von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 05.02.2025
Der Trümmermann
In der Konfliktarchäologie suchen Grabungsexpert:innen nach Spuren vergangener Kriege. Im Thurgau ist Beat Möckli der Experte dafür. Ein Besuch auf dem archäologischen Werkhof. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Es gibt diese Momente, da kann man nicht anders als an Wunder glauben. Als am 20. Juli 1944 ein amerikanischer Bomber führerlos Richtung Langrickenbach und Eggethof stürzte, da drohte das damals noch sehr junge Leben von Ernst Schönholzer sehr abrupt zu enden. Schönholzer war nicht mal ein Jahr alt und lag nichtsahnend in seinem Kinderwagen im Schatten eines Kirschbaumes.
Als das Flugzeug auf den Boden schlug, muss der Lärm ohrenbetäubend gewesen sein. Schönholzers Kinderwagen stand rund 15 Meter von der Absturzstelle entfernt. Die Druckwelle des Aufpralls schleuderte das Baby samt Wagen und Bettzeug etwa acht Meter fort. Aber Ernst Schönholzer überlebt. Er erleidet ein paar Schürfwunden an Gesicht und Händen. Heute erinnert den Weinfelder nur noch eine kleine Narbe an diesen Tag.
500 Metallfragmente auf 11’000 Quadratmetern
Beat Möckli kennt diese Geschichte in- und auswendig. Er ist Leiter des Werkhofs des Amts für Archäologie und oft als Grabungsexperte im Feld unterwegs. Zwischen 2018 und 2023 führte er beim Eggethof archäologische Untersuchungen durch. Er befragte Zeitzeugen, analysierte Bilddokumente, suchte und verzeichnete Trümmerteile. Das Ergebnis: „Bei der Suche mit dem Metalldetektor kamen auf einer Fläche von 11’000 Quadratmetern mehr als 500 Metallfragmente des Flugzeugs und der Bordmunition zum Vorschein“, erzählt Möckli an einem Mittwochmorgen in Frauenfeld. Konkret gefunden hatte er damals zum Beispiel Patronen der Maschinengewehre sowie den Griff eines Feuerlöschers vom Bord der Maschine.
Man kann sagen: Beat Möckli ist zur Stelle, wenn sich persönliche Geschichte mit Weltgeschichte kreuzt. So wie im Fall von Ernst Schönholzer. Denn: Möckli ist Konfliktarchäologe. Das ist eine spezielle Disziplin der Archäologie, die sich seit den 1990er Jahren verstärkt ausgebildet hat. Im Zentrum dabei: Die systematische Erforschung von Schlachtfeldern und militärischen Konflikten mit modernen archäologischen Methoden. Dabei geht es nicht immer um konkrete Schlachten, sondern manchmal eben auch um Abstürze oder andere Spuren kriegerischer Konflikte.
Die Spuren der Vergangenheit
Obwohl die Schweiz nicht direkt in den Zweiten Weltkrieg verwickelt war, finden sich auch hierzulande solche Spuren. Insgesamt sechs abgeschossene Flugzeuge von Engländern und Amerikanern sind für diese Zeit auf Thurgauer Boden dokumentiert. Oft hatten diese Flieger zuvor Friedrichshafen bombardiert und waren dann von der deutschen Flugabwehr getroffen worden.
Beat Möckli haben die Spuren der Vergangenheit seit seiner Kindheit interessiert. Er ist in Schlatt aufgewachsen, seine Eltern hatten einen Bauernhof. „Auf den Feldern konnte man immer irgendetwas finden“, erinnert sich Möckli. Geweckt wurde sein Interesse in der Schule. Als es um die Koalitionskriege 1792 bis 1801 ging, fragte er sich, welche Spuren die Schlachten von damals in seinem Dorf hinterlassen hatten. Nach solchen Dingen forscht er auch heute noch am liebsten.
„Man muss schon ein bisschen nerdy sein für die Aufgabe.“
Beat Möckli, Amt für Archäologie (im Foto zeigt er ein Brillenglas, das von einem der Piloten aus den abgestürzten Flugzeug stammen könnte. Vielleicht hat es aber auch nur ein Bauer beim Traktorfahren auf dem Feld verloren.)
Als Präsident der Bürgergemeinde Schlatt hat er ein besonderes Faible für lokale Geschichte. Zur Archäologie ist er eher über Umwege gekommen. Eigentlich ist Möckli Landmaschinenmechaniker, als die Stelle im Werkhof vor neun Jahren frei wurde, hat er sich beworben. „Es schien mir damals wie ein Traumjob, weil man viel draussen unterwegs sein kann. Zum Glück ist es genauso gekommen, ich mache diese Aufgabe sehr gerne“, sagt Möckli. Wenn er nicht gerade in seinem Büro sitzt und neue Stücke dokumentiert, dann kann man ihn oft draussen in den Wäldern oder auf Feldern bei der Suche nach archäologischen Funden treffen.
Mit Metalldetektor und Kopfhörern ausgestattet, zieht er dann los. Und vergisst dabei oft die Zeit. „Für mich ist das faszinierend. Ein bisschen Abenteuer, viel Neugier, man kann der Erste sein, der etwas Jahrhunderte altes findet, das begeistert mich“, schwärmt er von seiner Arbeit. Alte Munition, Wrackteile von Flugzeugen, manchmal auch Brillengläser der Besatzung, vieles lasse sich heute noch finden und jedes einzelne Teil könne eine Geschichte erzählen. „Es ist ein bisschen wie beim Puzzle. Stück für Stück setzt sich ein Bild zusammen“, erklärt Möckli.
Die Bombenkrater von Schlatt
Letztlich gehe es auch in der Konfliktarchäologie darum, das Wissen von damals zu sichern. Zum Beispiel wie damals mit dem Bombenkrater in einem Wald bei Schlatt. Bei einem archäologischen Kontrollgang fanden sie eine fünf Meter lange und anderthalb Meter tiefe Grube, die mit ortsfremden Material gefüllt war. Dabei handelte es sich um einen zugeschütteten Bombenkrater. Es ist überliefert, dass im Frühling 1944 internierte englische Soldaten die Bombentrichter einebnen mussten. Mehrere solcher Bombenkrater wurden in dem Wald gefunden. In deren Umfeld lagen Spuren von Spreng- und Brandbomben.
Auf die Frage, was das Wichtigste sei bei seiner Arbeit, antwortet Beat Möckli: „Geduld und Beharrlichkeit.“ Manchmal dauere es 15 bis 20 Jahren bis man alle Teile zu einem Fund beisammen habe und sie zu einem Ganzen zusammenfügen könne, das dann wiederum neue Zusammenhänge zur Geschichte veranschaulichen könne. Bei der Suche nach neuen Funden gebe es grundsätzlich zwei Ansätze: Entweder man sucht dort weiter, wo es bereits viele Funde gibt. Oder man begibt sich auf eine Fläche, die noch nicht untersucht wurde, bearbeitet also die weissen Flecken des Kantons. Beide Strategien können zielführend sein. Orientieren können sich die Expert:innen dabei an vergangenen Erfolgen: Was schon, wo gefunden wurde, das ist in einer digitalen Karte verzeichnet.
Fleissarbeit und Dokumentation
Dokumentation ist ohnehin ein wesentlicher Teil von Archäologie. Anhand der Karte können Archäologe:innen dann entscheiden, wo sie Ansätze für neue Grabungen und Untersuchungen sehen. „Das ist oft sehr viel Fleissarbeit. Nicht nur draussen im Feld, sondern auch später im Labor. Meistens fängt die Arbeit mit dem Fund erst richtig an“, sagt Beat Möckli. Vielleicht müsse man für diese Aufgabe „ein bisschen nerdy sein“, findet Möckli und lacht, „aber wenn du dann als erster eine 1800 Jahre alte Münze in der Hand hältst, dann ist das ein erhabenes Gefühl.“
Einige der Funde von Beat Möckli sind jetzt auch erstmals in der Öffentlichkeit zu sehen. Das Museum für Archäologie zeigt noch bis 31. Mai in einer Mini-Ausstellung einzelne Relikte aus der Vergangenheit. So zum Beispiel das Fragment einer verrosteten Brandbombe, das in Schlatt gefunden wurde. „Fliegeralarm – Konfliktarchäologie im Thurgau“ heisst die Schau (wegen Renovation allerdings noch bis 16. Februar geschlossen), die nach Spuren des Zweiten Weltkriegs im Thurgauer Boden forscht.
Mini-Ausstellung im Museum
Dabei geht es nicht nur um Trümmerteile und Bombentrichter, sondern auch um Bunker und Panzersperren. „Am besten erhalten sind die Grenzbefestigungen im Raum Kreuzlingen sowie entlang des Rheins. Obwohl viele Bunker und Annäherungshindernisse mittlerweile umgebaut oder abgerissen sind, ist die Verteidigungslinie der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs archäologisch gut erkennbar“, sagt Urs Leuzinger, Leiter des Museums für Archäologie.
Bemerkenswert ist auch eine andere Geschichte, die die Ausstellung erzählt. Auf den Feldern im Tägermoos (bei Kreuzlingen), die mehrheitlich in deutschem Besitz sind, fanden freiwillige Mitarbeiter des Thurgauer Amts für Archäologie mit ihren Metalldetektoren einige Abzeichen der Nazis. „Diese gelangten wohl über den Misteintrag auf die Felder“, heisst es lakonisch in der Ausstellung. Mit einem Mal hatten die Nazi-Orden ihre wahre Bestimmung gefunden: Was scheisse war, wird scheisse bleiben.
Video: arttv.ch über die Ausstellung
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Fliegeralarm – Konfliktarchäologie im Thurgau – Vortrag
Frauenfeld, Museum für Archäologie Thurgau
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