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Adieu, Tiss

Adieu, Tiss
Jedes Bild erzählt eine Geschichte: Richard Tisserand, Künstler, Kurator und ein sehr besonderer Mensch, ist im November 2022 im Alter von 74 Jahren gestorben. Das Foto stammt aus dem Jahr 2018. | © Michael Lünstroth

Richard Tisserand war Visionär, Künstler und eine prägende Figur des Thurgauer Kulturlebens. Jetzt ist der langjährige Kurator des Kunstraum Kreuzlingen im Alter von 74 Jahren gestorben. Ein Nachruf. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Vielleicht ist es das, was Richard Tisserand am besten beschreibt - er war immer ein Entdecker. In seiner eigenen Kunst, aber auch in seiner Arbeit als Kurator des Kunstraum Kreuzlingen. Neugier war sein Antrieb und er wollte immer wissen, wie Dinge funktionieren. Bei einer unserer Begegnungen erzählte er mir beispielsweise, wie er die Polaroid-Fotografie für sich entdeckte.

„Ich wollte wissen, welcher Prozess bei der Bildwerdung abläuft, also riss ich die hintere, dunkle Beschichtungsfolie ab, um zu sehen, welches Geheimnis sich hinter den Sofortbildern versteckte.“ Tisserand fand dort schliesslich eine Paste, die, solange frisch und flüssig, zeichnerisch bearbeitet werden konnte und das Bild vorne entscheidend veränderte. Für den Künstler war das ein Erweckungssmoment. Seither nahm die Polaroid-Fotografie einen wichtigen Teil in seinem Werk ein.

Geprägt vom Unterwegssein

Richard Tisserand, 1948 in Eschenz geboren und aufgewachsen, verliess die Schweiz kurz nach Abschluss der Schule. Um 1970 lebte er ein Jahr in Wien, danach zog es ihn nach Paris. Er pendelte lange zwischen Paris und dem Thurgau, lebte und arbeitete an beiden Orten gleichermassen. Auch das passte zu ihm: Die Landschaft nimmt eine zentrale Stellung ein in seinem künstlerischen Schaffen, das vom steten Unterwegssein geprägt ist.

Als wir uns das erste Mal trafen arbeitete ich noch für eine deutsche Tageszeitung und Richard Tisserand leitete seit ein paar Jahren den Kunstraum Kreuzlingen. Ich erinnere noch, wie verblüfft ich war, dass ein solch vibrierender Kunstort ausgerechnet in Kreuzlingen existierte.

 

Tiss bei der Arbeit mit Blick auf den See. Bild: Archiv

Typen wie er sind selten geworden

„Tiss“, wie ihn damals schon alle nannten, stand da in seiner legendär-verknautschten, schwarzen Lederjacke (oder war es doch die leicht verwaschene grau-schwarze Jeansjacke?) und wir plauderten über Kunst und wie man einen so urbanen Ort wie den Kunstraum in der Provinz etabliert. Wenn er über solche Dinge redete, hatte er immer so ein schalkiges Glitzern in seinen Augen. Ja, ich mochte diesen Menschen mit seiner verschroben-lausbubenhaften Art. Von Anfang an.

Wahrscheinlich auch, weil Typen wie Richard Tisserand selten geworden sind in der Kunst. Unverstellt, offen, manchmal auch stur und immer sehr klar in seinen Ansichten. Angst vor Konflikten kannte er eigentlich nicht, er war ein Freund der klaren Worte. Für Journalisten ist das natürlich ein Traum. Weil er Stellung bezog und sich nicht hinter Floskeln oder Plattitüden versteckte.

 

„Wir müssen aufhören mit unseren Kategorien, aufhören damit, dass dies so oder so hängen muss. Vielleicht uns auch loslösen von dem Gedanken, dass man immer Ausstellungen macht, vielleicht sind das dann eher Erlebnisräume.“

Richard Tisserand, Künstler und Kurator (Bild: Inka Grabowsky)

Tisserand hatte ja auch was vorzuweisen. Er hat den Kunstraum zu dem gemacht, was er heute ist. Er hat ihn mit Mut, Neugier und Lust am Experimentieren profiliert. Immer wieder gelang es ihm, auch solch spannende Künstler:innen nach Kreuzlingen zu locken, die normalerweise einen Bogen machen um kleine verschlafene Nester im Thurgau. Gleichzeitig öffnete er den Kunstraum aber auch immer wieder für Nachwuchskünstler:innen, gab ihnen eine Plattform und damit auch ein Stück weit die Gelegenheit, sich selbst als Künstler:in zu finden.

Tiss war keiner, der Dinge machte, weil man sie schon immer so machte. Er hinterfragte Herangehensweisen und wurde gerade deshalb zum Visionär. „Wir müssen aufhören mit unseren Kategorien, aufhören damit, dass dies so oder so hängen muss. Vielleicht uns auch loslösen von dem Gedanken, dass man immer Ausstellungen macht, vielleicht sind das dann eher Erlebnisräume“, sagte er mir einmal in einem Interview. Ein Satz, den ich bis heute wegweisend finde.

Sein Werk stand oft im Schatten seiner kuratorischen Arbeit

Dass Richard Tisserand auch selbst Künstler war, ging manchmal ein bisschen unter, weil er als Kurator eben so grossartige Arbeit leistete. Dabei ist auch sein eigenes künstlerisches Schaffen beachtlich. Das zeigt sich auch in den verschiedenen Auszeichnungen, die er erhielt: Adolf Dietrich-Förderpreis (1984), Thurgauer Kulturpreis (1988) und den Preis von Eschenz (1992).

Eines seiner Markenzeichen wurde die Hinterglasmalerei. Einige dieser Werke waren zwei Meter hoch und drei Meter breit. Steht man davor, man möchte am liebsten darin versinken - und genau das passiert auch, man kann sich kaum dagegen wehren. Ein Effekt, der vom Künstler beabsichtigt war. Die Überdimension als Stilmittel sei bewusst gewählt, um eintauchen zu können in diesen getupften Farbrausch, sagte er anlässlich seiner Ausstellung im Museum Rosenegg 2020.

 

Kraftwerk Hinterglasmalerei auf VSG 193 x 324 cm, 4teilig Werk Nr 4472 2017

 

„Im Grunde muss das Bild in meinem Kopf fertig sein, ehe ich anfange. Zumindest so grob. Einmal angefangen ist der Ton gesetzt, die Arbeit in sich kaum mehr veränderbar.“

Richard Tisserand, über seine künstlerische Arbeit

Distanz, Nähe, Garten, Natur, Idylle - all das findet sich in seinen Werken. Und wer nun denkt Gartenmalerei, das sei doch Kitsch pur, der wird hier eines Besseren belehrt. Als klassisches Gemälde auf Leinwand wirkte dieses Motiv fast einfältig. Die Scheibe schafft Distanz, sie nimmt dem Bild den Kitsch. Eine verblüffende Wirkung.

«Tatsächlich ist bei mir die Landschaft immer Teil des Bildes – das zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk», sagte Tisserand. Was sich verändert habe, sei jeweils das Umfeld gewesen. «In den Siebzigern entstand die grüne Bewegung. In meinen Bildern setze ich mich damit auseinander.»

Zehn Jahre habe er sich ganz der Themenmalerei gewidmet. Jedes Bild erzählt eine Geschichte. «Damit hatte ich mir aber auch eine Falle gestellt. Man muss immer so malen, dass die Bilder verstanden werden.» Damals entstanden die emblematischen Tücherbilder, bei denen gestreifte Tücher in einer Landschaft platziert sind. Später stellt er der Natur Architektur gegenüber.

 

Richard Tisserand in der Ausstellung im Museum Rosenegg 2020. Bild: Michael Lünstroth

Er hatte den Mut, Unsicherheiten zuzulassen

Grosse handwerkliche und gedankliche Leistung steckt in vielen Arbeiten. „Im Grunde muss das Bild in meinem Kopf fertig sein, ehe ich anfange. Zumindest so grob. Einmal angefangen ist der Ton gesetzt, die Arbeit in sich kaum mehr veränderbar“, erklärte Tisserand mal. Trotzdem lässt er im künstlerischen Prozess Unsicherheiten zu: „Man muss sich auch gehen lassen können bei der Arbeit, das Bild führt mich in eine bestimmte Farbwelt“, sagt der Künstler.

Jetzt müssen auch wir diesen besonderen Menschen gehen lassen. Am Mittwoch, 23. November, ist Richard Tisserand im Alter von 74 Jahren an den Folgen seiner ALS-Erkrankung gestorben. „Wir verlieren mit seinem Tod einen Freund und sind sehr traurig“, schreibt Cornelia Zecchinel von der Thurgauischen Kunstgesellschaft. Und damit ist alles gesagt.

 

Bei der Eröffnung seiner Abschieds-Ausstellung in diesem Jahr war Richard Tisserand schon gezeichnet von seiner Krankheit. Bild: Inka Grabowsky

 

Mehr Beiträge über Richard Tisserand

Abschied im eigenen Haus: Zur aktuellen Ausstellung im Kunstraum Kreuzlingen.

Die Krise als Chance: Video-Interview mit Richard Tisserand.

Richard Tisserand und Adolf Dietrich - ein überraschendes Verhältnis.

Unter der Oberfläche: Zu Tisserands Ausstellung im Museum Rosenegg im Jahr 2020.

Der Visionär: Interview mit Richard Tisserand aus dem Jahr 2018.

 

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