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„Ich bin ein Idyllensammler“

„Ich bin ein Idyllensammler“
Der Fotoreporter Urs Oskar Keller. Selbstporträt. |

Urs Oskar Keller ist fast 50 Jahren als Reporter in der Region unterwegs auf der Suche der Sensation des Alltags. In der neuen Serie „Augenblicke“ zeigt er besondere Momente aus dieser Zeit. Zum Auftakt ein Gespräch über Glück und den Wert der Fotografie in Zeiten von Smartphones und KI. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)

Herr Keller, wie sind Sie zur Fotografie gekommen und was hat Sie daran gereizt?

Urs Oskar Keller: Als mir meine Schwester zum 15. Geburtstag 1970 in Genf eine ziemlich schwere japanische Konica-Spiegelreflex-Kamera mit Weitwinkelobjektiv schenkte, erwachte langsam mein Interesse und mein Spass am Ablichten und Festhalten von Momenten und Augenblicken. Damals beschränkte ich mich auf Aufnahmen von meiner Freundin, Ferienerlebnisse in Irland oder Ausflüge mit dem Velo im Thurgau. 

Wie ging es weiter?

Urs Oskar Keller: Als ich mich nach meiner Tätigkeit als Verlags- und Sortimentsbuchhändler sowie Bibliotheksassistent entschloss, «rasender Reporter» zu werden, folgten Volontariate im Pressebüro von Paul F. Walser in Kreuzlingen und bei der Schweizerischen Bodensee-Zeitung in Arbon und Romanshorn. Dort wurde ich in die komplexe und faszinierende Welt der Reportage und des Lokaljournalismus, wie auch in die mehrheitlich noch Schwarzweissfotografie eingeführt, was mir beides sehr gefiel. Als Autodidakt und eben nicht gelernter Fotograf und Fotoreporter kam ich zwar an fachliche Grenzen, doch die Freude und Lust am Ausprobieren überwogen und blieben bis heute, auch nach dem Wechsel von der analogen zur digitalen Fotografie. Mein Lehrmeister war Rolf Wessendorf (1931-2023), Meisterfotograf und Freund unserer Familie aus Kreuzlingen, der später in Schaffhausen ein Fotogeschäft und Atelier besass.

Welche Motive zogen Sie besonders an?

Urs Oskar Keller: Wenn ich fotografiere, schaue ich anders. Mit der Kamera beobachte ich genauer. Was ich immer besass, war ein besonderer Blick für das Skurrile, für den besonderen Augenblick, das Ausgefallene, für Merkwürdiges, Sonderbares. Was mir half, war meine Intuition und das mich treiben lassen. Ich bewegte mich unbewusst ohne gezielte Suche zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Es war immer ein Geschenk oder ein Zufall – es fiel mir zu.

 

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Hinter jedem Foto steckt eine Geschichte.

Urs Oskar Keller, Fotograf & Reporter (Bild: Barbara Rüttimann)

Wie sind Sie auf die Idee zu der neuen Fotoserienkolumne «Augenblicke» gekommen?

Urs Oskar Keller: Bei der aktuellen Aufarbeitung meines grossen Bildarchives. Der Fundus beinhaltet viele Trouvaillen und ebenso viele Geschichten. Hinter jedem Foto steckt eine Geschichte. Das bewog mich, diese Geschichten zu und hinter Bildern auch aufzuschreiben und als Fotoserienkolumne zu veröffentlichen. Ich bin ja seit 50 Jahren als Fotoreporter unterwegs – mit Velo, Linse und Notizheft durch Gesellschaft und Kultur.

Sie zeigen in der Serie «Augenblicke» besondere Momente des Alltags. War es schwierig, die einzufangen?

Urs Oskar Keller: Nicht so sehr, weil mein Auge über die Jahrzehnte geübt, den Blick  für Situationen geschärft hat und ich meine Kamera fast immer dabei habe. Bis heute fasziniert mich das ungekünstelte, ungestellte Bild, eine direkte Aufnahme der Menschen, Situationen oder einer Landschaft. Mein Hauptinteresse war schon in den 1970er-Jahren die sogenannte Street Photography: möglichst ganz nahe am Geschehen, am Objekt der Begierde zu sein – sozusagen inmitten der Szene, des Ereignisses. Prominente in Szene zu setzen war nicht so leicht, ausser die Personen waren erfahren und wussten selbst, wie sie sich posieren und «zeigen» wollten. Nicht alle schätz(t)en und akzeptier(t)en diese Unmittelbarkeit oder Nähe. Die Scheu von Menschen, die gleich die Hände vor die Augen halten und sich demonstrativ abwenden, wenn sie mich mit meiner umgehängten Kamera bemerkten, machte die Arbeit manchmal schwer bis unmöglich. Durch Offenheit, Vertrauen und viel Geduld bekam ich oft was ich wollte – ein «gutes» Bild. 

 

Mehr über Urs Oskar Keller

Urs Oskar Keller, 1955 in Scherzingen am Bodensee geboren und in Kreuzlingen aufgewachsen, liess sich unter anderem zum Verlags- und Sortimentsbuchhändler in Bern ausbilden und stieg 1978 als Fotoreporter und Journalist in die Zeitungsbranche ein. 

Als Volontär bei Ostschweizer Medien wurde er auch in Welt der Fotografie eingeführt. Seine Fotos und Texte erschienen in fast allen Schweizer Medien. Er war Mitarbeiter und Kulturschaffender in Residence im Haus Bill, Max Bill- / Georges Vantongerloo-Stiftung in Zumikon ZH. Urs Oskar Keller betreute von 1996 bis 2002 das Adolf-Dietrich-Haus in Berlingen am Untersee (Wohnhaus und Atelier des Thurgauer Malers) und veröffentlichte unter anderem das Buch «Adolf Dietrich – ein Künstlerleben am See» (Huber Verlag, 2002). Organisation und Teilnahme an der Ausstellung «Adolf Dietrich – Der Berlinger Maler in Fotografien von zwölf Fotografinnen und Fotografen» 2002 in Berlingen. Keller war auch Mitinitiant der Ausstellung «Der Tod ist nicht das Ende» (2002-2003) auf dem Friedhof Rosenberg in Winterthur.

Seit Dekaden gibt es eine Zusammenarbeit mit der Bildagentur Keystone-SDA in Zürich. Urs Oskar Keller ist freier Journalist und Fotograf BR und Mitglied von syndicom, Gewerkschaft Medien und Kommunikation sowie ProLitteris. Sie ist die schweizerische Verwertungsgesellschaft für Text und Bild. Er lebt in Landschlacht am Bodensee und schreibt auch für thurgaukultur.ch.  

Apropos: Woran erkennt man ein gutes Foto?

Urs Oskar Keller: Wie viele Fotos schauen wir uns länger als 20 Sekunden an? Was ein Bild unvergesslich macht, ist das Storytelling. Jedes gute Foto erzählt eine Geschichte oder löst ein Gefühl aus, weckt Emotionen. Es ist technisch gut, das heisst scharf und gut belichtet. Ausserdem sollte das Foto eine ansprechende Bildsprache haben und nicht zu überladen sei.

Wie bereiten Sie sich auf einen Fototermin vor? Was passiert spontan und was planen Sie voraus?

Urs Oskar Keller: Bevor ich in den 1970er-Jahren aus dem Haus ging, schaute ich immer: Ist ein Schwarzweissfilm in der analogen Kamera? Habe ich noch genügend Filme in der Tasche? Sollte ich auch Farbaufnahmen mit meiner anderen Kamera machen? Sind die Linsen sauber? Welche Objektive packe ich ein? Ich überlegte mir bei geplanten Porträts im Voraus, wo es einen passenden Ort, eine ideale Location gibt. Bei einem Bildbericht über die Thurgauer Psychologin und Autorin Julia Onken schlug ich ihr beispielsweise vor, sie im Park des früheren Nobelsanatoriums Bellevue der Psychiater-Dynastie Binswanger in Kreuzlingen abzulichten, statt in ihrer Praxis im Hochhaus nebenan. Oft kommt es auch bei Fotoaufnahmen anders als man denkt und es entstehen Bilder am Türeingang, am Telefon, im Kuhstall. Im Gegensatz zu früher ist das Fotografieren heute spontaner und passiert aus dem Augenblick heraus.

 

Die KI hilft beim Verschönern und Verwalten der eigenen Bilder. Doch sie birgt zweifellos Risiken und zwingt uns, unseren Umgang mit Fotos zu überdenken.

Urs Oskar Keller, Fotograf & Reporter

Heute postet jeder ständig Fotos auf Social Media, per KI kann man alle Fotos erstellen lassen, die man will – ist das Zeitalter der Fotografen vorbei? 

Urs Oskar Keller: Sicher die Zeit der klassischen Fotografie. Smartphones dominieren unsere Welt, mit denen sich ständig eine fast unbegrenzte Anzahl von Fotos machen lässt. Schon die Kleinsten wissen, dass sie Abbilder der Wirklichkeit produzieren können. «Fotos sind so alltäglich geworden, dass wir uns den ernsthaften Fragen, die unsere Bilder aufwerfen, nicht stellen. Und zwar auch deshalb, weil wir uns dem Denken ausgerechnet durch Bilder entziehen», sagte Guy Meyer, Professor für Fotografie in Paris. Zur Zukunft der Fotografie: Ich nutze KI nicht, um meine Fotos zu bearbeiten. Die KI hilft beim Verschönern und Verwalten der eigenen Bilder. Doch sie birgt zweifellos Risiken und zwingt uns, unseren Umgang mit Fotos zu überdenken. Das Geschichtenerzählen bleibt und die Faszination an Fotos, am Dokumentarischen auch. Für mich sind die früheren Fotos Erinnerungen an eine sorglosere Zeit.

Welchen Wert hat Fotografie heute noch?

Urs Oskar Keller: Schwer zu sagen. Die Fotografie hat einen festen Platz in der Kunst. Aber die Preise sinken, ausser bei bedeutenden Fotografinnen und Fotografen. So sind auch Fotos des Thurgauer Fotografen Hans Baumgartner heute günstiger zu bekommen. Die Bilderflut ist inflationär und es wird überall und jederzeit mit dem Smartphone um die Wette geknipst. Alleine mit der Spiegelreflexkamera erfasste ich früher mit wenigen Aufnahmen eine ganze Atmosphäre, Menschen, alte Frauen mit leiser Poesie und freundlichem Respekt. Wenn Fotograf Rolf Wessendorf in den 1950er-Jahren an einer Hochzeit vielleicht 150 Bilder machte und dann nach Hause ging, werden heute an einem solchen Anlass einige Tausend Fotos gemacht. 

Aus all Ihren Jahren als Reporter: Gibt es ein Lieblingsbild, auf das Sie besonders stolz sind oder das Sie besonders berührt?

Urs Oskar Keller: Ich bin ein Augenmensch. Ich schaute hunderttausende Male durchs Objektiv meiner Kamera. Es gibt viele Aufnahmen, die ich mag: Meine Tochter während den Sommerferien auf dem Lande in Finnland, buddhistische Mönche und Menschen in Myanmar, die zirzensische Welt, Willy Brandt, Nina Hagen, Büne Huber, Bilder aus dem Alltag.

 

Ein besonderer Moment: Der damals noch junge Reporter Urs Oskar Keller im Gespräch mit Willy Brandt am 3. Dezember 1986 in Konstanz. Bild: Fotoarchiv Keller
Was treibt Sie bis heute an? 

Urs Oskar Keller: Neugierde, Begeisterung für das Kleine und das Grosse, Menschenliebe und das nomadenhafte und glücklich machende Unterwegssein. Das Alltägliche, das scheinbar Gewöhnliche interessierte mich immer. Unterwegs zu sein ist mein Lebenselixier. Die Sensation des Alltags. Ich bin ein Idyllensammler, dem bewusst ist, dass die Schönheit im Alltäglichen der wahre Schatz ist. 

 

Die neue Serie «Augenblicke»

In der Fotokolumnen-Serie «Augenblicke» zeigt Urs Oskar Keller besondere Momente aus seiner Zeit als Foto-Reporter in unserer Region. Zu den Fotografien schreibt er in kurzen Texten auch, wie die Aufnahmen entstanden sind und was sie so besonders macht. Gewissermassen entsteht so eine kleine Geschichte besonderer Foto-Momente aus den vergangenen 50 Jahren. Alle Beiträg der Serie bündeln wir in einem Themendossier. 

 

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