von Inka Grabowsky, 26.09.2022
Die zweite Heimat
Adolf Jens Koemeda stellte am Freitag den mutmasslich letzten Teil seiner Trilogie zu Migrantenschicksalen vor. «Die Helferin» handelt nicht nur aus Nächstenliebe, sondern auch als «Venus ex machina».
«Suche ich eine neue Heimat oder findet die Heimat mich?» Diese Eingangsfrage stellt Kreuzlingens Kultur-Stadträtin Dorena Raggenbass in ihrer Einführung zu Adolf Jens Koemedas neuestem Buch «Die Helferin». Der Ermatinger Autor beleuchtet darin die Rolle der Menschen, die Migranten unterstützen, nachdem er sich in den Romanen «Die Absicht» und «Sandul» zunächst auf die Motivation eines sogenannten «Wirtschaftsflüchtlings» und auf Probleme unter den unterschiedlichen Migrantengruppen fokussiert hatte. Das Setting bleibt gleich: Der Ich-Erzähler Simmi Kupka, ein junger Pädagogik-Student aus Bosnien-Herzegowina, berichtet einer Sozialarbeiterin in Briefform, wie es ihm ergeht.
Jens Koemeda sei ein Sammler, der es verstünde Geschichten zu erzählen, so Dorena Raggenbass. «Er kann zuhören und auch Unerzähltes in Lebensgeschichten einweben», sagt sie und nimmt implizit Bezug auf die langjährige Tätigkeit des Autors als Psychiater, der von sich selbst sagt, er habe vierzig Jahre hinter der Couch verbracht.
Problem Isolation
Allen drei Romanen der Trilogie ist gemein, dass die Protagonisten einsam sind. Sie haben ihr soziales Umfeld verlassen. Koemeda schafft Figuren, die unterschiedlich auf das Problem reagieren. Simmi selbst hat immer noch Kontakt zu seinem Vater, findet aber vor allem Anschluss bei Hanne, die ihn bei sich aufnimmt. Sein Freund Vasil aber greift zum Alkohol und muss erst mühsam wieder eine Entziehungskur machen.
«Er hat nicht Fuss gefasst», erklärt Koemeda zwischen zwei vorgelesenen Passagen. «Er überlegt, wieder nach Hause zu gehen, will aber gegenüber seinen Eltern nicht als Versager dastehen. Ich haben ihn benutzt, um mir seine Gedanken zu machen: Sind wir Migranten in einer zweiten Heimat? Gibt es das überhaupt? Simmi und Vasil merken in ihren Gesprächen, dass es lange Zeit braucht, sich heimisch zu fühlen. Und wenn man die Sprache nicht spricht, kann sich ein Heimatgefühl nicht entwickeln.»
«Suche ich eine neue Heimat oder findet die Heimat mich?»
Dorena Raggenbass
Koemeda geht davon aus, dass es Jugendliche bis 13 /14 Jahren leichter schaffen, sich zu assimilieren. «Mit 20 oder 30 wird es schwieriger», sagt der Autor, der selbst erst nach dem Ende seines Medizinstudiums aus Prag ausgewandert war. «Das neue Land kann man als sicher, als schön oder als wohlwollend, aber doch nicht als Heimat empfinden.»
Helferin mit eigenen Bedürfnissen
Auch Simmis Nebenbuhler Boris sucht Anschluss bei Hanne, um seiner Isolation zu entgehen. Sie ist Mitte Vierzig, frisch geschieden, pflegt aber nach und nach wieder intensiveren Kontakt zum Exmann. Eine «geborene Helferin» nennen Boris und Simmi sie im Zwiegespräch. Von Boris will sie allerdings keine Liebes-, sondern eine rein körperliche Beziehung. In ihrem Vorwort nennt Franziska Bolli, Germanistin aus Konstanz, sie eine «emanzipierte Venus ex machina». Sie sei eine wunderbare Erfindung, «eindeutig die Erfindung eines Mannes.»
In der Kreuzlinger Büecherbrugg liefert der Autor dafür Belege. Er liest Hannes Rechtfertigung vor, nachdem Simmi sie inflagranti mit Boris im Bett erwischt hat: «Wir, Boris und ich, waren Kumpel, Freunde, Freunde in der Not (...) Denkst du, diese Not dürfen bloss Männer haben, junge Leute? (...) Diese Not kennen wir Frauen auch.» Hanne also sucht aktiv sexuelle Kontakte zu jüngeren ausländischen Männern. Sie bugsiert sie zeitgleich in ihr Bett und offeriert sexuelle Handlungen. Die explizite Schilderung vorzulesen, verkneift Koemeda sich: «In einem Kellertheater würde es gehen, aber hier bei der Buchpremiere lasse ich das mal weg.» Aus reiner Nächstenliebe unterstützt die Helferin die Migranten nicht.
Ungeahnt aktuelle politische Bezüge
Bewusst hatte Koemeda die Figur des Boris als Ukrainer geschaffen. Zwar hatte die Arbeit am Roman sechs Wochen vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine beendet, doch die Auseinandersetzungen im Donbass gab es ja bereits vorher. Die Gespräche, die er Simmi mit Boris über Politik führen lässt, gewinnen durch die Eskalation in der Realität an Brisanz.
Vladimir Putin wird mehrfach kritisiert, was mit Blick auf die Biografie des Autors verständlich ist. Er ist als junger Mann aus der von Russland besetzten Tschechoslowakei geflohen. «Ich war entsetzt, dass meine düstere Perspektive auf die Lage sich so verwirklicht hat», sagt der Schriftsteller in der Büecherbrugg. Im Gespräch ergänzt er: «Jeder Schreibende hat Übung darin, die Gegenwart in die Zukunft weiterzudenken.»
Wenig Hoffnung für die Zukunft
In Hinblick auf seinen Pessimismus, was die Entwicklung der westlichen Welt angeht, bleibt zu hoffen, dass sich Koemeda mitunter irrt. Der Westen habe mittelfristig keine Zukunft, lässt er einen vor dem Militärdienst geflohenen Türken referieren. Als letzten Abschnitt bei der Lesung präsentiert er dessen Zivilisationskritik: «Wenn jeder Klugscheisser von seiner Freiheit Gebrauch machen möchte und überall auch mitquatschen darf, dauert alles viel länger. (...) Hier muss man die Mehrheit suchen; (...) die Stimme des Volkes ... die ist meistens nicht so schnell zu haben. Und vor allem ist sie nicht immer besonders kompetent.»
Der Protagonist Simmi bekommt am Ende des Buchs kein Happy End – vorerst jedenfalls. «Ich war schon gespannt auf den letzten Teil», sagt Dorena Raggenbass, «insofern hatte ich mich auf das Buch gefreut – aber ich glaube, dass es doch noch weiter geht.» Auch Jens Koemeda will nicht ausschliessen, dass er sich noch ein weiteres Mal mit Simmi befasst. Sein Leben ist nach dem Abschluss der Trilogie noch nicht auserzählt.
Die Helferin
Adolf Jens Koemeda, Bucher Verlag, 2022, 26 Franken
Von Inka Grabowsky
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