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von Andrin Uetz, 17.07.2023

Die 100’000-Franken-Show

Die 100’000-Franken-Show
And the winner is: Siijuu! Andreas Müller und Florian Rexer freuen sich im Konfettiregen über den Gewinn bei Ratartouille. | © Kulturstiftung des Kantons Thurgau/Beni Blaser

Andreas Müller und Florian Rexer gewinnen den Kulturstiftungs-Wettbewerb „Ratartouille“. Die Debatten um den Sinn solcher Publikumsentscheidungen bleiben. (Lesedauer: ca.  4 Minuten)

In der Schweiz sei das Abstimmen so wichtig, dass es nicht nur im Unterhaltungsfernsehen, sondern auch in der Kulturförderung immer wieder geübt werden müsse, eröffnet die Moderatorin Samantha Zaugg die Ratartouille-Show im Presswerk. Mit trockenem Humor und nicht ohne schlagkräftige Pointen führt sie die rund 130 Besuchenden im Presswerk Arbon durch den Abend. 

Begleitet wird sie vom DJ Duo Paula und Paul (Frauenfeld, Paris), welche mit dem obligaten Kunstbubble-Mix zwischen Disco, House und 80er Wave dem Cringe der Veranstaltung noch das gewisse urbane Flair verleihen. 

Warum brauchen wir eine Abstimmung? 

Zum Auftakt bittet Zaugg den Beauftragten der Kulturstiftung Stefan Wagner auf die Bühne und fragt ganz direkt: „Warum brauchen wir eine Abstimmung?” Wagner erklärt, wie die Idee im Stiftungsrat vor drei Jahren entstanden sei, und dass man damit die Kulturförderung ein bisschen öffnen wolle: „Man sagt, die bekommen Geld, und das sind immer die Gleichen. Nein, es sind nicht immer die Gleichen, jetzt bestimmen Sie”, wendet sich Wagner ans Publikum. 

In medias res: Die drei Projekte haben nun Zeit sich vorzustellen, und im Anschluss bekommt jede Person im Raum einen gelben Zettel, auf den sie Punkte für die drei Projekte verteilen kann. Und zwar so: ein Punkt für den persönlichen Favoriten, zwei Punkte für die zweite und drei Punkte für die dritte Wahl. Am Schluss gewinnt das Projekt, welches am wenigsten Punkte hat. 

Ein System mit Tücken, da die Gefolgschaft der Teams strategisch gegen die stärkste Konkurrenz vorgehen können - indem sie diese absichtlich die meisten Punkte geben. Ein Wahlsystem mit jeweils nur einer Stimme pro Person (das heisst, ein X für das gewünschte Projekt) könnte hier vielleicht bessere Resultate bringen. 

 

Wer die Wahl hat, hat die Qual: Am Ende entscheidet bei Ratartouille das Publikum, wer die 100'000 Franken mit nach Hause nimmt. Bild: Kulturstiftung Thurgau/Beni Blaser

Wer mobilisiert, gewinnt

Wie das so ist bei einer Abstimmung, gewinnt die Partei, die am meisten Leute dazu motivieren kann, für sich abzustimmen. In diesem Jahr war der Weg nach Arbon von Amriswil (Siijuu) näher als von Kreuzlingen (Was brauchen wir?) oder Zürich (Festival der Vorgärten). Ein Blick ins Publikum verriet bereits vor den Präsentationen, welches Team am meisten Stimmen für sich bekommen wird. 

Eigentlich klar: Am Abstimmungssonntag führen die Parteien an der Urne ja auch nicht einen Tanz auf, um die Wähler:innen für ihr Programm zu motivieren. Diese Arbeit muss vor der Wahl geleistet werden. Dennoch gaben sich alle drei Projekte ganz schön Mühe, ihre Idee dem Publikum schmackhaft zu machen. 

Was brauchen wir?

Ira Titova und Isabelle Krieg sind zuerst dran und stellen sich breitbeinig auf die Bühne, beide Arme in die Luft gestreckt, um so für einige Sekunden still zu verharren. Auf ihren T-Shirts sind jeweils zwei XX mit Klebeband formiert. “Wie fühlst Du Dich?”, fragt Krieg Titova, welche zugibt, etwas nervös zu sein. 

Sie erklärt, dass sie darum auch diese Übung auf der Bühne gemacht hätten, da sie Kraft und Selbstvertrauen geben. Auf Pappkarton stehen Fragen wie “Was brauchen wir?” oder “Wo versteckt ihr Euch?” geschrieben, bei einem Serotonin-Drink, der dank Safran die Stimmung hebe, spielen die beiden in einem Gespräch nach, was für Ideen und Wünsche sie in Kreuzlingen gerne umsetzen würden. 

 

Das doppelte X steht für Frauenpower. Die Soziologin Ira Titova und die Künstlerin Isabelle Krieg zeigen, dass es für den Austausch keine Bildschirme, sondern Empathie und Humor braucht. Bild: Kulturstiftung Thurgau/Beni Blaser

 

Sie wollen mit den Menschen ins Gespräch kommen, was ihnen fehlt i Kreuzlingen und auf Grund der Basis Angebotslücken in der Stadt schliessen. Konkret soll ein „Pop-Up-Club” [Thurgauerisch ausgesprochen: pop op glop] in einem leerstehenden Geschäft in Kreuzlingen entstehen, wo kulturelle Veranstaltungen und eine Austausch stattfinden kann. 

Cleverer Twist bei der Präsentation: Die Frage „Was brauchen wir?” beantworteten die beiden unter anderem auch mit „mehr Frauen in der Kunst”, und die zwei XX stehen daher für das XX-Chromosom, welches in der Kultur nicht nur in X-lingen noch etwas untervertreten ist. 

Festival der Vorgärten 

Als nächstes darf San Keller seine Idee eines Festivals der Vorgärten präsentieren. Der Künstler und Hochschuldozent holt etwas gar weit aus und präsentiert zuerst verschiedene andere Projekte bei denen er mitwirkte, etwa das Solos & Sights in Frauenfeld, bevor er dann zur eigentlichen Idee eines Festivals der Vorgärten kommt. 

Wie nun aber dank der umfassenden Einführung ersichtlich wurde, interessiert sich Keller für soziale und gesellschaftliche Aspekte von Wohnformen, für das vermeintlich Gewöhnliche und die Übergangszonen zwischen privatem und öffentlichem Raum. Genau dort soll das Festival der Vorgärten ansetzen, denn die Mehrheit der Thurgauer:innen wohne in Einfamilienhäusern, und dennoch ist diese Wohnform bisher kaum Thema bei kulturellen Interventionen. 

Quasi als Vorstudie hat San Keller zusammen mit Studierenden der Hochschule Luzern (HSLU) ein kleines Festival der Vorgärten im Bergli Quartier in Arbon durchgeführt. Dabei wurden Bewohnende gefragt, ob bei ihnen im Garten eine Performance stattfinden darf. Das Projekt vereint künstlerische Praxis und ein soziales Experiment, regt zur Auseinandersetzung mit Wohnformen und Gemeinschaftsbildung an. Mit dem Preisgeld würde San Keller dieses Format dann in verschiedenen Quartieren im Thurgau ausführen. 

 

Wohnen beide in Blocks und nicht in Einfamilienhäuser mit Garten. Moderatorin Samantha Zaugg mit San Keller vom Projekt "Festival der Vorgärten". Bild: Kulturstiftung Thurgau/Beni Blaser

Achtung, versteckte Kamera 

Zum Schluss tritt der Amriswiler Kulturbeauftragte Andreas Müller auf die Bühne und lässt einen Film ablaufen, bei dem bekannte Thurgauer Künstler:innen wie Ute Klein, Simone Keller oder Peter Stamm darüber erzählen, wie wichtig Vernetzung und Sichtbarkeit in der Kunst sei. 

Dann wird der Romanshorner Schauspieler und Mitinitiant Florian Rexer per Video-Liveschaltung auf die Leinwand gebeamt. Zuerst scheint es sich um eine vorab erstellte Aufnahme zu handeln, bei der er Generelles zum Projekt erzählt. Doch dann spricht er plötzlich einzelne Personen im Publikum an, einen Herren mit Hut, die Kinder in der ersten Reihe. Kann der uns sehen? 

Er kann, und zwar wird das Publikum von einer Kamera gefilmt und Rexer ist nicht weit weg, sondern befindet sich im Backstage, von wo er das Geschehen auf einem Bildschirm mitverfolgt. Das Publikum lacht als Rexer vom Backstage auf die Bühne kommt; der technische Zaubertrick hat funktioniert. 

 

Publikum beim Finale von Ratartouille im Presswerk Arbon. Bilder: Kulturstiftung Thurgau/Beni Blaser

 

Trägt das Gewinnerprojekt über den Überraschungsmoment hinaus?

Das Publikum haben sie am Ende auf ihrer Seite: Zu Konfetti-Kanonen und dem Song „Da Da Da” der Neue-Deutsche- Welle-Legenden „Trio” erhalten Rexer und Müller einen grossen Cheque von Stiftungspräsident Anders Stokholm. Den zweiten Rang wird das Projekt „Was brauchen wir?” und den dritten Rang das „Festival der Vorgärten” belegen.

Es stellt sich hier die Frage, ob das Gewinner-Projekt “Siijuu” wirklich über einen kurzen Überraschungsmoment hinaus die Wirkung erzielen kann, die sich die Initianten erhoffen. Der szenografische Effekt dürfte durchaus unterhalten, aber sowohl das Versprechen der grossen medialen Aufmerksamkeit wie auch des Mehrwerts durch Vernetzung der Kunstsparten wird nicht leicht einzuhalten sein. 

Mit den 100’000 Franken kann das Projekt nun immerhin die hohen technischen Kosten decken, welche das Projekt mit sich bringt. 

 

Einhunderttausend Franken für Siijuu. Andreas Müller und Florian Rexer nehmen den Cheque gerne entgegen. Bild: Kulturstiftung Thurgau/Beni Blaser

Kulturelle Arbeit muss entlöhnt werden

Vielleicht gerade auch angeregt durch die vermeintlich grosse Zahl auf dem Cheque wurde beim Apéro angeregt über die Herausforderungen der Kulturförderung diskutiert. Überall fehlt das Geld, viele arbeiten fast gratis, und der Kanton hortet statt dessen die Swisslos-Millionen, monieren die einen. 

Man tue was man könne, und es würde mehr gesprochen als je zuvor, kontern die anderen. Einig sind sich aber alle, dass Kultur einen gesellschaftlichen Wert hat, und Unterstützung nicht nur braucht sondern auch verdient. 

Es ist erfreulich, dass an diesem Abend viele Mitglieder des Stiftungsrates an der Veranstaltung teilnehmen und sich so Gespräche zwischen Kunstschaffenden, Besuchenden und Förderinstitutionen ergeben. Man kann von der Publikumswahl halten was man will, aber es zeigte sich doch sehr deutlich, wie wichtig ein solcher Austausch für die Kulturszene im Kanton ist. 

Zur Güte eine Idee für die nächste Ausgabe

Und wer weiss, vielleicht meldet sich ja bald auch eine Stimme aus einem Bildschirm, welche sich in diese Diskussionen mit einbringt bei einer Vernissage, nach einem Konzert oder beim Theaterbesuch.

Zum Abschluss noch eine Idee für die nächste Ratartouille-Party: Die Hunderttausend in Ein-Dollar Noten wechseln und von der Decke regnen lassen. Damit liesse sich das Thurgauer Volk bestimmt zur aktiveren Teilhabe am Thurgauer Kulturleben motivieren und so kämen auch Leute an die Veranstaltung, welche nicht zum Fanclub eines der Teams gehören. 

Transparenz-Hinweis: Der Autor dieses Textes hat 2021 am Wettbewerb «Ratartouille» selbst teilgenommen mit dem Projekt «Kultur im Tankkeller Egnach» und belegte damals den zweiten Platz. Das Projekt wurde danach dennoch erfolgreich umgesetzt.

 

Moderatorin Samantha Zaugg und der Stiftungsbeauftragte Stefan Wagner nehmens mit Humor. Bild: Kulturstiftung Thurgau/Beni Blaser

 

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