von Brigitta Hochuli, 06.09.2018
Kultur für Familien: Was im Thurgau noch fehlt
Wie gut sind die Thurgauer Kultureinrichtungen auf Kinder und Jugendliche eingestellt? Und warum ist das eigentlich sinnvoll? Fragen, die wir nach dem heissen Sommer voller Spass und Unterhaltung ernsthaft positiv beantworten wollen. Allerdings: Mehr kann man immer tun, zum Beispiel für Familien.
Poesie für die Allerkleinsten. Zum Teil tragen sie noch Windeln. Im Stück „flow“ bietet die Theaterwerkstatt Gleis 5 ihre Bühne für die erste Berührung mit Kultur - abgeholt bei den Ohren und Augen. - An einem Sonntagmorgen gibt‘s im Bodman-Haus Erzähltheater für Vorschulkinder. Eltern und Grosseltern sind dabei und kaufen nach der Lesung Bücher. - Tierisch Spannendes bietet das Museum für KInder. Denn „Das Museum ist auch ein Zoo“. Einen Nachmittag lang entdecken Primarschulkinder die Schafe und Drachen der Kartause. - Das Kinder- und Jugendtheater stageapple des „Bilitz“ improvisiert monatelang „Das Geheimnis der Bibliothek“. Hier können jugendliche Schauspieler Ideen ausleben.
Es sind wenige Beispiele aus einer Fülle von Angeboten, die der Kanton Thurgau für Kinder und Jugendliche jeden Alters bereithält. Aber genügt das oder bräuchte es mehr für eine dauerhafte Hinführung zur Kultur? Das haben wir die Kulturamtschefin Martha Monstein gefragt. Sie verweist unter anderem auf das Kulturkonzept des Kantons.
Danach ist die „nachhaltige Weiterentwicklung der Kulturvermittlung“ ein Schwerpunkt der kantonalen Kulturförderung. „Ziel ist es, einer breiten Bevölkerung und insbesondere auch Kindern und Jugendlichen den Zugang zu künstlerischen Werken zu ermöglichen.“ Dabei ist für die Zusammenarbeit zwischen Schulen, Kulturschaffenden und Kulturinstitutionen seit 2014 allen voran das Projekt kklick - Kulturförderung Ostschweiz verantwortlich. Weiter ist im Kulturkonzept 2016 bis 2018 festgehalten, dass Schulklassen für den Besuch von kulturellen Angeboten und Schulen für Auftritte finanziell unterstützt werden, sofern sich die Schulgemeinden in gleicher Höhe an den Ausgaben beteiligen.
Viel passiert
Martha Monstein spricht von einem „riesigen Angebot“. „Ich finde, es ist viel passiert in letzter Zeit.“ Neben „kklick“ mit seinen 80 bis 90 Verantwortlichen und den vielen Netzwerktreffen erwähnt sie spontan den Wettbwerb Komet für innovative Kulturvermittlungsprojekte und die Ostschweizer Schultheatertage, ein Kooperationsprojekt von Theater St. Gallen, Theater Bilitz und der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Neu „am Aufzäumen“ sei man auch ein Netz für KulturagentInnen für kreative Schulen. Aus dem Thurgau nehmen daran zwei Schulen teil. Der Regierungsrat hat dafür einen Rahmenkredit von 100‘000 Franken während vier Jahren aus dem Lotteriefonds bewilligt.
Am besten klappt‘s mit den Schulen
Das „Museum für Kinder“, das Theater Bilitz, das Phoenix-Theater und so vieles mehr - die Kulturamtschefin kommt ein wenig ins Schwärmen. Allerdings, räumt sie auf eine Frage ein, für Familien könnte man mehr tun. Oft rapportierten Kinder nach einem Kulturbesuch, sie wollten das Erlebte auch ihren Eltern zeigen. Dabei denkt Martha Monstein auch an die Problematik der Bildungsferne oder an Kinder mit Beeinträchtigung. Erst kürzlich hätten das Kunst- und das Ittinger Museum das Label Kultur inklusiv der Pro Infirmis bekommen. Es sei aber überall ähnlich: „Am einfachsten ist Kulturförderung mit den Schulen“. Das zeige ein Vergleich mit anderen Kantonen, so Monstein. In Zürich gebe es „Schule und Kultur“ seit ewigen Zeiten. Entsprechend sei man dort auch finanziell besser ausgestattet. Der Kanton Aargau habe dazu eigens eine Fachstelle aufgebaut. Ein Überblick über die Vermittlungsangebote des Kulturamts Thurgau findet sich hier.
Mangel an Nachfrage
Eines der etabliertesten Angebote unter dem Dach des Kulturamts ist zweifellos das Museum für Kinder der kantonalen Museen. Es besteht seit mittlerweilen 17 Jahren und hat jährlich rund 40 Angebote im Programm. Mit den Besucherzahlen sei man insgesamt zufrieden, sagt Brigitt Näpflin, die das Projekt leitet. Allerdings träfen An- und Abmeldungen zunehmend kürzestfristig ein. So fehle die Gewissheit, ob ein Kurs stattfinde, oft bis knapp vor dem Termin.
Während im Natur- oder Historischen Museum Familienangebote, wenn auch nicht immer als solche deklariert, häufig sind, fehlen sie im Grundangebot des Kunstmuseums. Das Thema werde immer wieder diskutiert, sagt Brigitt Näpflin, auch würden zum Beispiel an den internationalen Museumstagen Versuche lanciert. Familien würden dann eingeladen, wenn sich Ausstellungen oder Themen besonders eigneten, etwa bei Künstlern wie Hans Krüsi oder Michael Golz. Dass nicht regelmässig Familien berücksichtigt würden, hänge aber eher mit dem mangelnden Interesse der Thurgauer Eltern an zeitgenössischer Kunst zusammen. „An Ideen mangelt es nicht, aber leider an der Nachfrage.“
Explizit als Museum für jede Generation deklariert sich das Historische Museum Thurgau auf seiner Homepage. Familien mit Kindern können das Schloss Frauenfeld mit einem Rätselkartenset entdecken, die Stadtgeschichte auf dem „Leuli-Trail“ erfahren oder sich mit dem Smartphone-Game auf eine aktionreiche Spurensuche begeben.
Keine Beschäftigungsprogramme
Die Frage nach dem Familienangebot haben wir auch Rebekka Ray gestellt. Gerade erst hat die Frauenfelder Kunstvermittlerin und Kuratorin im Kunstmuseum Thurgau einen Kinderworkshop für angehende kleine Ausstellungsführerinnen durchgeführt. Die Kinder konnten sich intensiv mit der neuen Ausstellung über Helen Dahm auseinandersetzen. Sie heisst „Ein Kuss der ganzen Welt“.
„Wenn sie mögen, können die Kinder zu dieser Ausstellung selber Gruppen einladen und Interessantes, Lustiges und Überraschendes zu den Kunstwerken erzählen“, wie die Kunstvermittlerin im Vorfeld zum Workshopp erklärte. Grundsätzlich interessiere sie sich in ihrer Arbeit für partizipative Formen der Vermittlung an alle Alterstufen. „Ich möchte die Betrachtungsweisen, Gedanken und Ideen der Betrachtenden wahrnehmen, ernst nehmen, aufgreifen und miteinbeziehen in die Kunstbetrachtung.“ Die Vermittlungsangebote an Kinder sollten nicht einfach Beschäftigungsprogramme sein, sondern Kernideen von Kultur- und Kunstprojekten herausschälen und die Kinder an diesen Fragestellungen individuell arbeiten lassen. Zudem sollten deren Ansichten und Erkenntnisse nach Möglichkeit später auch gewürdigt und sichtbar gemacht werden.
Angebote für die ganze Familie seien nach ihrer Erfahrung sehr beliebt und gefragt. „Der Familien-Workshop anlässlich der letzten Werkschau Thurgau war für alle ein tolles Erlebnis“. Aber natürlich müsse sich jede Institution auch immer konzentrieren und könne nicht alles veranstalten.
„Kinder zum Olymp!“
Claudia Rüegg ist nicht nur die ehemalige Präsidentin der Kulturstiftung Thurgau, sondern auch Pianistin und Dozentin Fachbereiche Musik und Instrumentalunterricht sowie Co-Leiterin und Dozentin des Diplomprojekts Kunst-Kultur-Schule an der Pädagogischen Hochschule Thurgau. Sie kennt also das Thema Kulturvermittlung aus der Praxis und aus der Theorie. Es gebe mittlerweile einige Literatur dazu, betont sie und empfiehlt die praxisbezogene Publikation der deutschen Kulturstiftung der Länder „Kinder zum Olymp!“. Für die gleichnamige Stiftung gilt die Überzeugung, dass „dass Kultur kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit ist. Und das auch schon für die Kleinsten.“
„Dialog sollte weitergeführt werden“
Warum es wertvoll ist, dass Menschen schon im jungen Alter mit Kultur in Berührung kommen, erläutert Claudia Rüegg wie folgt: „Eine gute Kulturvermittlung zielt darauf ab, Instrumente und Werkzeuge zu vermitteln, wie mit Komplexität umgegangen werden kann, wie persönliche Zugänge zum vorerst Fremden geschaffen werden können und wie kulturelle Ereignisse und Objekte in einen umfassenderen gesellschaftlichen und historischen Kontext eingeordnet werden können. Das heisst: Gute Kulturvermittlung ist im Grunde aufklärerisch, sie zielt auf die Stärkung und Eigenständigkeit des Individuums ab. Das ist meines Erachtens wertvoll für den einzelnen Menschen, es eröffnet Welten und erweitert die individuellen Möglichkeiten gerade in Prozessen der Identitätsfindung.“
Kulturelle Offenheit und das Bewusstsein für kulturelle Sachverhalte seien wichtig oder vielmehr dringend notwendig in einer Gesellschaft, die global vernetzt und vielfältig sei, dem Einzelnen Möglichkeiten biete, aber auch Ängste auslöse, sagt Claudia Rüegg. Als Beispiel nennt sie das Konzept der Aufklärung. Kulturvermittlung ermögliche es, die Evolution dieses Konzeptes im historischen Verlauf zu verfolgen und es in der Auseinandersetzung mit bildender Kunst, Musik, Literatur, Design, Film zu erfahren und zu reflektieren. „Darum braucht es Kulturvermittlung“, ist sie überzeugt.
Diese Kulturvermittlung sollte auf „Empowerment“ abzielen, sagt Claudia Rüegg. Und das sei ihres Erachtens leider oft nicht gegeben. Kulturvermittlung zum Beispiel an Schulen sei ein wichtiger Baustein. Der Dialog sollte aber an anderen Orten weitergeführt werden. Zudem brauche es Angebote für ganze Familien und altersmässig und sozial gemischte Gruppen. „Eine ideale Kulturvermittlung sollte unterschiedliche Generationen und gesellschaftliche Gruppen erreichen und einbeziehen.“
Interview mit René Munz: «Wer als Kind oder Jugendlicher nicht schon mal im Theater war, wird es später kaum mehr besuchen.»
Wie machen es die anderen? Zum Beispiel die „Kulturstadt“ Winterthur? Die Homepage gibt einen vorbildlichen Überblick über das Leben mit Kultur. Die Vermittlung von Kultur hat die Stadt in ihrem Kulturleitbild zu einer zentralen Aufgabe der Kulturförderung erklärt. Besonders Kinder und Jugendliche seien im Sinn der Chancengerechtigkeit an Kunst und Kultur heranzuführen. Wir haben einen Mann dazu befragt, der sich sowohl im Thurgau wie in Winterthur auskennt: René Munz, ehemaliger Thurgauer Kulturamtschef und heute Gesamtleiter des Theaters Winterthur.
Herr Munz, wie nehmen Sie die Bemühungen um den dereinst kulturinteressierten Nachwuchs je in Winterthur und im Thurgau wahr?
René Munz: Ganz nach dem Prinzip der Subsidiariät, wonach zuerst die Städte und Gemeinden für ihre Kulturinstitutionen zuständig sind, ist Winterthur dem Thurgau schon traditionell natürlich weit voraus in Sachen Kulturvermittlung. Die Musikausbildung, für die es bis vor einigen Jahren in Winterthur ja nicht nur die Musikschulen, sondern auch das berühmte Konservatorium gab, die diversen Tanzschulen, die Museen und auch die Theater - nicht nur unser „Stadttheater“, sondern auch eine ganze Reihe von kleineren Bühnen - haben gesellschaftlich einen hohen Stellenwert mit entsprechenden Angeboten für Kinder und Jugendliche. Die Stadt beschäftigt zudem nicht nur eigene Kulturvermittler, sondern finanziert auch entsprechende Angebote und spezielle Vorstellungen für Schulklassen und Familien. So freut es mich natürlich auch, wenn meine Enkel jeweils eine unserer Vorstellungen besuchen.Glauben Sie, dass die Angebote, die ja auch viel Geld kosten, grundsätzlich zielführend sind, insofern, als damit zum Beispiel ein zukünftiges Publikum herangezogen werden kann? Wie sind diesbezüglich Ihre Erfahrungen am Theater Winterthur?
Ja. Denn wer nicht als Kind oder Jugendlicher schon mal im Theater war, wird es später wahrscheinlich kaum mehr besuchen. Am einfachsten geht der Zugang natürlich über unsere öffentlichen Schulen, in denen alle gesellschaftlichen Kreise vertreten sind. Für das Theater Winterthur wollen wir diese Angebote daher unbedingt weiter ausbauen. Das erfordert zusätzliche Ressourcen. Beispiele wie die Koproduktion „Tschick“ mit dem Theater Kanton Zürich zeigen klar, dass es eine entsprechende Nachfrage gibt. Und die vielen, oft ausverkauften Vorstellungen des Kindertanztheater Claudia Corti zeigen eine generationenübergreifende Tradition: Es gehört ganz einfach zum gesellschaftlichen Leben.
Werden Ihrer Meinung nach neben der Kulturvermittlung an Schulen auch die Familien genügend in die Kulturförderung miteinbezogen?
Selbstverständlich liesse sich mehr tun. Gerade, was den Einbezug sogenannt bildungsferner Familien oder auch den Einbezug von Kulturkreisen mit Migrationshintergrund betrifft. Ich sehe hier einen kultur- beziehungsweise gesellschaftspolitischen Bedarf, der leider den aktuellen, finanzpolitischen Interessen entgegensteht. Aber wie eingangs erwähnt: Gefordert sind hier in erster Linie die Städte und Gemeinden. Es geht letztlich um das gemeinschaftliche Zusammenleben, um Lebenswelten und gemeinsame Werte. (ho)
Anbieter und Angebote
Einen Überblick über die aktuellen Angebote für KInder, Jugendliche, Familien und Schulen bietet im Thurgau die Agenda von thurgaukultur.ch. Gesucht werden kann unter dem Filter „spezielle Zielgruppen“. Für Schulen findet man bei k-klick alles Wichtige.
Institutionalisierte Angebote haben die kantonalen Museen und das Seemuseum, unter anderem unter dem Dach des „Museums für Kinder“. Für die Kleinsten gibt es etwa das Puppenspiel von Rahel Wohlgensinger, den Kasperli- und Puppentheaterverein Frauenfeld oder den Buchstart und Geschichten Koffer der Kantonsbibliothek. Älteren Kindern und Jugendlichen bieten das Bilitz Theater mit „theaterblitze“ oder das Junge Theater Thurgau Stücke, aber auch Partizipation. Weiter gibt es den Literaturwettbewerb „Junge Texte der Kantonschule Frauenfeld“. Musicals, Theater, Film oder Lesungen werden im ganzen Kanton auch von den Kulturveranstaltern organisiert. Die Auflistung hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit. (ho)
Kommentar
Noch einiges zu tun
Eines sei vorweggenommen: Das Thurgauer Kulturangebot für Kinder und Jugendliche ist gross und in der Regel qualitativ hochstehend. Es berücksichtigt alle traditionellen Sparten von Theater und Film bis hin zu Kunst und Geschichte. So habe ich es als Omama-Bloggerin von thurgaukultur.ch jedenfalls bisher erlebt. Am besten versucht den kindlichen Zugang zur Kultur aber im Moment die Schule zu gewährleisten. Denn das sei am einfachsten, sagt Kulturamtschefin Martha Monstein.
Kürzlich lief im Radio wunderschöne harmonische Musik. Meiner fünfjährigen Enkelin gefiel das Stück nicht. „Das ist Musik, zu der man nichts machen kann“, sagte sie. Damit brachte sie ein grosses Bedürfnis auf den Punkt. Kultur für Kinder sollte auf „Empowerment“ abzielen, wie Claudia Rüegg sagt oder „partizipativ“ sein, wie Rebekka Ray es sich zum Ziel setzt.
Das ist natürlich nicht immer gegeben. Manchmal werden Kinder auch bei Kulturanlässen einfach beschult oder berieselt und wie bei einem Beschäftigungsprogramm danach wieder abgeholt. Viel wird dem Kind nicht bleiben von seinem Erlebnis. Was es braucht, ist Nachhaltigkeit für alle. Es braucht die Teilnahme der Familie, die Auseinandersetzung mit den Menschen, die Kunst machen oder mit dem Ort, an dem sie entsteht. Soll das Kind für immer an die Kultur herangeführt werden, braucht es eine Geschichte dazu. Und da ist noch einiges zu tun. Brigitta Hochuli
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