von Brigitta Hochuli, 29.07.2016
Der Spiegel im Spiegelzelt
Das See-Burgtheater spielt diesen Sommer in einem Spiegelzelt. Das ist nicht nur wetterfest, sondern gleichsam eine Metapher für den Spiegel, der hier einer intoleranter werdenden Gesellschaft vorgehalten wird. Dieser Spiegel ist möglicherweise auch der Grund für die gegenüber 2015 um einen Viertel niedrigeren Besucherzahlen.
Brigitta Hochuli
Das Spiegelzelt war die Idee von Astrid Keller, die im „Käfig voller Narren“ die Marie Dindon spielt. Der Jugendstil passe atmosphärisch zum Stoff des Musicals, das in einem exklusiven Nachtclub mit Travestieshows und Cabaret spielt. Die Idee gefiel auch Kellers Ehemann, Regisseur Leopold Huber. Er schwärmt von der Auskleidung des Zelts mit Brokat und Seide, von den Holzpfeilern mit den feinen Schnitzereien und natürlich von den Effekten unzähliger Bleiglasspiegel im Zelthimmel, im Windfang und an den Säulen.
Vermietet wird dieses THEATRE DU PARADIS von der Show Circus AG aus Basel. In einer Broschüre erfährt man, dass Spiegelpaläste um 1900 vor allem in Belgien und den Niederlanden als mobile Tanz-Pavillons konstruiert und Woche für Woche in einer anderen Stadt aufgebaut wurden. Die Zelte seien schnell zum Symbol des extravaganten Nachtlebens jener Zeit geworden. Nach dem zweiten Weltkrieg seien die Spiegelpaläste dann in Vergessenheit geraten, bis Mitte der 70er Jahre eine bis heute anhaltende Renaissance vor allem bei Musik- und Theaterfestivals einsetzte.
Schon bessere Besucherzahlen
Trotz dieses glitzernden Zeltes lassen die Besucherzahlen im See-Burgtheater dieses Jahr zu wünschen übrig. Sie seien bis dato gegenüber 2015 um einen Viertel eingebrochen. „Wir hatten schon bessere Zahlen“, sagt Leopold Huber. Es gebe wohl mehrere Gründe dafür. Einerseits sei allgemein sehr viel los. „Das ist auch gut so. Wir haben ja trotzdem unser eigenes Profil.“ Von Zuschauern wisse er zudem, dass viele lieber direkt am See sitzen wollten, und nicht in einem Zelt. Dabei sei man einige Male schon froh gewesen, unter einem Dach spielen zu können. „Wir hätten wegen des Wetters sonst schon oft abbauen müssen.“
„Will keine Schwulen anschauen“
Den dritten Grund für den Besucherrückgang sieht Huber aber im Inhalt des Stücks, indem es um Toleranz gegenüber Homosexualität geht und das den Intoleranten den Spiegel vorhält. „Ich bin überrascht, wo wir hier leben.“ Aus Reaktionen auf die Stückwahl habe er zur Kenntnis nehmen müssen, dass es immer noch Berührungsängste gebe. „Ich will mir keine Schwulen anschauen“, habe einer gesagt. Im art-tv.ch-Video wird Huber deutlich. „Wenn sich Leute provoziert fühlen, dann ist es schon gut. Ich möchte aber alle homophoben Menschen einladen, zu uns zu kommen.“ Dann, so ist der Regisseur überzeugt, „werden sie anders gestimmt unser Spiegelzelt wieder verlassen.“
„Zahlen sind nicht die Welt“
Die Zahlen seien die eine Sache. „Zahlen allein sind aber nicht die Welt.“ Erst recht wichtig sei es deshalb, Aufklärung gegen die unterschwelligen Ressentiments zu leisten. „Und das machen wir gut“, sagt Leopold Huber. Er habe noch von keiner einzigen negativen Kritik gehört. Deshalb fordert er jene auf, die Bedenken hätten, trotzdem hinzugehen. „Ich vertraue auf die Sickerwirkung unserer Arbeit.“
Amor trifft alle
Wir haben Alex Bänninger, der sich intensiv mit dem Stoff befasst hat und die Kritik für das online Medium journal21 geschrieben hat, gebeten, sich speziell zum Aspekt der Intoleranz gegenüber Homosexualität zu äussern. Er meint, jene, die den Sex nur als notwendiges Reproduktionsübel gelten liessen, seien wohl mit keinen zehn Pferden in dieses Theater zu bringen. Und wörtlich:
„Auf den besten Bühnen der Welt reisst der ,Käfig voller Narren‘ das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin: jetzt auch im See-Burgtheater. Die kluge, witzige und köstlich gespielte Revue ist Amor gewidmet, der mit seinen Pfeilen weibliche und männliche Wesen trifft, nicht immer die Geschlechter trennt und glänzend seine Aufgabe erfüllt, die Liebe zu fördern und ihr Geheimnis zu bewahren.“
***
Kritik vom 16.7.2016: „Wir sind, was wir sind: menschlich“
Kritik vom 18.7.2016: „Mostindien in Champagnerlaune“
Video von Art-tv.ch auf thurgaukultur.ch
KOMMENTAR *
von János Stefan Buchwardt・vor 7 Monaten
Als einer der langjährigen Kritiker des See-Burgtheaters, es würde mich schmerzen, nicht noch in letzter Minute nachzudoppeln: Allein solch souveräne Verkörperung eines Georges und die schillernd und berührend umgesetzte Rolle eines Albins aus dem verspiegelten Narrenkäfig im Seeburgpark Kreuzlingen sind wahrer Begeisterungsstürme würdig. Mit gutem Recht jedoch darf die artistische Intimität der Inszenierung laute Jubelrufe in leiseren Respekt verkehren. Mit der diesjährigen Stückwahl hat dieser «unser» Leopold Huber (nicht nur) dem Thurgau also die Chance eröffnet, haushoch verdiente Beifallskundgebung weit über wohlmeinendes Schenkelklopfen hinaus auszuagieren. In einer offenen und (in den letzten Aufführungstagen) noch zu gewinnenden Zuschauerschaft wird schliesslich gutherzige innere Reverenz mobilisiert. Wer sich diesem Geschenk entzieht, den Eintrittspreis scheut, sich die Glücksfall-Gäste Andreas Zaron und Helmut Mooshammer entgehen lässt, verpasst eine vom Sommerschlussverkauf weit entfernte Occasion.
* Seit März 2017 haben wir eine neue Kommentarfunktion. Die alten Kommentare aus DISQUS wurden manuell eingefügt. Bei Fragen dazu melden Sie sich bitte bei sarah.luehty@thurgaukultur.ch.
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