von Urs Oskar Keller, 12.09.2025
Der kulinarische Balzac vom Bodensee

Unser Fotokolumnist Urs Oskar Keller hat den Spitzenkoch Urs Wilhelm lange fotografisch und journalistisch begleitet. Nicht nur das: Einmal hat er sogar als Küchenbursche am zischenden Herd geschwitzt. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Urs Wilhelms Salat ist ein Muss, weil er eine erlesene Vielfalt an bitteren und sanften, zarten sowie pfeffrigen Blättern und Kräutern vereint; alleine oder mit Kalbsmilken oder Scampi – für mich ein Einstieg von anregender Köstlichkeit. Keiner seiner besonders anspruchsvollen Gäste muss hier in Altnau seit 1991 über eine saure Salatsauce mäkeln. Sie ist perfekt abgeschmeckt. Die frisch gebackenen Brötchen tunkt man am liebsten in die Salatsauce oder löffelt den Rest – als sei es ein Süppchen – aus dem Teller. Knigge hin oder her.
Vor 34 Jahren kaufte Urs Wilhelm das Haus zwischen den beiden Altnauer Dorfkirchen von den Vorgängern Hans und Priska Wiesli, die von 1979 bis 1990 dort erfolgreich und kreativ tätig waren, ab. Ich schrieb 1991 als Erster über den Thurgauer Couturier der kulinarischen Gelüste. Noch immer steht Urs Wilhelm (81) am zischenden Herd, und sein Restaurant ist freitags bis sonntags ab 16 Uhr auf Voranmeldung geöffnet.
Und vor meine Linse bekam ich ihn oft. Beispielsweise in aller Herrgottsfrühe auf dem Zürcher Engrosmarkt. Es war eine Sensation, dass Wilhelm das Hotel-Restaurant «Adler» im aargauischen Muri 1990 verliess und in den Thurgau zurückkehrte. Ich verfolge sein Schaffen seit Dekaden. Anfänglich und sehr sporadisch half ich bei ihm mal am Wochenende als Küchenbursche aus. Eine spannende Zeit!
«Man muss im Leben so stark sein, dass man alles selber machen kann!»
Urs Wilhelm, der Balzac vom Bodensee mit körperlicher Fülle («Ich bin ein barocker Mensch»), liebt die vitale Sprache: «Man muss im Leben so stark sein, dass man alles selber machen kann!» Ein Koch, der das Zeug nicht nur schön präsentiert, sondern es auch ausgezeichnet kochen kann. Auf sein prächtig ausstaffiertes Restaurant trifft die Kategorie «einen Abstecher wert» zu (nach 20 Jahren gab er 2012 seinen Michelin-Stern altershalber ab).
Der kreative Patron hat sich in seinem «Schäfli» ein Refugium des Aussergewöhnlichen eingerichtet: Möbel, Schränke und Lampen verschiedenster Stilrichtungen, die Wände voller Bilder bekannter Künstler, Plastiken und Accessoires. Überschwänglicher Blumenschmuck rundet das Restaurant des barocken Kochkünstlers eindrucksvoll ab. Das Ganze hat fast einen musealen Charakter, aber eben ein besonderes Museum – ein Museum für Lebensfreudige.
Ein Prototyp des bärenstarken und arbeitsbesessenen Thurgauers
Urs Wilhelm ist ein Prototyp des bärenstarken und arbeitsbesessenen Thurgauers. Er wurde am 8. Oktober 1943 in Romanshorn geboren. «Es war der Tag, als die Zeppelin-Stadt Friedrichshafen bombardiert wurde, die Sirenen heulten, die Splitter flogen und die Schweizer schnell in ihre Keller rannten.» In Steckborn am Untersee ist er mit vier Geschwistern als Sohn eines Metzgers und abstrakten Malers aufgewachsen. «Wir waren sehr extreme Kinder und mussten immer arbeiten», erinnert er sich. Das doppelte Erbe von kulinarischem und künstlerischem Geniessen hat ihn geprägt.
Das Tragen seidener Foulards und das Sammeln von Bildern und Antiquitäten gehören heute ebenso zu seinem Markenzeichen wie die bunten Sommersalate mit Gartenkräutern. Nicht einmal ein Florist könnte das Wilhelmsche Salatbukett schöner stecken als er.
Fingerfertigkeit gepaart mit einem untrüglichen Sinn für Farbe, Form und geschmackliche Harmonie ist ihm eigen und bildet eine besondere kulinarische Symbiose. «Da bin ich Spitze», sagt der selbstbewusste Kochkünstler. Von der Salatsauce, welche die Gäste im Kännchen serviert bekommen, wird sogar getrunken. Unwiderstehlich!
Weismüller, Rivel, Karajan...
Der Bohemien und Patriarch in einem wollte schon immer Koch oder Dekorateur werden. Die Eltern konnten aber damals das Lehrgeld von 500 Franken für eine Kochlehre im «Baur au Lac» in Zürich nicht aufbringen. Trotzdem blieb er der Gastronomie treu und wurde Kellner. Im Hotel «Hermitage» in Luzern fand er einen Ausbildungsplatz als Kellner. Er verliess die Innerschweiz mit der besten Lehrabschlussprüfung (Note 1,1), reiste als Steward mit der Holland-America-Line von New York nach Südamerika und durch die Karibik, arbeitete in den besten Häusern in England und Deutschland und heiratete Rita, eine Deutsche aus dem Ruhrgebiet.
In Bochum und später als Maître d’Hôtel der Wiesbadener Nobelherberge «Schwarzer Bock» betreute Urs Wilhelm die eitlen VIPs dieser Welt. Bilder und Autogramme von Tarzan-Darsteller Johnny Weismüller, Charlie Rivel, Herbert von Karajan und anderen zieren sein rotes Gästebuch. «Dort verdiente ich ein kleines Auto pro Monat», schmunzelt er.
Kochlehre kostete 100 000 D-Mark
Später übernahmen Urs und Rita Wilhelm das Restaurant «Vogelherd» im Barockschloss Oberstotzingen bei Ulm. Die eigentliche Metamorphose machte Wilhelm vor 30 Jahren durch. Nach einem entscheidenden Besuch beim virtuosen Meisterkoch Eckart Witzigmann in München entliess er sein Küchenteam und band sich selbst die Kochschürze um – bis zum heutigen Tag.
Am Anfang war er natürlich ein Kopist («das ist so wie bei einem Maler») und versuchte, Witzigmanns berühmtes Hechtsoufflé nachzumachen. Es klappte. Beinahe jede Woche fuhr er nach München, kaufte im Viktualienmarkt «nur das Beste vom Besten» ein und besuchte den Gourmet-Tempel «Tantris». Der Rest der verblüffenden Fähigkeiten ist sozusagen autodidaktisch erworben.
Urs Wilhelm – mit der Autorität eines orientalischen Potentaten – hat längst seine unverkennbare Handschrift, seine Linie gefunden. «Meine Kochlehre hat mich damals gut und gern 100 000 D-Mark gekostet. Ich habe alle meine Kochfehler selber gemacht. Am Anfang verkaufte ich noch Steaks. Manchmal habe ich drei Kalbssteaks gebraten, bis das richtige dem Gast vorgesetzt wurde.»
«Menschen, die gerne essen, sind oft sehr lustbezogen»
Das Wort Lust habe ich noch nie so viel gehört (und empfunden) wie in Wilhelms Restaurant. Lustbetont möchte er sein, lustig und lustvoll soll es in seinem aussergewöhnlichen Restaurant zu- und hergehen: Der Gast darf hier seine Lust und seinen Frust ausleben. Was umgibt denn diesen romantischen «Lüstling»? Er braucht schöne Dinge, viel Grün, viele Pflanzen und eine wohnlich-urgemütliche Atmosphäre.
Die Familie ist ihm heilig – seine Kinder leben in der ganzen Welt verstreut – und eine Kombination von Familienmensch und Arbeitstier ist ihm eigen. «Wissen Sie», sagt er mit sonorer Stimme, «Menschen, die gerne essen, sind oft sehr lustbezogen.» Ein schönes Essen sei beinahe göttlich, und die Lust dazu könne einen beinahe orgasmusähnlichen Zustand bewirken. Bei Wilhelm kann auch ein Salat mit Wachteln erotisch sein. «Das erotische Mahl propagieren wir aber nicht», kommentiert Wilhelm.
«Weil ich es gerne mache»
Tausend Dinge scheinen in seinem Kopf herumzuschwirren, lebhaft sitzt er auf dem grauschwarz melierten, sauber getrimmten Bart. Sein vitaler Schaffensdrang, seine rabiate Lust bringen Unruhe und Leben ins Gespräch. Seit 65 Jahren habe er insgesamt nur wenige Wochen Ferien gemacht.
Warum wohl? «Ich bin arbeitsbesessen, strebsam, ein Workaholic. Ich kann kaum Ferien machen, obschon ich seit Jahren AHV erhalte.» Er werde krank, wenn er einmal einige Tage ohne Arbeit sei. Je nach Gästezahl steht er noch drei bis vier Tage in der Woche im Betrieb. «Es tut mir nicht weh, weil ich es gerne mache.»
Die Serie «Augenblicke»
In der Fotokolumnen-Serie «Augenblicke» zeigt Urs Oskar Keller besondere Momente aus seiner Zeit als Foto-Reporter in unserer Region. Zu den Fotografien schreibt er in kurzen Texten auch, wie die Aufnahmen entstanden sind und was sie so besonders macht. Gewissermassen entsteht so eine kleine Geschichte besonderer Foto-Momente aus den vergangenen 50 Jahren. In einem Interview hat er erläutert, wie er die Momente eingefangen hat.
Alle weiteren Beiträge der Serie bündeln wir in einem Themendossier.

Von Urs Oskar Keller
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