Zweite Weltkrieg los. Es war der Beginn einer Katastrophe für die Welt, die für viele Menschen unsägliches Leid bedeutete. Auch für das damals Zehnjährige „Berteli“ Dietrich: 1940 wurde ihre Mutter bettlägerig und benötigte dauernde Pflege. An eine normale Schulzeit und eine ungezwungene Jugend war nicht zu denken, an eine solide Ausbildung auch nicht. 32 Jahre lang, bis zu Leonie Dietrich-Auers Tod 1972, pflegte Berta ihre Mutter zu Hause. 

Die Urne der Mutter stellte sie zur Erinnerung ins Wohnzimmer

Die Urne der Mutter stellte sie zur Erinnerung auf den Fernseher im Wohnzimmer. Berta arbeitete später je 16 Jahre im Aluveredlungswerk Robert Viktor Neher AG und im alten Coop-Hauptgeschäft im Sonnenhof in Kreuzlingen. Um 1999 besuchte sie mich zusammen mit unserer gemeinsamen Bekannten Elisabeth Gutheinz im Dietrich-Haus in Berlingen, das ich damals leitete. Als Jugendliche besuchten wir gerne Filme in den beiden Kreuzlinger Lichtspielhäusern Bodan an der Hauptstrasse oder Apollo an der Konstanzerstrasse. Beide wurden von Elisabeths Vater, Ernst Gutheinz, geleitet – das Apollo von ihm 1932 auch gebaut. 

Ich mag das Bild von Berta. Was für ein Leben! Sie klagte kaum. Berta Dietrich starb am 25. Juli 2019 im Alterszentrum an der Kirchstrasse in Kreuzlingen.

Die Serie «Augenblicke»

In der Fotokolumnen-Serie «Augenblicke» zeigt Urs Oskar Keller besondere Momente aus seiner Zeit als Foto-Reporter in unserer Region. Zu den Fotografien schreibt er in kurzen Texten auch, wie die Aufnahmen entstanden sind und was sie so besonders macht. Gewissermassen entsteht so eine kleine Geschichte besonderer Foto-Momente aus den vergangenen 50 Jahren. In einem Interview hat er erläutert, wie er die Momente eingefangen hat.

 

Alle weiteren Beiträge der Serie bündeln wir in einem Themendossier

 

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